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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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herrschenden, sehr einheitlichen Großrussentnms darf nicht unterschätzt werden.
Kurz, der beliebte Vergleich zwischen der französischen und der russischen Revo¬
lution hinkt auf beiden Beinen. Und wenn Rußland schwere Niederlagen erlitten
hat, so war das ein Grenzkrieg um weit entlegne, neu erworbne Provinzen, der
den Kern der russischen Macht so wenig erschüttert hat wie vor einem halben
Jahrhundert der nicht weniger unglückliche Krimkrieg. 1,3. Russis hö reousillö,
sagte damals Fürst Gortschakow. Das gilt jetzt wieder; es wäre deshalb sehr
gewagt, Rußland als eine cirmntit6 nsAliASiMo anzusehen, und das tut auch
kein praktischer Staatsmann.

Auch die immer wiederholten Prophezeiungen und Erwartungen von einem
nahe bevorstehenden Zerfall Österreichs, wenn einmal der greise Kaiser die Augen
schließe, dürften sich nicht erfüllen. Als ob nicht viel stärkere Klammern als dieser
ehrwürdige Monarch den weitläufigen Reichsbau zusammenhielten! Von dem
Thronfolger Franz Ferdinand weiß man noch wenig, aber doch schon so viel, daß
er ein Mann ist, daß die jetzt in Österreich zur Herrschaft gelangte christlich-soziale
Partei seine Partei ist, und daß er ein entschiedner Feind der unberechtigten
und unhistorischen Selbständigkeitsbestrebungen der in unbelehrbarem Größenwahn
befangnen Magyaren ist. Der Ausgleich in diesem "Staate auf Kündigung"
ist unter leidlichen Bedingungen wieder einmal gesichert, die Ungarn sind nicht
abgefallen und werden sich das auch beim Tode des Kaisers zweimal überlegen,
wenn sie an die wachsenden Schwierigkeiten mit den Kroaten und den ungar-
ländischen Nationalitüten denken. Wir aber sind nur mit Österreich-Ungarn ver¬
bündet, nicht mit Österreich und mit Ungarn; eine Trennung Ungarns wäre eine
Zerstörung dieser Großmacht und damit auch dieses einheitlichen europäischen
Rechtssubjekts.

Eine Zeit lang schien es, als ob die verschiednen Einverständnisse und
Bündnisse zwischen alten Gegnern rings um uns, an denen das Deutsche Reich
keinen Anteil nahm, vor allem den Zweck hätten, uns "einzukreisen", um schließlich
im geeigneten Augenblick über dieses unbequeme Deutschland, das sich durchaus
nicht mehr zum Kriegsschauplatz der europäischen Heere hergeben, sondern sogar
in der Welt etwas bedeuten will, herzufallen. Und die Führung dieser Politik
hatte, wie es schien, England, oder, richtiger gesagt, König Eduard. Jawohl,
ein König von England! Wo bleiben da die alten schönen Lieblingsvorstellungen
vom englischen "Schattenkönigtum", das nur eine "dekorative Spitze" des eng¬
lischen Staatsbaus sein sollte und kaum das Tüpfelchen auf das I zu setzen
hatte? Und doch, heute spricht man kaum mehr von der Politik dieses oder jenes
britischen Ministeriums, wie früher vom Ministerium Beaconsfield, Gladstone,
Salisbury, sondern von der Politik des Königs Eduard. In der englischen
Verfassung hat sich nicht ein Jota geändert, aber diese Verfassung beruht auf
dem Herkommen und nicht auf einer Urkunde, und wenn der Monarch, ohne
dieses Herkommen zu verletzen, die Interessen seines Volkes einsichtig und kraftvoll
vertritt, so hat er die ganze, ebenso stolze als loyale Nation hinter sich, und


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herrschenden, sehr einheitlichen Großrussentnms darf nicht unterschätzt werden.
Kurz, der beliebte Vergleich zwischen der französischen und der russischen Revo¬
lution hinkt auf beiden Beinen. Und wenn Rußland schwere Niederlagen erlitten
hat, so war das ein Grenzkrieg um weit entlegne, neu erworbne Provinzen, der
den Kern der russischen Macht so wenig erschüttert hat wie vor einem halben
Jahrhundert der nicht weniger unglückliche Krimkrieg. 1,3. Russis hö reousillö,
sagte damals Fürst Gortschakow. Das gilt jetzt wieder; es wäre deshalb sehr
gewagt, Rußland als eine cirmntit6 nsAliASiMo anzusehen, und das tut auch
kein praktischer Staatsmann.

Auch die immer wiederholten Prophezeiungen und Erwartungen von einem
nahe bevorstehenden Zerfall Österreichs, wenn einmal der greise Kaiser die Augen
schließe, dürften sich nicht erfüllen. Als ob nicht viel stärkere Klammern als dieser
ehrwürdige Monarch den weitläufigen Reichsbau zusammenhielten! Von dem
Thronfolger Franz Ferdinand weiß man noch wenig, aber doch schon so viel, daß
er ein Mann ist, daß die jetzt in Österreich zur Herrschaft gelangte christlich-soziale
Partei seine Partei ist, und daß er ein entschiedner Feind der unberechtigten
und unhistorischen Selbständigkeitsbestrebungen der in unbelehrbarem Größenwahn
befangnen Magyaren ist. Der Ausgleich in diesem „Staate auf Kündigung"
ist unter leidlichen Bedingungen wieder einmal gesichert, die Ungarn sind nicht
abgefallen und werden sich das auch beim Tode des Kaisers zweimal überlegen,
wenn sie an die wachsenden Schwierigkeiten mit den Kroaten und den ungar-
ländischen Nationalitüten denken. Wir aber sind nur mit Österreich-Ungarn ver¬
bündet, nicht mit Österreich und mit Ungarn; eine Trennung Ungarns wäre eine
Zerstörung dieser Großmacht und damit auch dieses einheitlichen europäischen
Rechtssubjekts.

Eine Zeit lang schien es, als ob die verschiednen Einverständnisse und
Bündnisse zwischen alten Gegnern rings um uns, an denen das Deutsche Reich
keinen Anteil nahm, vor allem den Zweck hätten, uns „einzukreisen", um schließlich
im geeigneten Augenblick über dieses unbequeme Deutschland, das sich durchaus
nicht mehr zum Kriegsschauplatz der europäischen Heere hergeben, sondern sogar
in der Welt etwas bedeuten will, herzufallen. Und die Führung dieser Politik
hatte, wie es schien, England, oder, richtiger gesagt, König Eduard. Jawohl,
ein König von England! Wo bleiben da die alten schönen Lieblingsvorstellungen
vom englischen „Schattenkönigtum", das nur eine „dekorative Spitze" des eng¬
lischen Staatsbaus sein sollte und kaum das Tüpfelchen auf das I zu setzen
hatte? Und doch, heute spricht man kaum mehr von der Politik dieses oder jenes
britischen Ministeriums, wie früher vom Ministerium Beaconsfield, Gladstone,
Salisbury, sondern von der Politik des Königs Eduard. In der englischen
Verfassung hat sich nicht ein Jota geändert, aber diese Verfassung beruht auf
dem Herkommen und nicht auf einer Urkunde, und wenn der Monarch, ohne
dieses Herkommen zu verletzen, die Interessen seines Volkes einsichtig und kraftvoll
vertritt, so hat er die ganze, ebenso stolze als loyale Nation hinter sich, und


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[0011] Neujahrsgedcmken herrschenden, sehr einheitlichen Großrussentnms darf nicht unterschätzt werden. Kurz, der beliebte Vergleich zwischen der französischen und der russischen Revo¬ lution hinkt auf beiden Beinen. Und wenn Rußland schwere Niederlagen erlitten hat, so war das ein Grenzkrieg um weit entlegne, neu erworbne Provinzen, der den Kern der russischen Macht so wenig erschüttert hat wie vor einem halben Jahrhundert der nicht weniger unglückliche Krimkrieg. 1,3. Russis hö reousillö, sagte damals Fürst Gortschakow. Das gilt jetzt wieder; es wäre deshalb sehr gewagt, Rußland als eine cirmntit6 nsAliASiMo anzusehen, und das tut auch kein praktischer Staatsmann. Auch die immer wiederholten Prophezeiungen und Erwartungen von einem nahe bevorstehenden Zerfall Österreichs, wenn einmal der greise Kaiser die Augen schließe, dürften sich nicht erfüllen. Als ob nicht viel stärkere Klammern als dieser ehrwürdige Monarch den weitläufigen Reichsbau zusammenhielten! Von dem Thronfolger Franz Ferdinand weiß man noch wenig, aber doch schon so viel, daß er ein Mann ist, daß die jetzt in Österreich zur Herrschaft gelangte christlich-soziale Partei seine Partei ist, und daß er ein entschiedner Feind der unberechtigten und unhistorischen Selbständigkeitsbestrebungen der in unbelehrbarem Größenwahn befangnen Magyaren ist. Der Ausgleich in diesem „Staate auf Kündigung" ist unter leidlichen Bedingungen wieder einmal gesichert, die Ungarn sind nicht abgefallen und werden sich das auch beim Tode des Kaisers zweimal überlegen, wenn sie an die wachsenden Schwierigkeiten mit den Kroaten und den ungar- ländischen Nationalitüten denken. Wir aber sind nur mit Österreich-Ungarn ver¬ bündet, nicht mit Österreich und mit Ungarn; eine Trennung Ungarns wäre eine Zerstörung dieser Großmacht und damit auch dieses einheitlichen europäischen Rechtssubjekts. Eine Zeit lang schien es, als ob die verschiednen Einverständnisse und Bündnisse zwischen alten Gegnern rings um uns, an denen das Deutsche Reich keinen Anteil nahm, vor allem den Zweck hätten, uns „einzukreisen", um schließlich im geeigneten Augenblick über dieses unbequeme Deutschland, das sich durchaus nicht mehr zum Kriegsschauplatz der europäischen Heere hergeben, sondern sogar in der Welt etwas bedeuten will, herzufallen. Und die Führung dieser Politik hatte, wie es schien, England, oder, richtiger gesagt, König Eduard. Jawohl, ein König von England! Wo bleiben da die alten schönen Lieblingsvorstellungen vom englischen „Schattenkönigtum", das nur eine „dekorative Spitze" des eng¬ lischen Staatsbaus sein sollte und kaum das Tüpfelchen auf das I zu setzen hatte? Und doch, heute spricht man kaum mehr von der Politik dieses oder jenes britischen Ministeriums, wie früher vom Ministerium Beaconsfield, Gladstone, Salisbury, sondern von der Politik des Königs Eduard. In der englischen Verfassung hat sich nicht ein Jota geändert, aber diese Verfassung beruht auf dem Herkommen und nicht auf einer Urkunde, und wenn der Monarch, ohne dieses Herkommen zu verletzen, die Interessen seines Volkes einsichtig und kraftvoll vertritt, so hat er die ganze, ebenso stolze als loyale Nation hinter sich, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/11>, abgerufen am 23.07.2024.