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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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politische Bildung und Nationalbewußtsein

in vollkommen sachlicher, umfassender und unparteiischer Behandlung alle
dieses Gebiet berührenden grundlegenden Gedanken, praktischen Erwägungen
und politischen Erfahrungen im In- und Auslande bespricht. Wem daran
gelegen ist, dieser schon weitere Kreise beschäftigenden Angelegenheit seine
Aufmerksamkeit zuzuwenden, wird in der gründlichen Arbeit über alle Einzel¬
heiten Aufschluß und Anregung finden und wenig Anlaß haben, sich mit dem
Verfasser in Widerspruch zu setzen, da er mit großer Belesenheit eine angenehm
berührende (im besten Sinne des Worts) patriotische Gesinnung und volle
Unparteilichkeit verbindet. Unter politischer Bildung versteht der Verfasser
politisches Denken, das politisches Wissen: Zusammenstellung, Durchdenkung
und Beherrschung der sich auf den Staat beziehenden Einzeltatsachen umfaßt
und zwei Wesensmomente: ein richtiges Erfassen des jeweiligen politischen
Zustandes und einen klaren Blick für das praktisch erreichbare, das politisch
mögliche einschließt. Daraus wird sich erst das politische Wollen, d. h. das
pflichtgemäße und überzeugte Unterordnen alles Einzelhandelns unter die all¬
beherrschende Staatsidee entwickeln. "Diese Umbiegung des Patriotismus in
Staatsgefühl, politisches Verantwortlichkeitsgefühl ist nur dem möglich, der
im nationalen Staate die einzig mögliche Form der Kulturentfaltung sieht, und
der vom Glauben an die Zukunft seiner Nation getragen wird."

Die Notwendigkeit der politischen Bildung ergibt sich aus dem Eintreten
des Reichs in die Weltpolitik, aus der Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts, der Beteiligung des Laienelements an der Rechtspflege und ans dem
Grundsatz der Selbstverwaltung. Trotz der Selbstverständlichkeit der Forderung
haben aber der Staat und die amtliche Pädagogik niemals Ernst gemacht mit
der politischen Erziehung unsers Volks. Wer in der Masse einen politischen
Faktor sieht, vielleicht sogar einen Faktor von großer Bedeutung, für den ist
die Notwendigkeit der politischen Erziehung der heranwachsenden Geschlechter
absolut gegeben, Sozialdemokratie und Zentrum sorgen bereits auf dem Partei¬
wege dafür in ihrem Parteiinteresse, während die andern Parteien der Schule
die Aufgabe zuweise" wollen, und nach altliberalem Muster eine jungliberale
Richtung namentlich in Süddeutschland eingesetzt hat, die die politische Jugend¬
erziehung durch Vereinstätigkeit bewirken will. Demgegenüber müßte der Staat
mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, namentlich durch die Schule, die
politische Erziehung der heranwachsenden Geschlechter nach besten Kräften fördern,
zum mindesten so weit, daß die im nachschul- und nachfortbitdungspflichtigen
Lebensalter eintretende Parteierziehung nicht mehr in dem Umfange wie jetzt
schaden kann. Nur der Staat ist geeignet, durch die über den Parteien stehende
Schule eine aller Parteileidenschaft entrückte politische Bildung des deutschen
Volks zu garantieren. Von nicht geringem Interesse ist der ausführlich be¬
gründete Hinweis darauf, daß unsre Presse nicht geeignet ist, die politische
Bildung zu fördern. "Die Presse, namentlich in ihrer modernsten Form, wirkt
nur segensreich, wenn sie ein politisch erzognes Volk liest." Bei dem ver-


politische Bildung und Nationalbewußtsein

in vollkommen sachlicher, umfassender und unparteiischer Behandlung alle
dieses Gebiet berührenden grundlegenden Gedanken, praktischen Erwägungen
und politischen Erfahrungen im In- und Auslande bespricht. Wem daran
gelegen ist, dieser schon weitere Kreise beschäftigenden Angelegenheit seine
Aufmerksamkeit zuzuwenden, wird in der gründlichen Arbeit über alle Einzel¬
heiten Aufschluß und Anregung finden und wenig Anlaß haben, sich mit dem
Verfasser in Widerspruch zu setzen, da er mit großer Belesenheit eine angenehm
berührende (im besten Sinne des Worts) patriotische Gesinnung und volle
Unparteilichkeit verbindet. Unter politischer Bildung versteht der Verfasser
politisches Denken, das politisches Wissen: Zusammenstellung, Durchdenkung
und Beherrschung der sich auf den Staat beziehenden Einzeltatsachen umfaßt
und zwei Wesensmomente: ein richtiges Erfassen des jeweiligen politischen
Zustandes und einen klaren Blick für das praktisch erreichbare, das politisch
mögliche einschließt. Daraus wird sich erst das politische Wollen, d. h. das
pflichtgemäße und überzeugte Unterordnen alles Einzelhandelns unter die all¬
beherrschende Staatsidee entwickeln. „Diese Umbiegung des Patriotismus in
Staatsgefühl, politisches Verantwortlichkeitsgefühl ist nur dem möglich, der
im nationalen Staate die einzig mögliche Form der Kulturentfaltung sieht, und
der vom Glauben an die Zukunft seiner Nation getragen wird."

Die Notwendigkeit der politischen Bildung ergibt sich aus dem Eintreten
des Reichs in die Weltpolitik, aus der Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts, der Beteiligung des Laienelements an der Rechtspflege und ans dem
Grundsatz der Selbstverwaltung. Trotz der Selbstverständlichkeit der Forderung
haben aber der Staat und die amtliche Pädagogik niemals Ernst gemacht mit
der politischen Erziehung unsers Volks. Wer in der Masse einen politischen
Faktor sieht, vielleicht sogar einen Faktor von großer Bedeutung, für den ist
die Notwendigkeit der politischen Erziehung der heranwachsenden Geschlechter
absolut gegeben, Sozialdemokratie und Zentrum sorgen bereits auf dem Partei¬
wege dafür in ihrem Parteiinteresse, während die andern Parteien der Schule
die Aufgabe zuweise» wollen, und nach altliberalem Muster eine jungliberale
Richtung namentlich in Süddeutschland eingesetzt hat, die die politische Jugend¬
erziehung durch Vereinstätigkeit bewirken will. Demgegenüber müßte der Staat
mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, namentlich durch die Schule, die
politische Erziehung der heranwachsenden Geschlechter nach besten Kräften fördern,
zum mindesten so weit, daß die im nachschul- und nachfortbitdungspflichtigen
Lebensalter eintretende Parteierziehung nicht mehr in dem Umfange wie jetzt
schaden kann. Nur der Staat ist geeignet, durch die über den Parteien stehende
Schule eine aller Parteileidenschaft entrückte politische Bildung des deutschen
Volks zu garantieren. Von nicht geringem Interesse ist der ausführlich be¬
gründete Hinweis darauf, daß unsre Presse nicht geeignet ist, die politische
Bildung zu fördern. „Die Presse, namentlich in ihrer modernsten Form, wirkt
nur segensreich, wenn sie ein politisch erzognes Volk liest." Bei dem ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/478>, abgerufen am 22.07.2024.