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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Neujahrszedanken

ist die Grundlage dafür geworden und wird von Frankreich aufs sorgfältigste
respektiert. Stärker als jemals ist dabei der aristokratische Charakter der modernen
Staatengesellschaft zutage getreten: nur die Großmächte, die Weltmächte sprechen
mit; auf die Stellung der andern kommt gar nichts an, und ihre Schicksale üben
auf den Gang der Weltpolitik keinen Einfluß. Daß sich Norwegen in echt ger¬
manischem Eigensinn von Schweden löste, um die Zahl der formell zwar selb¬
ständigen, aber tatsächlich ohnmächtigen kleinen Staaten um einen neuen zu
vermehren und damit den alten Traum einer skandinavischen Union vollends ins
Fabelreich zu verweisen, das hat auswärts zwar Kopfschütteln oder Bedauern
hervorgerufen, aber die Ruhe der Welt nicht erschüttert, freilich auch deshalb,
weil es der soeben heimgegangne ehrwürdige König Oskar verschmähte, die un¬
zweifelhafte Übermacht Schwedens zur Behauptung der Union aufzubieten.

Aber darüber kann sich niemand täuschen: der gegenwärtige Zustand der
Welt beruht durchaus nicht auf einer wirklichen Ausgleichung der Gegensätze,
sondern auf einem gewissen Gleichgewicht der Kräfte, das jeder Großmacht die
Überzeugung aufdrängen muß, daß die politischen Errungenschaften auch des
glücklichsten Krieges von seinen furchtbaren Einbußen weit übertroffen werden
würden, und auf den innern Zustünden einiger dieser Mächte. Die amerikanische
Union steht in dem schweren Kampfe eines selbstsüchtigen Unternehmertums gegen
die Staatsgewalt, deren Schwäche bisher der Jankee als eine Bürgschaft der
persönlichen Freiheit betrachtet hat, einem Kampfe, worin wieder einmal der
uns rückständigen Europäern nicht ganz unbekannte unsterbliche Gegensatz zwischen
dem Großbesitz und der Staatsgewalt in modernen Formen hervortritt. Dazu
will sich der große Bundesstaat eine gewaltige Flotte schaffen und rüstet sich zur
Präsidentenwahl, die unter Umstünden seiner ganzen Politik eine andre Richtung
geben kann. Rußland ist auf längere Zeit vorläufig, sozusagen, außer Gefecht
gesetzt, seiner Kriegsflotte beraubt, durch innere Kämpfe schwer erschüttert. Aber
es ist ein liberaler Irrtum, an einen dauernden Niedergang oder gar an einen
nahen Zerfall des Ricsenreichs zu glauben. Weder haben sich irgendwo nach¬
haltige separatistische Bestrebungen gezeigt, auch bei den Polen nicht, die wirt¬
schaftlich viel zu fest mit Rußland verbunden sind, als daß sie sich von ihm
trennen könnten, noch hat sich das Zarentum so schwach gezeigt wie das fran¬
zösische Königtum von 1789; trotz gelegentlicher Meutereien haben Heer und
Beamtentum so wenig versagt, daß die Reichsduma, weil mit ihrer radikalen,
politisch völlig unreifen Mehrheit nicht zu verhandeln war, zweimal aufgelöst
und das Wahlrecht verändert werden konnte, ohne daß es irgendwo zu einer
großen Erhebung gekommen wäre. Auch würde eine solche, selbst wenn sie in
Petersburg oder Moskau siegreich bliebe, bei der ungeheuern Ausdehnung des
Reichs, bei der niedrigen Kulturstufe und dem Mangel einer wirklichen Zentrali-
sation niemals eine Wirkung haben, wie eine Pariser Revolution sie in dem viel
kleinern, weit kultivierter" und seit Jahrhunderten straff zentralisierten Frankreich
regelmäßig gehabt hat. Auch die Stärke und das stolze Selbstbewußtsein des


Neujahrszedanken

ist die Grundlage dafür geworden und wird von Frankreich aufs sorgfältigste
respektiert. Stärker als jemals ist dabei der aristokratische Charakter der modernen
Staatengesellschaft zutage getreten: nur die Großmächte, die Weltmächte sprechen
mit; auf die Stellung der andern kommt gar nichts an, und ihre Schicksale üben
auf den Gang der Weltpolitik keinen Einfluß. Daß sich Norwegen in echt ger¬
manischem Eigensinn von Schweden löste, um die Zahl der formell zwar selb¬
ständigen, aber tatsächlich ohnmächtigen kleinen Staaten um einen neuen zu
vermehren und damit den alten Traum einer skandinavischen Union vollends ins
Fabelreich zu verweisen, das hat auswärts zwar Kopfschütteln oder Bedauern
hervorgerufen, aber die Ruhe der Welt nicht erschüttert, freilich auch deshalb,
weil es der soeben heimgegangne ehrwürdige König Oskar verschmähte, die un¬
zweifelhafte Übermacht Schwedens zur Behauptung der Union aufzubieten.

Aber darüber kann sich niemand täuschen: der gegenwärtige Zustand der
Welt beruht durchaus nicht auf einer wirklichen Ausgleichung der Gegensätze,
sondern auf einem gewissen Gleichgewicht der Kräfte, das jeder Großmacht die
Überzeugung aufdrängen muß, daß die politischen Errungenschaften auch des
glücklichsten Krieges von seinen furchtbaren Einbußen weit übertroffen werden
würden, und auf den innern Zustünden einiger dieser Mächte. Die amerikanische
Union steht in dem schweren Kampfe eines selbstsüchtigen Unternehmertums gegen
die Staatsgewalt, deren Schwäche bisher der Jankee als eine Bürgschaft der
persönlichen Freiheit betrachtet hat, einem Kampfe, worin wieder einmal der
uns rückständigen Europäern nicht ganz unbekannte unsterbliche Gegensatz zwischen
dem Großbesitz und der Staatsgewalt in modernen Formen hervortritt. Dazu
will sich der große Bundesstaat eine gewaltige Flotte schaffen und rüstet sich zur
Präsidentenwahl, die unter Umstünden seiner ganzen Politik eine andre Richtung
geben kann. Rußland ist auf längere Zeit vorläufig, sozusagen, außer Gefecht
gesetzt, seiner Kriegsflotte beraubt, durch innere Kämpfe schwer erschüttert. Aber
es ist ein liberaler Irrtum, an einen dauernden Niedergang oder gar an einen
nahen Zerfall des Ricsenreichs zu glauben. Weder haben sich irgendwo nach¬
haltige separatistische Bestrebungen gezeigt, auch bei den Polen nicht, die wirt¬
schaftlich viel zu fest mit Rußland verbunden sind, als daß sie sich von ihm
trennen könnten, noch hat sich das Zarentum so schwach gezeigt wie das fran¬
zösische Königtum von 1789; trotz gelegentlicher Meutereien haben Heer und
Beamtentum so wenig versagt, daß die Reichsduma, weil mit ihrer radikalen,
politisch völlig unreifen Mehrheit nicht zu verhandeln war, zweimal aufgelöst
und das Wahlrecht verändert werden konnte, ohne daß es irgendwo zu einer
großen Erhebung gekommen wäre. Auch würde eine solche, selbst wenn sie in
Petersburg oder Moskau siegreich bliebe, bei der ungeheuern Ausdehnung des
Reichs, bei der niedrigen Kulturstufe und dem Mangel einer wirklichen Zentrali-
sation niemals eine Wirkung haben, wie eine Pariser Revolution sie in dem viel
kleinern, weit kultivierter« und seit Jahrhunderten straff zentralisierten Frankreich
regelmäßig gehabt hat. Auch die Stärke und das stolze Selbstbewußtsein des


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[0010] Neujahrszedanken ist die Grundlage dafür geworden und wird von Frankreich aufs sorgfältigste respektiert. Stärker als jemals ist dabei der aristokratische Charakter der modernen Staatengesellschaft zutage getreten: nur die Großmächte, die Weltmächte sprechen mit; auf die Stellung der andern kommt gar nichts an, und ihre Schicksale üben auf den Gang der Weltpolitik keinen Einfluß. Daß sich Norwegen in echt ger¬ manischem Eigensinn von Schweden löste, um die Zahl der formell zwar selb¬ ständigen, aber tatsächlich ohnmächtigen kleinen Staaten um einen neuen zu vermehren und damit den alten Traum einer skandinavischen Union vollends ins Fabelreich zu verweisen, das hat auswärts zwar Kopfschütteln oder Bedauern hervorgerufen, aber die Ruhe der Welt nicht erschüttert, freilich auch deshalb, weil es der soeben heimgegangne ehrwürdige König Oskar verschmähte, die un¬ zweifelhafte Übermacht Schwedens zur Behauptung der Union aufzubieten. Aber darüber kann sich niemand täuschen: der gegenwärtige Zustand der Welt beruht durchaus nicht auf einer wirklichen Ausgleichung der Gegensätze, sondern auf einem gewissen Gleichgewicht der Kräfte, das jeder Großmacht die Überzeugung aufdrängen muß, daß die politischen Errungenschaften auch des glücklichsten Krieges von seinen furchtbaren Einbußen weit übertroffen werden würden, und auf den innern Zustünden einiger dieser Mächte. Die amerikanische Union steht in dem schweren Kampfe eines selbstsüchtigen Unternehmertums gegen die Staatsgewalt, deren Schwäche bisher der Jankee als eine Bürgschaft der persönlichen Freiheit betrachtet hat, einem Kampfe, worin wieder einmal der uns rückständigen Europäern nicht ganz unbekannte unsterbliche Gegensatz zwischen dem Großbesitz und der Staatsgewalt in modernen Formen hervortritt. Dazu will sich der große Bundesstaat eine gewaltige Flotte schaffen und rüstet sich zur Präsidentenwahl, die unter Umstünden seiner ganzen Politik eine andre Richtung geben kann. Rußland ist auf längere Zeit vorläufig, sozusagen, außer Gefecht gesetzt, seiner Kriegsflotte beraubt, durch innere Kämpfe schwer erschüttert. Aber es ist ein liberaler Irrtum, an einen dauernden Niedergang oder gar an einen nahen Zerfall des Ricsenreichs zu glauben. Weder haben sich irgendwo nach¬ haltige separatistische Bestrebungen gezeigt, auch bei den Polen nicht, die wirt¬ schaftlich viel zu fest mit Rußland verbunden sind, als daß sie sich von ihm trennen könnten, noch hat sich das Zarentum so schwach gezeigt wie das fran¬ zösische Königtum von 1789; trotz gelegentlicher Meutereien haben Heer und Beamtentum so wenig versagt, daß die Reichsduma, weil mit ihrer radikalen, politisch völlig unreifen Mehrheit nicht zu verhandeln war, zweimal aufgelöst und das Wahlrecht verändert werden konnte, ohne daß es irgendwo zu einer großen Erhebung gekommen wäre. Auch würde eine solche, selbst wenn sie in Petersburg oder Moskau siegreich bliebe, bei der ungeheuern Ausdehnung des Reichs, bei der niedrigen Kulturstufe und dem Mangel einer wirklichen Zentrali- sation niemals eine Wirkung haben, wie eine Pariser Revolution sie in dem viel kleinern, weit kultivierter« und seit Jahrhunderten straff zentralisierten Frankreich regelmäßig gehabt hat. Auch die Stärke und das stolze Selbstbewußtsein des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/10>, abgerufen am 03.07.2024.