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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Junge Richter und junge Rechtsanwälte

Worden sind, dies alles sind nur vereinzelte Tatsachen, die zwar dankbar
anzuerkennen sind, die uns aber nicht abhalten können, immer von neuem
die Beseitigung des Juristcnprivilegs mit seinen Folgeerscheinungen stetig und
"ut Zähigkeit anzustreben. Darum -- fort mit dem juristischen Zopf! Freie
Bahn si'ir die Techniker!




Junge Richter und junge Rechtsanwälte
Lügen Josef i vonn
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as Gesetz muß klüger sein als seine Verfasser, es ordnet Ver¬
hältnisse, an die die Verfasser gar nicht gedacht haben, so be¬
merkt Ennius fein; und selbst der großartigste Bau von Gesetzes¬
recht ist umrankt von Rechtssätzen in weicherer Form, sagt der
^ berühmte Strafrechtslehrer Binding. Die Paragraphen des Ge¬
setzbuchs sind nach Kohler nur Ausdrucksmittel von Gedanken, die im Gesetzbuch
^oiglich ihren zeitweiligen Ausfluß haben. Das Recht ist, wie der geistvolle
Bähr bemerkt, nicht eine Sammlung von Vorschriften, nach denen jeder einzelne
Rechtsfall ungefähr so entschieden werden kann, wie der Stubenmaler mit einer
Schablone Figuren an die Wand malt. Noch keine Juristenkunst und keine
Menschliche Sprache haben es vermocht, ein das menschliche Bedürfnis be¬
friedigendes Recht dergestalt auf feste Regeln zurückzuführen, daß man mit
wichen mechanisch nur nach dem Buchstaben operieren könnte. Die Regeln,
w die unser Recht gefaßt ist, wollen oft nur den Rechtsgedanken, der einer
positiven Feststellung oder Begrenzung weder fähig noch bedürftig ist, aus¬
drücken; immer neue Regeln leiten sich ab als Folgerungen des Rechtsgedankens
u"d aus der Natur der Sache. Das Gesetzbuch ist nur eine Sammlung ein¬
gefangner Rechtsgedanken, die man in Paragraphen gesperrt hat. So hat
wem es denn auch stets als die Aufgabe der Rechtswissenschaft lind der Praxis
getrachtet, nicht mit dem Buchstaben der einzelnen Bestimmungen zu arbeiten,
ändern aus ihnen Rechtsgedanken herauszufinden.^ Dies soll an einigen Bei¬
spielen klargelegt werden.'

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch bildet der Nachlaß eine einheitliche
^asse, und es kann keiner der Miterben über seinen Anteil an den einzelnen
"chlaßgegenständen verfügen, insbesondre kann er nicht den seinem Erbarkeit
^sprechenden Betrag von Nachlaßforderungen einziehn. Denn die Miterben
omnem geschädigt werden, wenn ein Erbe, dessen wirklicher Anteil am Nachlaß
^'schöpft ist durch das. was er selbst zum Nachlaß schuldet, oder durch das.
Was er schon vom Erblasser vorausempfangen hat, dennoch den ihm rein



") Vgl. Grenzboten 190S, S. 530.
Junge Richter und junge Rechtsanwälte

Worden sind, dies alles sind nur vereinzelte Tatsachen, die zwar dankbar
anzuerkennen sind, die uns aber nicht abhalten können, immer von neuem
die Beseitigung des Juristcnprivilegs mit seinen Folgeerscheinungen stetig und
"ut Zähigkeit anzustreben. Darum — fort mit dem juristischen Zopf! Freie
Bahn si'ir die Techniker!




Junge Richter und junge Rechtsanwälte
Lügen Josef i vonn
2

as Gesetz muß klüger sein als seine Verfasser, es ordnet Ver¬
hältnisse, an die die Verfasser gar nicht gedacht haben, so be¬
merkt Ennius fein; und selbst der großartigste Bau von Gesetzes¬
recht ist umrankt von Rechtssätzen in weicherer Form, sagt der
^ berühmte Strafrechtslehrer Binding. Die Paragraphen des Ge¬
setzbuchs sind nach Kohler nur Ausdrucksmittel von Gedanken, die im Gesetzbuch
^oiglich ihren zeitweiligen Ausfluß haben. Das Recht ist, wie der geistvolle
Bähr bemerkt, nicht eine Sammlung von Vorschriften, nach denen jeder einzelne
Rechtsfall ungefähr so entschieden werden kann, wie der Stubenmaler mit einer
Schablone Figuren an die Wand malt. Noch keine Juristenkunst und keine
Menschliche Sprache haben es vermocht, ein das menschliche Bedürfnis be¬
friedigendes Recht dergestalt auf feste Regeln zurückzuführen, daß man mit
wichen mechanisch nur nach dem Buchstaben operieren könnte. Die Regeln,
w die unser Recht gefaßt ist, wollen oft nur den Rechtsgedanken, der einer
positiven Feststellung oder Begrenzung weder fähig noch bedürftig ist, aus¬
drücken; immer neue Regeln leiten sich ab als Folgerungen des Rechtsgedankens
u»d aus der Natur der Sache. Das Gesetzbuch ist nur eine Sammlung ein¬
gefangner Rechtsgedanken, die man in Paragraphen gesperrt hat. So hat
wem es denn auch stets als die Aufgabe der Rechtswissenschaft lind der Praxis
getrachtet, nicht mit dem Buchstaben der einzelnen Bestimmungen zu arbeiten,
ändern aus ihnen Rechtsgedanken herauszufinden.^ Dies soll an einigen Bei¬
spielen klargelegt werden.'

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch bildet der Nachlaß eine einheitliche
^asse, und es kann keiner der Miterben über seinen Anteil an den einzelnen
"chlaßgegenständen verfügen, insbesondre kann er nicht den seinem Erbarkeit
^sprechenden Betrag von Nachlaßforderungen einziehn. Denn die Miterben
omnem geschädigt werden, wenn ein Erbe, dessen wirklicher Anteil am Nachlaß
^'schöpft ist durch das. was er selbst zum Nachlaß schuldet, oder durch das.
Was er schon vom Erblasser vorausempfangen hat, dennoch den ihm rein



") Vgl. Grenzboten 190S, S. 530.
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[0383] Junge Richter und junge Rechtsanwälte Worden sind, dies alles sind nur vereinzelte Tatsachen, die zwar dankbar anzuerkennen sind, die uns aber nicht abhalten können, immer von neuem die Beseitigung des Juristcnprivilegs mit seinen Folgeerscheinungen stetig und "ut Zähigkeit anzustreben. Darum — fort mit dem juristischen Zopf! Freie Bahn si'ir die Techniker! Junge Richter und junge Rechtsanwälte Lügen Josef i vonn 2 as Gesetz muß klüger sein als seine Verfasser, es ordnet Ver¬ hältnisse, an die die Verfasser gar nicht gedacht haben, so be¬ merkt Ennius fein; und selbst der großartigste Bau von Gesetzes¬ recht ist umrankt von Rechtssätzen in weicherer Form, sagt der ^ berühmte Strafrechtslehrer Binding. Die Paragraphen des Ge¬ setzbuchs sind nach Kohler nur Ausdrucksmittel von Gedanken, die im Gesetzbuch ^oiglich ihren zeitweiligen Ausfluß haben. Das Recht ist, wie der geistvolle Bähr bemerkt, nicht eine Sammlung von Vorschriften, nach denen jeder einzelne Rechtsfall ungefähr so entschieden werden kann, wie der Stubenmaler mit einer Schablone Figuren an die Wand malt. Noch keine Juristenkunst und keine Menschliche Sprache haben es vermocht, ein das menschliche Bedürfnis be¬ friedigendes Recht dergestalt auf feste Regeln zurückzuführen, daß man mit wichen mechanisch nur nach dem Buchstaben operieren könnte. Die Regeln, w die unser Recht gefaßt ist, wollen oft nur den Rechtsgedanken, der einer positiven Feststellung oder Begrenzung weder fähig noch bedürftig ist, aus¬ drücken; immer neue Regeln leiten sich ab als Folgerungen des Rechtsgedankens u»d aus der Natur der Sache. Das Gesetzbuch ist nur eine Sammlung ein¬ gefangner Rechtsgedanken, die man in Paragraphen gesperrt hat. So hat wem es denn auch stets als die Aufgabe der Rechtswissenschaft lind der Praxis getrachtet, nicht mit dem Buchstaben der einzelnen Bestimmungen zu arbeiten, ändern aus ihnen Rechtsgedanken herauszufinden.^ Dies soll an einigen Bei¬ spielen klargelegt werden.' Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch bildet der Nachlaß eine einheitliche ^asse, und es kann keiner der Miterben über seinen Anteil an den einzelnen "chlaßgegenständen verfügen, insbesondre kann er nicht den seinem Erbarkeit ^sprechenden Betrag von Nachlaßforderungen einziehn. Denn die Miterben omnem geschädigt werden, wenn ein Erbe, dessen wirklicher Anteil am Nachlaß ^'schöpft ist durch das. was er selbst zum Nachlaß schuldet, oder durch das. Was er schon vom Erblasser vorausempfangen hat, dennoch den ihm rein ") Vgl. Grenzboten 190S, S. 530.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/383>, abgerufen am 22.07.2024.