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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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politische Bildung und Nationalbewußtsein

Die Grundlage, auf der sich eine Nation bildet, ist demnach wohl vorhanden,
und wenn das Nationalgefühl in Deutschland nicht immer und bei jeder
Gelegenheit so sicher und selbstverständlich zum Durchbruch gelangt wie in
England und Frankreich, so liegt es eben daran, daß wir erst seit vier Jahr¬
zehnten den staatlichen Rahmen für unsre Nation gefunden haben. Das
heutige englische und französische Nationalgefühl ist auch nicht in einigen
Jahren entständen, sondern hat zu seiner Entwicklung Jahrhunderte gemein¬
samer Schicksale und Erfahrungen gebraucht.

Aber wie dem auch sein mag, in bezug auf den Stand unsers National¬
gefühls sind wir noch nicht weit über jene Höhe hinausgekommen, von der,
in etwas anderm Sinne, Uhland vor neunzig Jahren sang: "Untröstlich ists
noch allerwärts; doch sah ich manches Ange stammen, und klopfen hört ich
manches Herz." Die lebende Generation braucht nun nicht mehr wie ihre
Großväter zu träumen von Kaiser und Reich, sie hat das, was ihren Vätern
als wiedererstand"? Herrlichkeit galt, vor Augen, seitdem sie sehen und ver-
stehn gelernt hat; sie braucht nicht mehr Engländer und Franzosen um das
Recht zu beneiden, über alles mitzureden und zu schreiben, denn sie hat aus
den Taten der Väter selbst erfahren, was Reden wert sind und was Taten.
Früher mochte sich der Staatlose Deutsche mit besondrer Vorliebe in die
idealisierte Herrlichkeit von Hellas und Rom zurückträumen, um die traurige,
inhaltlose Gegenwart zu vergessen, heute ist in der Kaiserkrone der politische
Einfluß des deutschen Volks auf die Händel der Nationen, ist unsre materielle
Existenz und unser nationales Bewußtsein sichergestellt. Die höchste Blüte
der Kultur eines großen Reichs wurzelt im Nationalgefühl, in dem Bewußt¬
sein, ein Glied in der großen Kette zu sein, die die Angehörigen eines Kultur¬
staats zu gegenseitiger Mithilfe verbindet. So haben wir auch wieder ein
Nationalbewußtsein, und hält man sich an das Geräusch, das gelegentlich
davon gemacht wird, so könnte man es sogar für sehr stark halten. Leider
ist das aber noch nicht der Fall, der aufmerksame Beobachter erkennt leicht,
daß es doch nur bei einzelnen Gelegenheiten zum Durchbruch kommt, für ge¬
wöhnlich aber mehr als ein äußerlicher glänzender Schmuck, der uns ergötzt,^
als wie ein dauernder, innerlicher Besitz erscheint. Aus dem Reich will ja
niemand wieder hinaus, selbst die Sozialdemokraten nicht, denn alle empfinden,
daß ihnen der größere politische Bereich einen weitern Spielraum gewährt;
auch die eingefleischtesten Partikularsten lassen sich den Schutz des deutschen
Einheitsreichs recht gern gefallen, um so mehr, da es sie nicht in ihrer Ge¬
wohnheit hindert, auf Preußen zu schimpfen und ihm für alles, was sie mit
Unbehagen erfüllt, die Schuld beizumessen. Das ist bequem, fordert wenig
Nachdenken und fällt nicht auf in einer Zeit, in der nur von Rechten, aber
fast niemals von Pflichten die Rede ist. Immer soll der andre schuld sein.

"/ Es leuchtet ein, daß derartige politische Stimmungen und Zustände einer
Vertiefung des Nationalbewußtseins nicht günstig sind. Dazu kommt noch,


politische Bildung und Nationalbewußtsein

Die Grundlage, auf der sich eine Nation bildet, ist demnach wohl vorhanden,
und wenn das Nationalgefühl in Deutschland nicht immer und bei jeder
Gelegenheit so sicher und selbstverständlich zum Durchbruch gelangt wie in
England und Frankreich, so liegt es eben daran, daß wir erst seit vier Jahr¬
zehnten den staatlichen Rahmen für unsre Nation gefunden haben. Das
heutige englische und französische Nationalgefühl ist auch nicht in einigen
Jahren entständen, sondern hat zu seiner Entwicklung Jahrhunderte gemein¬
samer Schicksale und Erfahrungen gebraucht.

Aber wie dem auch sein mag, in bezug auf den Stand unsers National¬
gefühls sind wir noch nicht weit über jene Höhe hinausgekommen, von der,
in etwas anderm Sinne, Uhland vor neunzig Jahren sang: „Untröstlich ists
noch allerwärts; doch sah ich manches Ange stammen, und klopfen hört ich
manches Herz." Die lebende Generation braucht nun nicht mehr wie ihre
Großväter zu träumen von Kaiser und Reich, sie hat das, was ihren Vätern
als wiedererstand«? Herrlichkeit galt, vor Augen, seitdem sie sehen und ver-
stehn gelernt hat; sie braucht nicht mehr Engländer und Franzosen um das
Recht zu beneiden, über alles mitzureden und zu schreiben, denn sie hat aus
den Taten der Väter selbst erfahren, was Reden wert sind und was Taten.
Früher mochte sich der Staatlose Deutsche mit besondrer Vorliebe in die
idealisierte Herrlichkeit von Hellas und Rom zurückträumen, um die traurige,
inhaltlose Gegenwart zu vergessen, heute ist in der Kaiserkrone der politische
Einfluß des deutschen Volks auf die Händel der Nationen, ist unsre materielle
Existenz und unser nationales Bewußtsein sichergestellt. Die höchste Blüte
der Kultur eines großen Reichs wurzelt im Nationalgefühl, in dem Bewußt¬
sein, ein Glied in der großen Kette zu sein, die die Angehörigen eines Kultur¬
staats zu gegenseitiger Mithilfe verbindet. So haben wir auch wieder ein
Nationalbewußtsein, und hält man sich an das Geräusch, das gelegentlich
davon gemacht wird, so könnte man es sogar für sehr stark halten. Leider
ist das aber noch nicht der Fall, der aufmerksame Beobachter erkennt leicht,
daß es doch nur bei einzelnen Gelegenheiten zum Durchbruch kommt, für ge¬
wöhnlich aber mehr als ein äußerlicher glänzender Schmuck, der uns ergötzt,^
als wie ein dauernder, innerlicher Besitz erscheint. Aus dem Reich will ja
niemand wieder hinaus, selbst die Sozialdemokraten nicht, denn alle empfinden,
daß ihnen der größere politische Bereich einen weitern Spielraum gewährt;
auch die eingefleischtesten Partikularsten lassen sich den Schutz des deutschen
Einheitsreichs recht gern gefallen, um so mehr, da es sie nicht in ihrer Ge¬
wohnheit hindert, auf Preußen zu schimpfen und ihm für alles, was sie mit
Unbehagen erfüllt, die Schuld beizumessen. Das ist bequem, fordert wenig
Nachdenken und fällt nicht auf in einer Zeit, in der nur von Rechten, aber
fast niemals von Pflichten die Rede ist. Immer soll der andre schuld sein.

"/ Es leuchtet ein, daß derartige politische Stimmungen und Zustände einer
Vertiefung des Nationalbewußtseins nicht günstig sind. Dazu kommt noch,


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[0474] politische Bildung und Nationalbewußtsein Die Grundlage, auf der sich eine Nation bildet, ist demnach wohl vorhanden, und wenn das Nationalgefühl in Deutschland nicht immer und bei jeder Gelegenheit so sicher und selbstverständlich zum Durchbruch gelangt wie in England und Frankreich, so liegt es eben daran, daß wir erst seit vier Jahr¬ zehnten den staatlichen Rahmen für unsre Nation gefunden haben. Das heutige englische und französische Nationalgefühl ist auch nicht in einigen Jahren entständen, sondern hat zu seiner Entwicklung Jahrhunderte gemein¬ samer Schicksale und Erfahrungen gebraucht. Aber wie dem auch sein mag, in bezug auf den Stand unsers National¬ gefühls sind wir noch nicht weit über jene Höhe hinausgekommen, von der, in etwas anderm Sinne, Uhland vor neunzig Jahren sang: „Untröstlich ists noch allerwärts; doch sah ich manches Ange stammen, und klopfen hört ich manches Herz." Die lebende Generation braucht nun nicht mehr wie ihre Großväter zu träumen von Kaiser und Reich, sie hat das, was ihren Vätern als wiedererstand«? Herrlichkeit galt, vor Augen, seitdem sie sehen und ver- stehn gelernt hat; sie braucht nicht mehr Engländer und Franzosen um das Recht zu beneiden, über alles mitzureden und zu schreiben, denn sie hat aus den Taten der Väter selbst erfahren, was Reden wert sind und was Taten. Früher mochte sich der Staatlose Deutsche mit besondrer Vorliebe in die idealisierte Herrlichkeit von Hellas und Rom zurückträumen, um die traurige, inhaltlose Gegenwart zu vergessen, heute ist in der Kaiserkrone der politische Einfluß des deutschen Volks auf die Händel der Nationen, ist unsre materielle Existenz und unser nationales Bewußtsein sichergestellt. Die höchste Blüte der Kultur eines großen Reichs wurzelt im Nationalgefühl, in dem Bewußt¬ sein, ein Glied in der großen Kette zu sein, die die Angehörigen eines Kultur¬ staats zu gegenseitiger Mithilfe verbindet. So haben wir auch wieder ein Nationalbewußtsein, und hält man sich an das Geräusch, das gelegentlich davon gemacht wird, so könnte man es sogar für sehr stark halten. Leider ist das aber noch nicht der Fall, der aufmerksame Beobachter erkennt leicht, daß es doch nur bei einzelnen Gelegenheiten zum Durchbruch kommt, für ge¬ wöhnlich aber mehr als ein äußerlicher glänzender Schmuck, der uns ergötzt,^ als wie ein dauernder, innerlicher Besitz erscheint. Aus dem Reich will ja niemand wieder hinaus, selbst die Sozialdemokraten nicht, denn alle empfinden, daß ihnen der größere politische Bereich einen weitern Spielraum gewährt; auch die eingefleischtesten Partikularsten lassen sich den Schutz des deutschen Einheitsreichs recht gern gefallen, um so mehr, da es sie nicht in ihrer Ge¬ wohnheit hindert, auf Preußen zu schimpfen und ihm für alles, was sie mit Unbehagen erfüllt, die Schuld beizumessen. Das ist bequem, fordert wenig Nachdenken und fällt nicht auf in einer Zeit, in der nur von Rechten, aber fast niemals von Pflichten die Rede ist. Immer soll der andre schuld sein. "/ Es leuchtet ein, daß derartige politische Stimmungen und Zustände einer Vertiefung des Nationalbewußtseins nicht günstig sind. Dazu kommt noch,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/474>, abgerufen am 24.08.2024.