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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Politische Lildung und Nationalbewußtsein

Beamtentums der Einzelstaaten enthalten und darum dnrch Pflicht, Gewohn¬
heit oder aus noch andern Gründen für partikularistische Interessen mehr
eingenommen als für die des Reichs. Weniger aus der Haltung der Fürsten¬
häuser als aus dieser Neigung ergeben sich die Schwierigkeiten, die sich einer
engern Zusammenfassung zugunsten des Reichs entgegenstellen, wie zum Bei¬
spiel in den Eisenbahnfragen. Dafür muß man für die Zukunft vom Zwang
der Notwendigkeit das Beste erhoffen. Auch alle wichtigen Reformen des
Zollvereins sind einst aufgedrungne Wohltaten gewesen, die die Klein¬
staaten, schreiend, doch zu ihrem eignen Besten, nachträglich gutheißen mußten.
Aber die oben kurz geschilderte Zeit der ausschließliche" Tätigkeit der Einzel¬
fürsten hat dem deutschen Volke noch eine andre Eigenschaft anerzogen: nichts
selbst zu tun, sondern alles von der Negierung zu erwarten. Wenn in der
Regel behauptet wird, die Ursache dieser Gleichgiltigkeit dem Staatsleben
gegenüber beruhe auf der vieljährigen politischen Entmündigung des deutschen
Volks, so kann das kaum als voll zutreffend angesehen werden. Wäre das
richtig, so hätte sich doch nach der Mündigsprechung der Staatsbürger durch
das Verfassungsleben eine große politische Regsamkeit entwickeln müssen. Das
war aber weder im Süden noch später im Norden der Fall. Die neuen Ver¬
fassungen trafen überall wohl auf eine nach französischem Muster vorbereitete
Opposition, aber nirgends auf besondre Neigung zur Mitarbeit und auf
politisches Verantwortlichkeitsgefühl. In den weitesten Kreisen überwog weiter
das Vertrauen auf die Negierung und die Gleichgiltigkeit gegen die Ver¬
tretungskörper. Bismarck hat sich mehrfach darüber geäußert und die oft
geringe Teilnahme an den Wahlen darauf zurückgeführt. Unstreitig erklärt
sich daraus noch heute die Erscheinung, daß nach Neichstagsauflösungen,
wenn also der Kaiser und die Bundesfürsten einen besondern Ruf an die Be¬
völkerung ergehn lassen, immer eine größere Anzahl sonstiger NichtWähler an
der Wahlurne erscheint.

Solche politische Lauheit ist unerfreulich und der innern Entwicklung des
Vaterlands nicht günstig. Die politische Vertrauensseligkeit des durchschnitt¬
lichen deutschen Bürgers geht so weit, daß er sich um Recht, Staatsordnung
und Verfassung gar nicht kümmert, darum bei der einfachsten bürgerlichen
Rechtsfrage zum Advokaten laufen muß, im Mutterlande der allgemeinen
Wehrpflicht von der Zusammensetzung der Armee blutwenig weiß und die
Reichsverfassung überhaupt nicht kennt. Er ist überzeugt, daß die Fürsten
und Bismarck das alles ganz gut gemacht haben, es geht ja auch alles ruhig
weiter, und deshalb kümmert er sich nicht darum. Geradezu unbekannt ist
die Reichsverfassung, selbst die Mehrzahl der Studierten hat sie nie gelesen-
Höchstens hat man sich nach der Zeitungslektüre irgendein Phantasiebild davon
zurechtgemacht, worin inländische und ausländische Bestimmungen und Ein¬
richtungen bunt durcheinanderlaufen, und das übrige aus Lücken besteht. Nach
den verschiednen Neichstagsanflösungen, wobei überhaupt Verfassungsfragen


Politische Lildung und Nationalbewußtsein

Beamtentums der Einzelstaaten enthalten und darum dnrch Pflicht, Gewohn¬
heit oder aus noch andern Gründen für partikularistische Interessen mehr
eingenommen als für die des Reichs. Weniger aus der Haltung der Fürsten¬
häuser als aus dieser Neigung ergeben sich die Schwierigkeiten, die sich einer
engern Zusammenfassung zugunsten des Reichs entgegenstellen, wie zum Bei¬
spiel in den Eisenbahnfragen. Dafür muß man für die Zukunft vom Zwang
der Notwendigkeit das Beste erhoffen. Auch alle wichtigen Reformen des
Zollvereins sind einst aufgedrungne Wohltaten gewesen, die die Klein¬
staaten, schreiend, doch zu ihrem eignen Besten, nachträglich gutheißen mußten.
Aber die oben kurz geschilderte Zeit der ausschließliche» Tätigkeit der Einzel¬
fürsten hat dem deutschen Volke noch eine andre Eigenschaft anerzogen: nichts
selbst zu tun, sondern alles von der Negierung zu erwarten. Wenn in der
Regel behauptet wird, die Ursache dieser Gleichgiltigkeit dem Staatsleben
gegenüber beruhe auf der vieljährigen politischen Entmündigung des deutschen
Volks, so kann das kaum als voll zutreffend angesehen werden. Wäre das
richtig, so hätte sich doch nach der Mündigsprechung der Staatsbürger durch
das Verfassungsleben eine große politische Regsamkeit entwickeln müssen. Das
war aber weder im Süden noch später im Norden der Fall. Die neuen Ver¬
fassungen trafen überall wohl auf eine nach französischem Muster vorbereitete
Opposition, aber nirgends auf besondre Neigung zur Mitarbeit und auf
politisches Verantwortlichkeitsgefühl. In den weitesten Kreisen überwog weiter
das Vertrauen auf die Negierung und die Gleichgiltigkeit gegen die Ver¬
tretungskörper. Bismarck hat sich mehrfach darüber geäußert und die oft
geringe Teilnahme an den Wahlen darauf zurückgeführt. Unstreitig erklärt
sich daraus noch heute die Erscheinung, daß nach Neichstagsauflösungen,
wenn also der Kaiser und die Bundesfürsten einen besondern Ruf an die Be¬
völkerung ergehn lassen, immer eine größere Anzahl sonstiger NichtWähler an
der Wahlurne erscheint.

Solche politische Lauheit ist unerfreulich und der innern Entwicklung des
Vaterlands nicht günstig. Die politische Vertrauensseligkeit des durchschnitt¬
lichen deutschen Bürgers geht so weit, daß er sich um Recht, Staatsordnung
und Verfassung gar nicht kümmert, darum bei der einfachsten bürgerlichen
Rechtsfrage zum Advokaten laufen muß, im Mutterlande der allgemeinen
Wehrpflicht von der Zusammensetzung der Armee blutwenig weiß und die
Reichsverfassung überhaupt nicht kennt. Er ist überzeugt, daß die Fürsten
und Bismarck das alles ganz gut gemacht haben, es geht ja auch alles ruhig
weiter, und deshalb kümmert er sich nicht darum. Geradezu unbekannt ist
die Reichsverfassung, selbst die Mehrzahl der Studierten hat sie nie gelesen-
Höchstens hat man sich nach der Zeitungslektüre irgendein Phantasiebild davon
zurechtgemacht, worin inländische und ausländische Bestimmungen und Ein¬
richtungen bunt durcheinanderlaufen, und das übrige aus Lücken besteht. Nach
den verschiednen Neichstagsanflösungen, wobei überhaupt Verfassungsfragen


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[0476] Politische Lildung und Nationalbewußtsein Beamtentums der Einzelstaaten enthalten und darum dnrch Pflicht, Gewohn¬ heit oder aus noch andern Gründen für partikularistische Interessen mehr eingenommen als für die des Reichs. Weniger aus der Haltung der Fürsten¬ häuser als aus dieser Neigung ergeben sich die Schwierigkeiten, die sich einer engern Zusammenfassung zugunsten des Reichs entgegenstellen, wie zum Bei¬ spiel in den Eisenbahnfragen. Dafür muß man für die Zukunft vom Zwang der Notwendigkeit das Beste erhoffen. Auch alle wichtigen Reformen des Zollvereins sind einst aufgedrungne Wohltaten gewesen, die die Klein¬ staaten, schreiend, doch zu ihrem eignen Besten, nachträglich gutheißen mußten. Aber die oben kurz geschilderte Zeit der ausschließliche» Tätigkeit der Einzel¬ fürsten hat dem deutschen Volke noch eine andre Eigenschaft anerzogen: nichts selbst zu tun, sondern alles von der Negierung zu erwarten. Wenn in der Regel behauptet wird, die Ursache dieser Gleichgiltigkeit dem Staatsleben gegenüber beruhe auf der vieljährigen politischen Entmündigung des deutschen Volks, so kann das kaum als voll zutreffend angesehen werden. Wäre das richtig, so hätte sich doch nach der Mündigsprechung der Staatsbürger durch das Verfassungsleben eine große politische Regsamkeit entwickeln müssen. Das war aber weder im Süden noch später im Norden der Fall. Die neuen Ver¬ fassungen trafen überall wohl auf eine nach französischem Muster vorbereitete Opposition, aber nirgends auf besondre Neigung zur Mitarbeit und auf politisches Verantwortlichkeitsgefühl. In den weitesten Kreisen überwog weiter das Vertrauen auf die Negierung und die Gleichgiltigkeit gegen die Ver¬ tretungskörper. Bismarck hat sich mehrfach darüber geäußert und die oft geringe Teilnahme an den Wahlen darauf zurückgeführt. Unstreitig erklärt sich daraus noch heute die Erscheinung, daß nach Neichstagsauflösungen, wenn also der Kaiser und die Bundesfürsten einen besondern Ruf an die Be¬ völkerung ergehn lassen, immer eine größere Anzahl sonstiger NichtWähler an der Wahlurne erscheint. Solche politische Lauheit ist unerfreulich und der innern Entwicklung des Vaterlands nicht günstig. Die politische Vertrauensseligkeit des durchschnitt¬ lichen deutschen Bürgers geht so weit, daß er sich um Recht, Staatsordnung und Verfassung gar nicht kümmert, darum bei der einfachsten bürgerlichen Rechtsfrage zum Advokaten laufen muß, im Mutterlande der allgemeinen Wehrpflicht von der Zusammensetzung der Armee blutwenig weiß und die Reichsverfassung überhaupt nicht kennt. Er ist überzeugt, daß die Fürsten und Bismarck das alles ganz gut gemacht haben, es geht ja auch alles ruhig weiter, und deshalb kümmert er sich nicht darum. Geradezu unbekannt ist die Reichsverfassung, selbst die Mehrzahl der Studierten hat sie nie gelesen- Höchstens hat man sich nach der Zeitungslektüre irgendein Phantasiebild davon zurechtgemacht, worin inländische und ausländische Bestimmungen und Ein¬ richtungen bunt durcheinanderlaufen, und das übrige aus Lücken besteht. Nach den verschiednen Neichstagsanflösungen, wobei überhaupt Verfassungsfragen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/476>, abgerufen am 22.07.2024.