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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Grünewald

beklemmenden Kunst herauszugehn und offen zuzugeben, daß hier die Ver¬
säumnis von Jahrhunderten einem schwer verkannten gegenüber gut zu machen
ist. Ja man geht hier und da schon so weit, Dürer und Rembrandt herab¬
zusetzen, um Grünewald gehörig preisen zu können.

Er ist kein Museumskünstler, läßt sich nur schwer kennen lernen an den
Paar süddeutschen Orten, wohin die wenigen erhaltnen Werke seiner Hand
verschlagen worden sind. Neben den großen Altarbildern im Kolmarer Stadt¬
museum findet sich in Karlsruhe und in Basel je eine Kreuzigung, in Freiburg
die Gründung der Marienkirche in Rom, in Aschaffenburg eine Beweinung, in
Frankfurt am Main hängen zwei Heiligenbilder, in München endlich ist das
Spätwerk Erasmus und Mauritius, vielleicht das bekannteste Gemälde des
Meisters, aber wenig bezeichnend für seine tiefste Art. Dazu noch an die zehn
Zeichnungen, die meisten in Berlin.

Das ist, von einigen Schulbildern und zweifelhaften Stücken abgesehn,
alles, und es ist nicht viel. Wie stark muß es sein, um eine künstlerische
Auferstehung des Meisters nach halber und ganzer Vergessenheit gebieterisch
durchsetzen zu können!

Wir haben in Grünewald einen Tragiker von ganz großem Stil, einen
Pathetiker der Leidenschaft, ein Genie der Farbensprache, des monumentalen
Bildausdrucks überhaupt -- das ist die Erkenntnis, die sich jetzt langsam
durchzusetzen beginnt. Die zwei Hauptstücke des Isenheimer Altars allein genügen
schon, um das zu belegen. Sein Kruzifixus hängt so jämmerlich qualvoll, so
ganz und gar gebrochen und zermalmt, so grausam entstellt und blutrünstig
an seinem klobigen Marterholz, daß der naive Beschauer beim ersten Anblick
zurückfährt. Kein Heiligenschein vergoldet die entsetzliche Dornenkrone dieses
armen Schachers. Die Grausamkeit körperlichen Leidens ist nie unerbittlicher
dargestellt als hier. Die gekrampften Finger greifen, zitternd gespreizt, unheimlich
flehend in die leere Luft, von den gekrümmten, übereinander genagelten Füßen
hat man gesagt: sie fluchten gleichzeitig. Das hundertfältig verwundete Fleisch
schimmert bläulich fahl. Und dieser ganze brutale Realismus, der mit dä¬
monischer Gewalt an unsern Nerven rüttelt und uns bis an die Grenze
des Ekels treibt, ist dennoch erträglich gemacht und ins Feierliche erhoben
durch die bezwingende Größe der Empfindung, der fanatisch herbsten Glaubens¬
inbrunst, die aus dieser Gestalt wie aus denen der Frauen, des Jüngers, des
Täufers mit der Gewalt eines Naturereignisses spricht. Sieht man daneben
den auferstehenden Christus in seiner Glorie über dem Grabe, ganz entkörpert,
ganz nur selig umflorter Geist, so staunt man aufs neue. Das rauschende
Emporschweben, dieses Schweben überhaupt! Kaum einer hat es je so gemalt.
Wie wogt das Gewand um den verklärten Leib, wie sonnenhaft heiter, wie
ganz übermenschlich groß hebt sich dieser Erlöser ins metaphysische Dunkel
empor. Und dann die idyllische Lieblichkeit der Geburt Christi. Ein voll-
kommner Farbenrausch überflutet uns. Der düstere Asket ist freudenvoll


Grünewald

beklemmenden Kunst herauszugehn und offen zuzugeben, daß hier die Ver¬
säumnis von Jahrhunderten einem schwer verkannten gegenüber gut zu machen
ist. Ja man geht hier und da schon so weit, Dürer und Rembrandt herab¬
zusetzen, um Grünewald gehörig preisen zu können.

Er ist kein Museumskünstler, läßt sich nur schwer kennen lernen an den
Paar süddeutschen Orten, wohin die wenigen erhaltnen Werke seiner Hand
verschlagen worden sind. Neben den großen Altarbildern im Kolmarer Stadt¬
museum findet sich in Karlsruhe und in Basel je eine Kreuzigung, in Freiburg
die Gründung der Marienkirche in Rom, in Aschaffenburg eine Beweinung, in
Frankfurt am Main hängen zwei Heiligenbilder, in München endlich ist das
Spätwerk Erasmus und Mauritius, vielleicht das bekannteste Gemälde des
Meisters, aber wenig bezeichnend für seine tiefste Art. Dazu noch an die zehn
Zeichnungen, die meisten in Berlin.

Das ist, von einigen Schulbildern und zweifelhaften Stücken abgesehn,
alles, und es ist nicht viel. Wie stark muß es sein, um eine künstlerische
Auferstehung des Meisters nach halber und ganzer Vergessenheit gebieterisch
durchsetzen zu können!

Wir haben in Grünewald einen Tragiker von ganz großem Stil, einen
Pathetiker der Leidenschaft, ein Genie der Farbensprache, des monumentalen
Bildausdrucks überhaupt — das ist die Erkenntnis, die sich jetzt langsam
durchzusetzen beginnt. Die zwei Hauptstücke des Isenheimer Altars allein genügen
schon, um das zu belegen. Sein Kruzifixus hängt so jämmerlich qualvoll, so
ganz und gar gebrochen und zermalmt, so grausam entstellt und blutrünstig
an seinem klobigen Marterholz, daß der naive Beschauer beim ersten Anblick
zurückfährt. Kein Heiligenschein vergoldet die entsetzliche Dornenkrone dieses
armen Schachers. Die Grausamkeit körperlichen Leidens ist nie unerbittlicher
dargestellt als hier. Die gekrampften Finger greifen, zitternd gespreizt, unheimlich
flehend in die leere Luft, von den gekrümmten, übereinander genagelten Füßen
hat man gesagt: sie fluchten gleichzeitig. Das hundertfältig verwundete Fleisch
schimmert bläulich fahl. Und dieser ganze brutale Realismus, der mit dä¬
monischer Gewalt an unsern Nerven rüttelt und uns bis an die Grenze
des Ekels treibt, ist dennoch erträglich gemacht und ins Feierliche erhoben
durch die bezwingende Größe der Empfindung, der fanatisch herbsten Glaubens¬
inbrunst, die aus dieser Gestalt wie aus denen der Frauen, des Jüngers, des
Täufers mit der Gewalt eines Naturereignisses spricht. Sieht man daneben
den auferstehenden Christus in seiner Glorie über dem Grabe, ganz entkörpert,
ganz nur selig umflorter Geist, so staunt man aufs neue. Das rauschende
Emporschweben, dieses Schweben überhaupt! Kaum einer hat es je so gemalt.
Wie wogt das Gewand um den verklärten Leib, wie sonnenhaft heiter, wie
ganz übermenschlich groß hebt sich dieser Erlöser ins metaphysische Dunkel
empor. Und dann die idyllische Lieblichkeit der Geburt Christi. Ein voll-
kommner Farbenrausch überflutet uns. Der düstere Asket ist freudenvoll


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[0647] Grünewald beklemmenden Kunst herauszugehn und offen zuzugeben, daß hier die Ver¬ säumnis von Jahrhunderten einem schwer verkannten gegenüber gut zu machen ist. Ja man geht hier und da schon so weit, Dürer und Rembrandt herab¬ zusetzen, um Grünewald gehörig preisen zu können. Er ist kein Museumskünstler, läßt sich nur schwer kennen lernen an den Paar süddeutschen Orten, wohin die wenigen erhaltnen Werke seiner Hand verschlagen worden sind. Neben den großen Altarbildern im Kolmarer Stadt¬ museum findet sich in Karlsruhe und in Basel je eine Kreuzigung, in Freiburg die Gründung der Marienkirche in Rom, in Aschaffenburg eine Beweinung, in Frankfurt am Main hängen zwei Heiligenbilder, in München endlich ist das Spätwerk Erasmus und Mauritius, vielleicht das bekannteste Gemälde des Meisters, aber wenig bezeichnend für seine tiefste Art. Dazu noch an die zehn Zeichnungen, die meisten in Berlin. Das ist, von einigen Schulbildern und zweifelhaften Stücken abgesehn, alles, und es ist nicht viel. Wie stark muß es sein, um eine künstlerische Auferstehung des Meisters nach halber und ganzer Vergessenheit gebieterisch durchsetzen zu können! Wir haben in Grünewald einen Tragiker von ganz großem Stil, einen Pathetiker der Leidenschaft, ein Genie der Farbensprache, des monumentalen Bildausdrucks überhaupt — das ist die Erkenntnis, die sich jetzt langsam durchzusetzen beginnt. Die zwei Hauptstücke des Isenheimer Altars allein genügen schon, um das zu belegen. Sein Kruzifixus hängt so jämmerlich qualvoll, so ganz und gar gebrochen und zermalmt, so grausam entstellt und blutrünstig an seinem klobigen Marterholz, daß der naive Beschauer beim ersten Anblick zurückfährt. Kein Heiligenschein vergoldet die entsetzliche Dornenkrone dieses armen Schachers. Die Grausamkeit körperlichen Leidens ist nie unerbittlicher dargestellt als hier. Die gekrampften Finger greifen, zitternd gespreizt, unheimlich flehend in die leere Luft, von den gekrümmten, übereinander genagelten Füßen hat man gesagt: sie fluchten gleichzeitig. Das hundertfältig verwundete Fleisch schimmert bläulich fahl. Und dieser ganze brutale Realismus, der mit dä¬ monischer Gewalt an unsern Nerven rüttelt und uns bis an die Grenze des Ekels treibt, ist dennoch erträglich gemacht und ins Feierliche erhoben durch die bezwingende Größe der Empfindung, der fanatisch herbsten Glaubens¬ inbrunst, die aus dieser Gestalt wie aus denen der Frauen, des Jüngers, des Täufers mit der Gewalt eines Naturereignisses spricht. Sieht man daneben den auferstehenden Christus in seiner Glorie über dem Grabe, ganz entkörpert, ganz nur selig umflorter Geist, so staunt man aufs neue. Das rauschende Emporschweben, dieses Schweben überhaupt! Kaum einer hat es je so gemalt. Wie wogt das Gewand um den verklärten Leib, wie sonnenhaft heiter, wie ganz übermenschlich groß hebt sich dieser Erlöser ins metaphysische Dunkel empor. Und dann die idyllische Lieblichkeit der Geburt Christi. Ein voll- kommner Farbenrausch überflutet uns. Der düstere Asket ist freudenvoll

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/647>, abgerufen am 22.07.2024.