Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Junge Richter und junge Rechtsanwälte

formell zustehenden Betrag an den Nachlaßaußenständen einzieht. Und ebenso
liegt diese Regelung im Interesse der Nachlaßgläubiger, zu deren Befriedigung
das Nachlaßvermögen zusammengehalten werden, also nur der die Schulden
übersteigende Betrag unter die Miterben zur Verteilung kommen soll. Jeder
Erbe kann vom Nachlaßschuldner nur verlangen, daß er die ganze Schuld¬
summe hinterlege, damit sie sodann unter die Erben verteilt werde. Nun setze
man aber den Fall, daß der Erblasser schon bei Lebzeiten, wie dies in klein¬
bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen üblich ist, sein Grundstück dem einen Sohn
gegen das übliche Leibgedinge abgegeben und sein Restvermögen von 600 Mark
diesem Sohne zur Verzinsung überlassen hat, sodann aber neben dem erwähnten
Sohne noch einen andern Sohn als Erben hinterläßt. Der ganze Nachlaß
besteht sonach aus den erwähnten 600 Mark, die der eine Miterbe dem Erb¬
lasser schuldete; anderweite Schulden haften auf dem Nachlaß uicht, ebensowenig
bestehn Ausgleichungsansprüche des einen Erben gegen den andern, sodaß dem
Erfolge nach der Schuldner 300 Mark als seinen Erbteil behält und 300 Mark
an seinen Bruder zu zahlen hat. Nichtsdestoweniger hat dieser nach der oben
besprochnen Regelung des Miterbenverhültnisses gegen den schuldnerischcn Mit¬
erben keinen Anspruch auf Zahlung von 300 Mark, wohl aber hat er einen
Anspruch darauf, daß der Schuldner die ganzen 600 Mark für beide Erben
hinterlege und in die Verteilung des Betrags willige, sodaß der Schuldner
300 Mark zurückbekömmt und der Miterbe im Teilungsversahren den gleichen
Betrag erhält. Diese den abstrakten gesetzlichen Vorschriften entsprechende
Regelung haben aber Rechtsprechung und Rechtslehre abgelehnt mit der Be¬
gründung: das Gesetz habe die Gebundenheit der Erdteile eingeführt, um
Schädigungen der Miterben und der Nachlaßgläubiger zu vermeiden; in Fällen
wie dem vorgedachten, wo solche Schädigungen gar nicht in Frage kommen,
die Anteile am Nachlaß als Inbegriff in Wahrheit doch nur Anteile an den
einzelnen Nachlaßforderungen sind, da wäre es eine reine Schikane, wenn sich
der schuldnerische Erbe weigerte, dem Miterben den zahlenmüßigen Betrag an
der Forderung auszuzahlen; und ebenso wäre es eine Schikane des Miterben,
wenn er verlangte, daß der Nachlaßschuldner die ganze Summe hinterlege,
obwohl er an ihr ebenso beteiligt ist wie der Miterbe. Das Gesetz kann,
obwohl sein Wortlaut der freiern Ansicht anscheinend entgegensteht, die Zu¬
lassung arglistiger Ansprüche unmöglich gewollt haben. -- Es gehört eben zu
den Aufgaben der Praxis, das Gesetz zwar mit seinen Mängeln anzuwenden,
es aber nach Möglichkeit den Anforderungen, die der Rechtsverkehr an das
Gesetz stellt, anzupassen.

Ein andrer Fall. Nach § 326 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann der
Käufer dem Verkäufer, wenn dieser im Verzug ist, eine Nachfrist bestimmen
und nach deren fruchtlosem Ablauf vom Vertrag zurücktreten oder Schaden¬
ersatz fordern. Gesetzt nun, ein Kaufmann habe bei der Fabrik Waren be¬
stellt, die ihm in bestimmten Terminen geliefert werden sollen; die ersten


Junge Richter und junge Rechtsanwälte

formell zustehenden Betrag an den Nachlaßaußenständen einzieht. Und ebenso
liegt diese Regelung im Interesse der Nachlaßgläubiger, zu deren Befriedigung
das Nachlaßvermögen zusammengehalten werden, also nur der die Schulden
übersteigende Betrag unter die Miterben zur Verteilung kommen soll. Jeder
Erbe kann vom Nachlaßschuldner nur verlangen, daß er die ganze Schuld¬
summe hinterlege, damit sie sodann unter die Erben verteilt werde. Nun setze
man aber den Fall, daß der Erblasser schon bei Lebzeiten, wie dies in klein¬
bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen üblich ist, sein Grundstück dem einen Sohn
gegen das übliche Leibgedinge abgegeben und sein Restvermögen von 600 Mark
diesem Sohne zur Verzinsung überlassen hat, sodann aber neben dem erwähnten
Sohne noch einen andern Sohn als Erben hinterläßt. Der ganze Nachlaß
besteht sonach aus den erwähnten 600 Mark, die der eine Miterbe dem Erb¬
lasser schuldete; anderweite Schulden haften auf dem Nachlaß uicht, ebensowenig
bestehn Ausgleichungsansprüche des einen Erben gegen den andern, sodaß dem
Erfolge nach der Schuldner 300 Mark als seinen Erbteil behält und 300 Mark
an seinen Bruder zu zahlen hat. Nichtsdestoweniger hat dieser nach der oben
besprochnen Regelung des Miterbenverhültnisses gegen den schuldnerischcn Mit¬
erben keinen Anspruch auf Zahlung von 300 Mark, wohl aber hat er einen
Anspruch darauf, daß der Schuldner die ganzen 600 Mark für beide Erben
hinterlege und in die Verteilung des Betrags willige, sodaß der Schuldner
300 Mark zurückbekömmt und der Miterbe im Teilungsversahren den gleichen
Betrag erhält. Diese den abstrakten gesetzlichen Vorschriften entsprechende
Regelung haben aber Rechtsprechung und Rechtslehre abgelehnt mit der Be¬
gründung: das Gesetz habe die Gebundenheit der Erdteile eingeführt, um
Schädigungen der Miterben und der Nachlaßgläubiger zu vermeiden; in Fällen
wie dem vorgedachten, wo solche Schädigungen gar nicht in Frage kommen,
die Anteile am Nachlaß als Inbegriff in Wahrheit doch nur Anteile an den
einzelnen Nachlaßforderungen sind, da wäre es eine reine Schikane, wenn sich
der schuldnerische Erbe weigerte, dem Miterben den zahlenmüßigen Betrag an
der Forderung auszuzahlen; und ebenso wäre es eine Schikane des Miterben,
wenn er verlangte, daß der Nachlaßschuldner die ganze Summe hinterlege,
obwohl er an ihr ebenso beteiligt ist wie der Miterbe. Das Gesetz kann,
obwohl sein Wortlaut der freiern Ansicht anscheinend entgegensteht, die Zu¬
lassung arglistiger Ansprüche unmöglich gewollt haben. — Es gehört eben zu
den Aufgaben der Praxis, das Gesetz zwar mit seinen Mängeln anzuwenden,
es aber nach Möglichkeit den Anforderungen, die der Rechtsverkehr an das
Gesetz stellt, anzupassen.

Ein andrer Fall. Nach § 326 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann der
Käufer dem Verkäufer, wenn dieser im Verzug ist, eine Nachfrist bestimmen
und nach deren fruchtlosem Ablauf vom Vertrag zurücktreten oder Schaden¬
ersatz fordern. Gesetzt nun, ein Kaufmann habe bei der Fabrik Waren be¬
stellt, die ihm in bestimmten Terminen geliefert werden sollen; die ersten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0384" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310795"/>
          <fw type="header" place="top"> Junge Richter und junge Rechtsanwälte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2041" prev="#ID_2040"> formell zustehenden Betrag an den Nachlaßaußenständen einzieht. Und ebenso<lb/>
liegt diese Regelung im Interesse der Nachlaßgläubiger, zu deren Befriedigung<lb/>
das Nachlaßvermögen zusammengehalten werden, also nur der die Schulden<lb/>
übersteigende Betrag unter die Miterben zur Verteilung kommen soll. Jeder<lb/>
Erbe kann vom Nachlaßschuldner nur verlangen, daß er die ganze Schuld¬<lb/>
summe hinterlege, damit sie sodann unter die Erben verteilt werde. Nun setze<lb/>
man aber den Fall, daß der Erblasser schon bei Lebzeiten, wie dies in klein¬<lb/>
bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen üblich ist, sein Grundstück dem einen Sohn<lb/>
gegen das übliche Leibgedinge abgegeben und sein Restvermögen von 600 Mark<lb/>
diesem Sohne zur Verzinsung überlassen hat, sodann aber neben dem erwähnten<lb/>
Sohne noch einen andern Sohn als Erben hinterläßt. Der ganze Nachlaß<lb/>
besteht sonach aus den erwähnten 600 Mark, die der eine Miterbe dem Erb¬<lb/>
lasser schuldete; anderweite Schulden haften auf dem Nachlaß uicht, ebensowenig<lb/>
bestehn Ausgleichungsansprüche des einen Erben gegen den andern, sodaß dem<lb/>
Erfolge nach der Schuldner 300 Mark als seinen Erbteil behält und 300 Mark<lb/>
an seinen Bruder zu zahlen hat. Nichtsdestoweniger hat dieser nach der oben<lb/>
besprochnen Regelung des Miterbenverhültnisses gegen den schuldnerischcn Mit¬<lb/>
erben keinen Anspruch auf Zahlung von 300 Mark, wohl aber hat er einen<lb/>
Anspruch darauf, daß der Schuldner die ganzen 600 Mark für beide Erben<lb/>
hinterlege und in die Verteilung des Betrags willige, sodaß der Schuldner<lb/>
300 Mark zurückbekömmt und der Miterbe im Teilungsversahren den gleichen<lb/>
Betrag erhält. Diese den abstrakten gesetzlichen Vorschriften entsprechende<lb/>
Regelung haben aber Rechtsprechung und Rechtslehre abgelehnt mit der Be¬<lb/>
gründung: das Gesetz habe die Gebundenheit der Erdteile eingeführt, um<lb/>
Schädigungen der Miterben und der Nachlaßgläubiger zu vermeiden; in Fällen<lb/>
wie dem vorgedachten, wo solche Schädigungen gar nicht in Frage kommen,<lb/>
die Anteile am Nachlaß als Inbegriff in Wahrheit doch nur Anteile an den<lb/>
einzelnen Nachlaßforderungen sind, da wäre es eine reine Schikane, wenn sich<lb/>
der schuldnerische Erbe weigerte, dem Miterben den zahlenmüßigen Betrag an<lb/>
der Forderung auszuzahlen; und ebenso wäre es eine Schikane des Miterben,<lb/>
wenn er verlangte, daß der Nachlaßschuldner die ganze Summe hinterlege,<lb/>
obwohl er an ihr ebenso beteiligt ist wie der Miterbe. Das Gesetz kann,<lb/>
obwohl sein Wortlaut der freiern Ansicht anscheinend entgegensteht, die Zu¬<lb/>
lassung arglistiger Ansprüche unmöglich gewollt haben. &#x2014; Es gehört eben zu<lb/>
den Aufgaben der Praxis, das Gesetz zwar mit seinen Mängeln anzuwenden,<lb/>
es aber nach Möglichkeit den Anforderungen, die der Rechtsverkehr an das<lb/>
Gesetz stellt, anzupassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2042" next="#ID_2043"> Ein andrer Fall. Nach § 326 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann der<lb/>
Käufer dem Verkäufer, wenn dieser im Verzug ist, eine Nachfrist bestimmen<lb/>
und nach deren fruchtlosem Ablauf vom Vertrag zurücktreten oder Schaden¬<lb/>
ersatz fordern. Gesetzt nun, ein Kaufmann habe bei der Fabrik Waren be¬<lb/>
stellt, die ihm in bestimmten Terminen geliefert werden sollen; die ersten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0384] Junge Richter und junge Rechtsanwälte formell zustehenden Betrag an den Nachlaßaußenständen einzieht. Und ebenso liegt diese Regelung im Interesse der Nachlaßgläubiger, zu deren Befriedigung das Nachlaßvermögen zusammengehalten werden, also nur der die Schulden übersteigende Betrag unter die Miterben zur Verteilung kommen soll. Jeder Erbe kann vom Nachlaßschuldner nur verlangen, daß er die ganze Schuld¬ summe hinterlege, damit sie sodann unter die Erben verteilt werde. Nun setze man aber den Fall, daß der Erblasser schon bei Lebzeiten, wie dies in klein¬ bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen üblich ist, sein Grundstück dem einen Sohn gegen das übliche Leibgedinge abgegeben und sein Restvermögen von 600 Mark diesem Sohne zur Verzinsung überlassen hat, sodann aber neben dem erwähnten Sohne noch einen andern Sohn als Erben hinterläßt. Der ganze Nachlaß besteht sonach aus den erwähnten 600 Mark, die der eine Miterbe dem Erb¬ lasser schuldete; anderweite Schulden haften auf dem Nachlaß uicht, ebensowenig bestehn Ausgleichungsansprüche des einen Erben gegen den andern, sodaß dem Erfolge nach der Schuldner 300 Mark als seinen Erbteil behält und 300 Mark an seinen Bruder zu zahlen hat. Nichtsdestoweniger hat dieser nach der oben besprochnen Regelung des Miterbenverhültnisses gegen den schuldnerischcn Mit¬ erben keinen Anspruch auf Zahlung von 300 Mark, wohl aber hat er einen Anspruch darauf, daß der Schuldner die ganzen 600 Mark für beide Erben hinterlege und in die Verteilung des Betrags willige, sodaß der Schuldner 300 Mark zurückbekömmt und der Miterbe im Teilungsversahren den gleichen Betrag erhält. Diese den abstrakten gesetzlichen Vorschriften entsprechende Regelung haben aber Rechtsprechung und Rechtslehre abgelehnt mit der Be¬ gründung: das Gesetz habe die Gebundenheit der Erdteile eingeführt, um Schädigungen der Miterben und der Nachlaßgläubiger zu vermeiden; in Fällen wie dem vorgedachten, wo solche Schädigungen gar nicht in Frage kommen, die Anteile am Nachlaß als Inbegriff in Wahrheit doch nur Anteile an den einzelnen Nachlaßforderungen sind, da wäre es eine reine Schikane, wenn sich der schuldnerische Erbe weigerte, dem Miterben den zahlenmüßigen Betrag an der Forderung auszuzahlen; und ebenso wäre es eine Schikane des Miterben, wenn er verlangte, daß der Nachlaßschuldner die ganze Summe hinterlege, obwohl er an ihr ebenso beteiligt ist wie der Miterbe. Das Gesetz kann, obwohl sein Wortlaut der freiern Ansicht anscheinend entgegensteht, die Zu¬ lassung arglistiger Ansprüche unmöglich gewollt haben. — Es gehört eben zu den Aufgaben der Praxis, das Gesetz zwar mit seinen Mängeln anzuwenden, es aber nach Möglichkeit den Anforderungen, die der Rechtsverkehr an das Gesetz stellt, anzupassen. Ein andrer Fall. Nach § 326 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann der Käufer dem Verkäufer, wenn dieser im Verzug ist, eine Nachfrist bestimmen und nach deren fruchtlosem Ablauf vom Vertrag zurücktreten oder Schaden¬ ersatz fordern. Gesetzt nun, ein Kaufmann habe bei der Fabrik Waren be¬ stellt, die ihm in bestimmten Terminen geliefert werden sollen; die ersten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/384
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/384>, abgerufen am 24.08.2024.