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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Die Türkenherrschaft und ihre Folgen

nordwestlichen Gebieten von Bosnien und Herzegowina unterscheidet sich noch
heute die bodenständige mohammedanische und katholische Bevölkerung von der
eingewanderten orthodoxen durch den Dialekt (spricht i für ß, die orthodoxe
^s, ijs). Auch in Bulgarien ist in jüngster Zeit eine große dialektische Bunt¬
heit, die auf ähnliche Wanderungen, namentlich infolge der russisch-türkischen
Kriege, zurückzuführen ist, aufgedeckt worden, von den bulgarischen Kolonien in
Bessarabien und in der Krim gar nicht zu reden.

Die geschilderten Ereignisse und Zustände waren von der größten Be¬
deutung für das geistige Leben aller Südslawen, mögen sie auch teilweise das
türkische Joch nur kürzere Zeit oder gar nicht getragen haben. Durch deu
Untergang der Balkanstaaten verlor vor allem die Literatur die Unterstützung
der Fürsten und des Adels, auf deren Schenkungen und fromme Stiftungen
namentlich die Klöster, fast die einzigen Vertreter der schriftstellerischen und
schreiberischen Tätigkeit, angewiesen waren. Die erste Folge der Türkenhcrr-
schaft war daher eine starke Auswanderung der hervorragendsten geistigen
Kräfte aus Bulgarien und Serbien nach den Donaufürstentümern Walachei
und Moldau und nach Rußland. Die beiden rumänischen Fürstentümer zeigen
seit ihrem selbständigen Auftreten im vierzehnten Jahrhundert bis zum sech¬
zehnten, ja noch bis zum Anfang des siebzehnten, ein vollständig slawisches
Aussehen; die Alleinherrschaft der slawischen Kirchen- und Staatssprache ist
nicht bloß auf das kulturelle Übergewicht des benachbarten Bulgarien zurückzu¬
führen, sondern auch durch die historische Vergangenheit und die ethnographischen
Verhältnisse (noch im fünfzehnten Jahrhundert ist slawische Bevölkerung nach¬
weisbar) der Gebiete zwischen der Doncin und den Karpaten zu erklären. Die
mittelbulgarische Periode fand ihre eigentliche Fortsetzung in der Walachei und
Moldau, für sie gelten hauptsächlich die Worte des serbischen Historiographen
Konstantin von Kostenec, daß durch die Trnovoer Schriften "auch heute, trotz
des Verfalls des Zartums, die umgebenden Zaren und Länder aufgeklärt
werden". Die Sprache und die Orthographie des slawischen Schrifttums
Rumäniens verraten in der Tat einen überwiegend bulgarischen Einfluß (daher
"walacho-bulgarische" Urkunden u. ä.), doch häufig wurde im Lande selbst in
slawischer und rumänischer Sprache, in neuster Zeit aber auch von verschiednen
Gelehrten dafür der Ausdruck "serbisch" (serbische Chronik, serbische Handschriften,
walacho-serbisch) gebraucht, was sich dadurch erklärt, daß die kirchenslawischc
Literatur zuletzt in Serbien die stärkste Pflege fand; von dort kamen nicht
bloß zahlreiche Handschriften, sondern auch der erste Gründer rumänischer Klöster
und der Schreiber der ältesten von den bis jetzt datierbaren Handschriften
rumänischer Herkunft (Evangelium vom Jahre 1405), der anf dem Athos ge¬
bildete Pope Nikodem, und noch zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der
Mönch Makarij und andre serbische Buchdrucker uach der Walachei. Das
slawische Schrifttum Rumäniens ist sehr reichhaltig und hat uns eine Menge
südslawischer Werke aller Arten gut überliefert; neue Übersetzungen sind nicht


Die Türkenherrschaft und ihre Folgen

nordwestlichen Gebieten von Bosnien und Herzegowina unterscheidet sich noch
heute die bodenständige mohammedanische und katholische Bevölkerung von der
eingewanderten orthodoxen durch den Dialekt (spricht i für ß, die orthodoxe
^s, ijs). Auch in Bulgarien ist in jüngster Zeit eine große dialektische Bunt¬
heit, die auf ähnliche Wanderungen, namentlich infolge der russisch-türkischen
Kriege, zurückzuführen ist, aufgedeckt worden, von den bulgarischen Kolonien in
Bessarabien und in der Krim gar nicht zu reden.

Die geschilderten Ereignisse und Zustände waren von der größten Be¬
deutung für das geistige Leben aller Südslawen, mögen sie auch teilweise das
türkische Joch nur kürzere Zeit oder gar nicht getragen haben. Durch deu
Untergang der Balkanstaaten verlor vor allem die Literatur die Unterstützung
der Fürsten und des Adels, auf deren Schenkungen und fromme Stiftungen
namentlich die Klöster, fast die einzigen Vertreter der schriftstellerischen und
schreiberischen Tätigkeit, angewiesen waren. Die erste Folge der Türkenhcrr-
schaft war daher eine starke Auswanderung der hervorragendsten geistigen
Kräfte aus Bulgarien und Serbien nach den Donaufürstentümern Walachei
und Moldau und nach Rußland. Die beiden rumänischen Fürstentümer zeigen
seit ihrem selbständigen Auftreten im vierzehnten Jahrhundert bis zum sech¬
zehnten, ja noch bis zum Anfang des siebzehnten, ein vollständig slawisches
Aussehen; die Alleinherrschaft der slawischen Kirchen- und Staatssprache ist
nicht bloß auf das kulturelle Übergewicht des benachbarten Bulgarien zurückzu¬
führen, sondern auch durch die historische Vergangenheit und die ethnographischen
Verhältnisse (noch im fünfzehnten Jahrhundert ist slawische Bevölkerung nach¬
weisbar) der Gebiete zwischen der Doncin und den Karpaten zu erklären. Die
mittelbulgarische Periode fand ihre eigentliche Fortsetzung in der Walachei und
Moldau, für sie gelten hauptsächlich die Worte des serbischen Historiographen
Konstantin von Kostenec, daß durch die Trnovoer Schriften „auch heute, trotz
des Verfalls des Zartums, die umgebenden Zaren und Länder aufgeklärt
werden". Die Sprache und die Orthographie des slawischen Schrifttums
Rumäniens verraten in der Tat einen überwiegend bulgarischen Einfluß (daher
„walacho-bulgarische" Urkunden u. ä.), doch häufig wurde im Lande selbst in
slawischer und rumänischer Sprache, in neuster Zeit aber auch von verschiednen
Gelehrten dafür der Ausdruck „serbisch" (serbische Chronik, serbische Handschriften,
walacho-serbisch) gebraucht, was sich dadurch erklärt, daß die kirchenslawischc
Literatur zuletzt in Serbien die stärkste Pflege fand; von dort kamen nicht
bloß zahlreiche Handschriften, sondern auch der erste Gründer rumänischer Klöster
und der Schreiber der ältesten von den bis jetzt datierbaren Handschriften
rumänischer Herkunft (Evangelium vom Jahre 1405), der anf dem Athos ge¬
bildete Pope Nikodem, und noch zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der
Mönch Makarij und andre serbische Buchdrucker uach der Walachei. Das
slawische Schrifttum Rumäniens ist sehr reichhaltig und hat uns eine Menge
südslawischer Werke aller Arten gut überliefert; neue Übersetzungen sind nicht


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[0072] Die Türkenherrschaft und ihre Folgen nordwestlichen Gebieten von Bosnien und Herzegowina unterscheidet sich noch heute die bodenständige mohammedanische und katholische Bevölkerung von der eingewanderten orthodoxen durch den Dialekt (spricht i für ß, die orthodoxe ^s, ijs). Auch in Bulgarien ist in jüngster Zeit eine große dialektische Bunt¬ heit, die auf ähnliche Wanderungen, namentlich infolge der russisch-türkischen Kriege, zurückzuführen ist, aufgedeckt worden, von den bulgarischen Kolonien in Bessarabien und in der Krim gar nicht zu reden. Die geschilderten Ereignisse und Zustände waren von der größten Be¬ deutung für das geistige Leben aller Südslawen, mögen sie auch teilweise das türkische Joch nur kürzere Zeit oder gar nicht getragen haben. Durch deu Untergang der Balkanstaaten verlor vor allem die Literatur die Unterstützung der Fürsten und des Adels, auf deren Schenkungen und fromme Stiftungen namentlich die Klöster, fast die einzigen Vertreter der schriftstellerischen und schreiberischen Tätigkeit, angewiesen waren. Die erste Folge der Türkenhcrr- schaft war daher eine starke Auswanderung der hervorragendsten geistigen Kräfte aus Bulgarien und Serbien nach den Donaufürstentümern Walachei und Moldau und nach Rußland. Die beiden rumänischen Fürstentümer zeigen seit ihrem selbständigen Auftreten im vierzehnten Jahrhundert bis zum sech¬ zehnten, ja noch bis zum Anfang des siebzehnten, ein vollständig slawisches Aussehen; die Alleinherrschaft der slawischen Kirchen- und Staatssprache ist nicht bloß auf das kulturelle Übergewicht des benachbarten Bulgarien zurückzu¬ führen, sondern auch durch die historische Vergangenheit und die ethnographischen Verhältnisse (noch im fünfzehnten Jahrhundert ist slawische Bevölkerung nach¬ weisbar) der Gebiete zwischen der Doncin und den Karpaten zu erklären. Die mittelbulgarische Periode fand ihre eigentliche Fortsetzung in der Walachei und Moldau, für sie gelten hauptsächlich die Worte des serbischen Historiographen Konstantin von Kostenec, daß durch die Trnovoer Schriften „auch heute, trotz des Verfalls des Zartums, die umgebenden Zaren und Länder aufgeklärt werden". Die Sprache und die Orthographie des slawischen Schrifttums Rumäniens verraten in der Tat einen überwiegend bulgarischen Einfluß (daher „walacho-bulgarische" Urkunden u. ä.), doch häufig wurde im Lande selbst in slawischer und rumänischer Sprache, in neuster Zeit aber auch von verschiednen Gelehrten dafür der Ausdruck „serbisch" (serbische Chronik, serbische Handschriften, walacho-serbisch) gebraucht, was sich dadurch erklärt, daß die kirchenslawischc Literatur zuletzt in Serbien die stärkste Pflege fand; von dort kamen nicht bloß zahlreiche Handschriften, sondern auch der erste Gründer rumänischer Klöster und der Schreiber der ältesten von den bis jetzt datierbaren Handschriften rumänischer Herkunft (Evangelium vom Jahre 1405), der anf dem Athos ge¬ bildete Pope Nikodem, und noch zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der Mönch Makarij und andre serbische Buchdrucker uach der Walachei. Das slawische Schrifttum Rumäniens ist sehr reichhaltig und hat uns eine Menge südslawischer Werke aller Arten gut überliefert; neue Übersetzungen sind nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/72>, abgerufen am 23.07.2024.