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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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politische Bildung und Nationalbewußtsein

in Bürgerkreisen besprochen zu werden pflegen, konnte man jedesmal die er¬
staunlichste Unkenntnis wahrnehmen. Aufklärungen über Irrtümer stießen bei
den "Belesensten" auf Widerspruch; und wer hat denn gleich immer eine Ver¬
fassung in der Tasche! Man kann in Deutschland eine ganze Reihe von Ort¬
schaften durchwandern, ohne daß man ein Exemplar der Reichsverfassung auf¬
zutreiben vermochte. Wenn das nicht zu traurig wäre, müßte man es lächerlich
finden. Die Regeln des stats oder eines andern Lieblingsspiels hat jedermann
in, Kopfe, die Bestimmungen der Reichsverfassung kennt keiner. So hat man
sich gewöhnt, wenn überhaupt über politische Dinge gesprochen wird, zu
sprechen und zu streiten, ohne sie nur halb zu verstehn, und auch den ein¬
heimischen Staat, wie einen halbfremden, mit dem Auge des Dilettanten zu
betrachten. Nur dieser politischen Schlummersucht ist es zuzuschreiben, daß sich
in der Regel, wenn kein nationaler Anstoß gegeben ist, die Mehrzahl der
Wühler von Schlagworten der oberflächlichsten Art einfangen läßt. Auch die im
Laufe der Jahrzehnte gestiegne Beteiligung an den Wahlen ist kein Beweis
für eine Zunahme politischer Bildung oder lebhafterer Teilnahme am Staats¬
leben, sondern allein dafür, daß entweder bloß eingebildete und eingeredete
oder wirkliche Notstände empfunden werden. Statt sich aber klarzumachen,
was davon unvermeidlich, bloß vorübergehend oder wirklich zu beseitigen ist,
rennt man dem nach, der für sich und seine Partei verspricht, alles abzuschaffen,
und eine Zukunft in Aussicht stellt, die allen gleiche Rechte und Genüsse, aber
keine Pflichten bringen soll.

Dieser betrübende Tiefstand der politischen Bildung ist in den weitesten
Kreisen bekannt und wird namentlich zuzeiten der Wahlen immer bitter be¬
klagt. Sobald sie aber vorüber sind, verliert sich die Erregung wieder, und
es bleibt alles beim alten. Abzuwarten, bis sich spätere Generationen des
deutschen Volks das Nationalbewußtsein im gleichen Maße angewöhnt haben
wie die schon länger staatlich geeinten Nationen, erscheint bei der heutigen
Weltlage mißlich, und es sind darum schon von verschiednen Seiten An¬
regungen gegeben worden, dem offenkundiger Übelstande abzuhelfen. Außer
von der Regierung pflegt man nun in Deutschland noch von der Schule alles
Zu erwarten, und darum kann es keine Verwunderung erregen, daß der
Vorschlag gemacht wird, durch den Unterricht die politischen Grundbegriffe
und die elementaren Staats- und Verfassungskenntnisse vorzubereiten und
dadurch die politische Bildung, das Interesse für das Staatsleben und das
politische Verantwortlichkeitsgefühl zu heben. Mit besondrer Wärme hat sich
dafür Carl Negenboru in den Grenzboten (1907 IV, 40 und 41) ausgesprochen,
und es braucht seinen Ausführungen nichts hinzugefügt zu werden. Ganz in
dieselbe Kerbe haut Dr. P. Rühlmann") in einer ausführlichen Broschüre, die



*) öl'. P. Mhlmann, Politische Bildung, ihr Wesen und ihre Bedeutung, eine Grund¬
lage unsers öffentlichen Lebens. 158 Seiten, broschiert Mark 8" Pf. Leipzig, Quelle
und Meyer.
politische Bildung und Nationalbewußtsein

in Bürgerkreisen besprochen zu werden pflegen, konnte man jedesmal die er¬
staunlichste Unkenntnis wahrnehmen. Aufklärungen über Irrtümer stießen bei
den „Belesensten" auf Widerspruch; und wer hat denn gleich immer eine Ver¬
fassung in der Tasche! Man kann in Deutschland eine ganze Reihe von Ort¬
schaften durchwandern, ohne daß man ein Exemplar der Reichsverfassung auf¬
zutreiben vermochte. Wenn das nicht zu traurig wäre, müßte man es lächerlich
finden. Die Regeln des stats oder eines andern Lieblingsspiels hat jedermann
in, Kopfe, die Bestimmungen der Reichsverfassung kennt keiner. So hat man
sich gewöhnt, wenn überhaupt über politische Dinge gesprochen wird, zu
sprechen und zu streiten, ohne sie nur halb zu verstehn, und auch den ein¬
heimischen Staat, wie einen halbfremden, mit dem Auge des Dilettanten zu
betrachten. Nur dieser politischen Schlummersucht ist es zuzuschreiben, daß sich
in der Regel, wenn kein nationaler Anstoß gegeben ist, die Mehrzahl der
Wühler von Schlagworten der oberflächlichsten Art einfangen läßt. Auch die im
Laufe der Jahrzehnte gestiegne Beteiligung an den Wahlen ist kein Beweis
für eine Zunahme politischer Bildung oder lebhafterer Teilnahme am Staats¬
leben, sondern allein dafür, daß entweder bloß eingebildete und eingeredete
oder wirkliche Notstände empfunden werden. Statt sich aber klarzumachen,
was davon unvermeidlich, bloß vorübergehend oder wirklich zu beseitigen ist,
rennt man dem nach, der für sich und seine Partei verspricht, alles abzuschaffen,
und eine Zukunft in Aussicht stellt, die allen gleiche Rechte und Genüsse, aber
keine Pflichten bringen soll.

Dieser betrübende Tiefstand der politischen Bildung ist in den weitesten
Kreisen bekannt und wird namentlich zuzeiten der Wahlen immer bitter be¬
klagt. Sobald sie aber vorüber sind, verliert sich die Erregung wieder, und
es bleibt alles beim alten. Abzuwarten, bis sich spätere Generationen des
deutschen Volks das Nationalbewußtsein im gleichen Maße angewöhnt haben
wie die schon länger staatlich geeinten Nationen, erscheint bei der heutigen
Weltlage mißlich, und es sind darum schon von verschiednen Seiten An¬
regungen gegeben worden, dem offenkundiger Übelstande abzuhelfen. Außer
von der Regierung pflegt man nun in Deutschland noch von der Schule alles
Zu erwarten, und darum kann es keine Verwunderung erregen, daß der
Vorschlag gemacht wird, durch den Unterricht die politischen Grundbegriffe
und die elementaren Staats- und Verfassungskenntnisse vorzubereiten und
dadurch die politische Bildung, das Interesse für das Staatsleben und das
politische Verantwortlichkeitsgefühl zu heben. Mit besondrer Wärme hat sich
dafür Carl Negenboru in den Grenzboten (1907 IV, 40 und 41) ausgesprochen,
und es braucht seinen Ausführungen nichts hinzugefügt zu werden. Ganz in
dieselbe Kerbe haut Dr. P. Rühlmann") in einer ausführlichen Broschüre, die



*) öl'. P. Mhlmann, Politische Bildung, ihr Wesen und ihre Bedeutung, eine Grund¬
lage unsers öffentlichen Lebens. 158 Seiten, broschiert Mark 8« Pf. Leipzig, Quelle
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/477>, abgerufen am 22.07.2024.