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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Neujahrsgedanken,
erbauliche und unerbauliche

inde Friedenslüfte wehen durch die ganze waffenstarrende Welt,
Alle Feindschaften, alle Gegensätze scheinen verschwunden und ver¬
gessen zu sein. England und Frankreich stehen trotz Trcifalgar
und Faschoda im engsten Einvernehmen, und doch bewahrt Frank¬
reich sein Verhältnis zu Englands größtem Gegner Rußland; jn
auch diese beiden Mächte haben sich in Asien über eine Abgrenzung ihrer Einflu߬
sphären verständigt, die Afghanistan an England ausgeliefert und Persien wirt¬
schaftlich zwischen beiden geteilt hat. Damit ist jede Möglichkeit eines russischen
Angriffs auf Indien vorläufig geschwunden und somit auch die unangenehme
Aussicht für England, eines schönen Tages japanische Truppen zum Schutze
seines indischen Reichs heranziehen und damit seine eigne Ohnmacht zu Lande
eingestehen zu müssen. Zugleich hält das englisch-japanische Bündnis Nußland
im äußersten Osten im Schach. Sogar der japanisch-nordamerikanische Gegensatz
scheint augenblicklich aus der großen Politik ausgeschaltet zu sein. Nicht anders
steht es im mohammedanischen Orient, Nordafrika mit inbegriffen. Die Türkei
steht gewissermaßen unter einer Gesamtvormundschaft der europäischen Großmächte,
die darüber einig sind, unter Wahrung der Souveränität des Sultans die not¬
wendigsten Reformen in Makedonien durchzuführen und durch den elenden Banden¬
krieg oder vielmehr Ausrottungskrieg der dortigen halbbarbarischen Völkerschaften,
die den letzten Rest von Sympathie für die eine oder die andre zerstören müssen,
in ihrem Vorsatz nur bestärkt werden können. Das Abkommen zwischen Öster¬
reich und Italien über die Aufrechterhaltung des Ltaws in Albanien hat
dieses Einverständnis auch an einer sehr empfindlichen Stelle hergestellt und
damit zugleich, trotz des irredentistischen Geschreis nach Trient und Trieft, den aber¬
mals erneuerten Dreibund gefestigt. Ein ähnlicher Zustand hat sich in Marokko
herausgebildet. Die -- natürlich in Deutschland -- vielbespöttelte Algecirasakte


Grenzboten I 1908 1


Neujahrsgedanken,
erbauliche und unerbauliche

inde Friedenslüfte wehen durch die ganze waffenstarrende Welt,
Alle Feindschaften, alle Gegensätze scheinen verschwunden und ver¬
gessen zu sein. England und Frankreich stehen trotz Trcifalgar
und Faschoda im engsten Einvernehmen, und doch bewahrt Frank¬
reich sein Verhältnis zu Englands größtem Gegner Rußland; jn
auch diese beiden Mächte haben sich in Asien über eine Abgrenzung ihrer Einflu߬
sphären verständigt, die Afghanistan an England ausgeliefert und Persien wirt¬
schaftlich zwischen beiden geteilt hat. Damit ist jede Möglichkeit eines russischen
Angriffs auf Indien vorläufig geschwunden und somit auch die unangenehme
Aussicht für England, eines schönen Tages japanische Truppen zum Schutze
seines indischen Reichs heranziehen und damit seine eigne Ohnmacht zu Lande
eingestehen zu müssen. Zugleich hält das englisch-japanische Bündnis Nußland
im äußersten Osten im Schach. Sogar der japanisch-nordamerikanische Gegensatz
scheint augenblicklich aus der großen Politik ausgeschaltet zu sein. Nicht anders
steht es im mohammedanischen Orient, Nordafrika mit inbegriffen. Die Türkei
steht gewissermaßen unter einer Gesamtvormundschaft der europäischen Großmächte,
die darüber einig sind, unter Wahrung der Souveränität des Sultans die not¬
wendigsten Reformen in Makedonien durchzuführen und durch den elenden Banden¬
krieg oder vielmehr Ausrottungskrieg der dortigen halbbarbarischen Völkerschaften,
die den letzten Rest von Sympathie für die eine oder die andre zerstören müssen,
in ihrem Vorsatz nur bestärkt werden können. Das Abkommen zwischen Öster¬
reich und Italien über die Aufrechterhaltung des Ltaws in Albanien hat
dieses Einverständnis auch an einer sehr empfindlichen Stelle hergestellt und
damit zugleich, trotz des irredentistischen Geschreis nach Trient und Trieft, den aber¬
mals erneuerten Dreibund gefestigt. Ein ähnlicher Zustand hat sich in Marokko
herausgebildet. Die — natürlich in Deutschland — vielbespöttelte Algecirasakte


Grenzboten I 1908 1
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[0009] [Abbildung] Neujahrsgedanken, erbauliche und unerbauliche inde Friedenslüfte wehen durch die ganze waffenstarrende Welt, Alle Feindschaften, alle Gegensätze scheinen verschwunden und ver¬ gessen zu sein. England und Frankreich stehen trotz Trcifalgar und Faschoda im engsten Einvernehmen, und doch bewahrt Frank¬ reich sein Verhältnis zu Englands größtem Gegner Rußland; jn auch diese beiden Mächte haben sich in Asien über eine Abgrenzung ihrer Einflu߬ sphären verständigt, die Afghanistan an England ausgeliefert und Persien wirt¬ schaftlich zwischen beiden geteilt hat. Damit ist jede Möglichkeit eines russischen Angriffs auf Indien vorläufig geschwunden und somit auch die unangenehme Aussicht für England, eines schönen Tages japanische Truppen zum Schutze seines indischen Reichs heranziehen und damit seine eigne Ohnmacht zu Lande eingestehen zu müssen. Zugleich hält das englisch-japanische Bündnis Nußland im äußersten Osten im Schach. Sogar der japanisch-nordamerikanische Gegensatz scheint augenblicklich aus der großen Politik ausgeschaltet zu sein. Nicht anders steht es im mohammedanischen Orient, Nordafrika mit inbegriffen. Die Türkei steht gewissermaßen unter einer Gesamtvormundschaft der europäischen Großmächte, die darüber einig sind, unter Wahrung der Souveränität des Sultans die not¬ wendigsten Reformen in Makedonien durchzuführen und durch den elenden Banden¬ krieg oder vielmehr Ausrottungskrieg der dortigen halbbarbarischen Völkerschaften, die den letzten Rest von Sympathie für die eine oder die andre zerstören müssen, in ihrem Vorsatz nur bestärkt werden können. Das Abkommen zwischen Öster¬ reich und Italien über die Aufrechterhaltung des Ltaws in Albanien hat dieses Einverständnis auch an einer sehr empfindlichen Stelle hergestellt und damit zugleich, trotz des irredentistischen Geschreis nach Trient und Trieft, den aber¬ mals erneuerten Dreibund gefestigt. Ein ähnlicher Zustand hat sich in Marokko herausgebildet. Die — natürlich in Deutschland — vielbespöttelte Algecirasakte Grenzboten I 1908 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/9>, abgerufen am 01.07.2024.