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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Die Ziele und Aussichten der Gartenstadtbewegung

haben alle Bestrebungen, das Kulturniveau der arbeitenden Bevölkerung zu
heben, zugleich einen großen volkswirtschaftlichen Wert. In dieser Richtung
aber wird die Gartenstadt große Bedeutuug gewinnen. Schon die ganze An¬
lage, das künstlerisch wertvolle Milieu schafft den günstigsten Boden für
mannigfache Kulturbcstrebungen. Und da durch die genossenschaftliche Regelung
der Wohnungs- und Vodenfrage schon von vornherein eine starke materielle
Interessengemeinschaft gegeben ist, so wird sich auf dieser Grundlage auch die
ideelle Interessengemeinschaft, die gemeinsame Arbeit an Kultnraufgaben günstig
entwickeln können.

Bei der Beurteilung dieser Aussichten tun wir gut, uns der mittelalter¬
lichen Städte zu erinnern. Obgleich keine dieser Städte mehr als 25000 Ein¬
wohner zählte, sie alle also nach unsern Begriffen zu den Kleinstädter gehörten,
haben sie doch vermöge ihres engen genossenschaftlichen Zusammenschlusses und
ihres hoch entwickelten Gemeinsinns eine solche Fülle der herrlichsten Kunst¬
schöpfungen hinterlassen, daß unsre modernen Riesenstädte ihnen nur wenig
ebenbürtiges an die Seite stellen können.

Aber halten wir uns nicht zu lange bei den Möglichkeiten ans und sehen
wir lieber die Wirklichkeiten an, die durch die Gartenstadtbewegung schon ge¬
schaffen sind. Im Jahre 1898 erschien in England ein Buch Hg,rc1"zii Miss
ok t-o-inorrov von Ebenezer Howards^), in dem ausführliche Vorschläge für
die Gründung von Gartenstädten gemacht wurden. Bald nach Erscheinen des
Buches wurde die Og.rcIsii On^ ^ssoomtion gegründet, die sich die Verbreitung
und Verwirklichung dieser Ziele zur Aufgabe machte, und nach kurzer Prv-
pagandazeit konnte man an die Gründung der ersten Gartenstadt, Letchworth
mit Namen, herantreten. 50 Kilometer nordwärts von London wurde ein
landschaftlich reizvolles Gelände von 1600 Hektar erworben. Die Gründungs¬
gesellschaft ?irst> (ZÄi'äeu On^ I^im. zahlte dafür 3 Millionen Mark. Das
Kapital (6 Millionen Mark) wird durch Ausgabe von Aktien im Werte von
20 und 100 Mark aufgebracht, deren Dividende auf 5 Prozent beschränkt ist.
Durch ein öffentliches Preisausschreiben hat man einen guten Bebannngsplmi
erlangt. Danach sollen zwei Drittel der Fläche dauernd als Acker- und Garten¬
baugürtel erhalten bleiben. Die eigentliche Stadt soll mit ihren öffentlichen
und privaten Gärten nur ein Drittel in Anspruch nehmen. Das Fabrikviertel
hat Anschlußgleise zum Güterbahnhof und liegt an der Ostseite, sodaß die
herrschenden Westwinde den Rauch von der Stadt wegführen. Die benach¬
barten Kleinwohnungsviertel sind durch einen breiten Parkgürtel von den
Fabriken getrennt.

Seit Beginn der Bautätigkeit sind kaum drei Jahre verstrichen, und schon
sind mehr als 5000 Menschen in Einfamilienhäusern untergebracht und zahlreiche



*) Vor kurzem ist eine deutsche Übersetzung: "Gartenstädte in Sicht" bei E. Diederichs,
Jena, erschienen.
Die Ziele und Aussichten der Gartenstadtbewegung

haben alle Bestrebungen, das Kulturniveau der arbeitenden Bevölkerung zu
heben, zugleich einen großen volkswirtschaftlichen Wert. In dieser Richtung
aber wird die Gartenstadt große Bedeutuug gewinnen. Schon die ganze An¬
lage, das künstlerisch wertvolle Milieu schafft den günstigsten Boden für
mannigfache Kulturbcstrebungen. Und da durch die genossenschaftliche Regelung
der Wohnungs- und Vodenfrage schon von vornherein eine starke materielle
Interessengemeinschaft gegeben ist, so wird sich auf dieser Grundlage auch die
ideelle Interessengemeinschaft, die gemeinsame Arbeit an Kultnraufgaben günstig
entwickeln können.

Bei der Beurteilung dieser Aussichten tun wir gut, uns der mittelalter¬
lichen Städte zu erinnern. Obgleich keine dieser Städte mehr als 25000 Ein¬
wohner zählte, sie alle also nach unsern Begriffen zu den Kleinstädter gehörten,
haben sie doch vermöge ihres engen genossenschaftlichen Zusammenschlusses und
ihres hoch entwickelten Gemeinsinns eine solche Fülle der herrlichsten Kunst¬
schöpfungen hinterlassen, daß unsre modernen Riesenstädte ihnen nur wenig
ebenbürtiges an die Seite stellen können.

Aber halten wir uns nicht zu lange bei den Möglichkeiten ans und sehen
wir lieber die Wirklichkeiten an, die durch die Gartenstadtbewegung schon ge¬
schaffen sind. Im Jahre 1898 erschien in England ein Buch Hg,rc1«zii Miss
ok t-o-inorrov von Ebenezer Howards^), in dem ausführliche Vorschläge für
die Gründung von Gartenstädten gemacht wurden. Bald nach Erscheinen des
Buches wurde die Og.rcIsii On^ ^ssoomtion gegründet, die sich die Verbreitung
und Verwirklichung dieser Ziele zur Aufgabe machte, und nach kurzer Prv-
pagandazeit konnte man an die Gründung der ersten Gartenstadt, Letchworth
mit Namen, herantreten. 50 Kilometer nordwärts von London wurde ein
landschaftlich reizvolles Gelände von 1600 Hektar erworben. Die Gründungs¬
gesellschaft ?irst> (ZÄi'äeu On^ I^im. zahlte dafür 3 Millionen Mark. Das
Kapital (6 Millionen Mark) wird durch Ausgabe von Aktien im Werte von
20 und 100 Mark aufgebracht, deren Dividende auf 5 Prozent beschränkt ist.
Durch ein öffentliches Preisausschreiben hat man einen guten Bebannngsplmi
erlangt. Danach sollen zwei Drittel der Fläche dauernd als Acker- und Garten¬
baugürtel erhalten bleiben. Die eigentliche Stadt soll mit ihren öffentlichen
und privaten Gärten nur ein Drittel in Anspruch nehmen. Das Fabrikviertel
hat Anschlußgleise zum Güterbahnhof und liegt an der Ostseite, sodaß die
herrschenden Westwinde den Rauch von der Stadt wegführen. Die benach¬
barten Kleinwohnungsviertel sind durch einen breiten Parkgürtel von den
Fabriken getrennt.

Seit Beginn der Bautätigkeit sind kaum drei Jahre verstrichen, und schon
sind mehr als 5000 Menschen in Einfamilienhäusern untergebracht und zahlreiche



*) Vor kurzem ist eine deutsche Übersetzung: „Gartenstädte in Sicht" bei E. Diederichs,
Jena, erschienen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/244>, abgerufen am 22.07.2024.