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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

durch die Gesetzgebung, namentlich durch die Sozialgesetzgebung, und durch eine
vielfach noch gesunde soziale Schichtung eingedämmt worden. Aber in dem
Lande der unbegrenzten Möglichkeiten sieht es bedenklich aus. Die Vereinigten
Staaten können so genannt werden, weil einer aus europäischen Auswandrern
und Nachkommen von solchen, also einem ganz besonders energischen und unter¬
nehmungslustigen Menschenschlage bestehenden Bevölkerung freies Land im
Überfluß und unberechenbare Massen ungehobner Bodenschätze zur Verfügung
stehn. Aber trotzdem daß dort noch Millionen Quadratkilometer Land nach
Bedauern verlangen, hat die letzte Krisis Hunderttausende von Arbeitern aufs
Pflaster geworfen, sodaß sie zu Tausenden nach dem "übervölkerten" Europa
zurückgeströmt sind. Und diese Republik, die sich die am meisten demokratische
zu sein rühmt, in der jeder Straßenkehrer auf seine Souveränitätspartikel stolz
ist, scheint politisch wie wirtschaftlich ganz und gar der Gewaltherrschaft eines
Konsortiums oder einiger Konsortien von Trustmagnaten verfallen zu sein, die
vom Volke eine Räuberbande gescholten, vom Präsidenten als solche charak¬
terisiert werden, und von deren geschäftlichem und gesellschaftlichen Treiben in
Zeitungen und Romanen die abscheulichsten Dinge erzählt werden. Zum Teil
entspringen diese Übelstünde nicht sowohl dem Kapitalismus als der mit diesem
nicht identischen aber engverketteten Industrialisierung, die namentlich den Eng¬
ländern trotz der weit größern Solidität ihres Staatsbaus bange macht. Bei
uns ist auch die Industrialisierung eingeschränkt worden, besonders durch das
Erstarken der Landwirtschaft, hauptsächlich der Bauernschaft. Dieses wird nun
zwar zum Teil durchaus einwandfreien Mitteln verdankt wie dem auch das
Kleingewerbe stützenden Genosseuschciftswesen, zum andern Teile aber dem
Schutzzoll, der sich auf die Dauer wahrscheinlich nicht wird aufrechterhalten
lassen. Daß aber trotz der verhältnismüßig noch gesunden Struktur unsers
Sozialkörpers die unaufhaltsam fortschreitende Industrialisierung auch bei uns
bedenkliche Erscheinungen von vielerlei Art hervorruft, die als allgemein be¬
kannt nicht aufgezählt zu werden brauchen, beweisen die unaufhörlichen Klagen
darüber.

Wolfs neustes Werk nun heißt Nationalökonomie als exakte Wissen¬
schaft. Ein Grundriß. (Leipzig, A. Deichert Nachf., 1908.) Zur Einführung
in die Volkswirtschaftslehre und zum Selbststudium eignet es sich nicht; denn
es besteht aus aneinandergereihten Thesen, die ihrer prügnanten, dnrch häufige
Einschachtellingen erreichten Kürze wegen an sich schwer verständlich sind und
die dazu der Beweise, der erläuternden Ausführungen und Beispiele ermangeln.
Der Verfasser kann nur zwei Klassen von Benutzern im Ange gehabt haben:
seine Zuhörer, denen im Kolleg die Thesen erklärt werden, und seine Fach¬
genossen, die daran ihre eignen Ansichten revidieren sollen. In doppelter Be¬
ziehung glaubt er diesen Neues zu bieten, stofflich lind methodisch. Er ver¬
zeichnet, zur Orientierung seiner Leser und um sich die Priorität zu wahren,
67 Neuschöpfungen. Ob und wie weit sie das sind, mögen die Fachautoritäten


Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

durch die Gesetzgebung, namentlich durch die Sozialgesetzgebung, und durch eine
vielfach noch gesunde soziale Schichtung eingedämmt worden. Aber in dem
Lande der unbegrenzten Möglichkeiten sieht es bedenklich aus. Die Vereinigten
Staaten können so genannt werden, weil einer aus europäischen Auswandrern
und Nachkommen von solchen, also einem ganz besonders energischen und unter¬
nehmungslustigen Menschenschlage bestehenden Bevölkerung freies Land im
Überfluß und unberechenbare Massen ungehobner Bodenschätze zur Verfügung
stehn. Aber trotzdem daß dort noch Millionen Quadratkilometer Land nach
Bedauern verlangen, hat die letzte Krisis Hunderttausende von Arbeitern aufs
Pflaster geworfen, sodaß sie zu Tausenden nach dem „übervölkerten" Europa
zurückgeströmt sind. Und diese Republik, die sich die am meisten demokratische
zu sein rühmt, in der jeder Straßenkehrer auf seine Souveränitätspartikel stolz
ist, scheint politisch wie wirtschaftlich ganz und gar der Gewaltherrschaft eines
Konsortiums oder einiger Konsortien von Trustmagnaten verfallen zu sein, die
vom Volke eine Räuberbande gescholten, vom Präsidenten als solche charak¬
terisiert werden, und von deren geschäftlichem und gesellschaftlichen Treiben in
Zeitungen und Romanen die abscheulichsten Dinge erzählt werden. Zum Teil
entspringen diese Übelstünde nicht sowohl dem Kapitalismus als der mit diesem
nicht identischen aber engverketteten Industrialisierung, die namentlich den Eng¬
ländern trotz der weit größern Solidität ihres Staatsbaus bange macht. Bei
uns ist auch die Industrialisierung eingeschränkt worden, besonders durch das
Erstarken der Landwirtschaft, hauptsächlich der Bauernschaft. Dieses wird nun
zwar zum Teil durchaus einwandfreien Mitteln verdankt wie dem auch das
Kleingewerbe stützenden Genosseuschciftswesen, zum andern Teile aber dem
Schutzzoll, der sich auf die Dauer wahrscheinlich nicht wird aufrechterhalten
lassen. Daß aber trotz der verhältnismüßig noch gesunden Struktur unsers
Sozialkörpers die unaufhaltsam fortschreitende Industrialisierung auch bei uns
bedenkliche Erscheinungen von vielerlei Art hervorruft, die als allgemein be¬
kannt nicht aufgezählt zu werden brauchen, beweisen die unaufhörlichen Klagen
darüber.

Wolfs neustes Werk nun heißt Nationalökonomie als exakte Wissen¬
schaft. Ein Grundriß. (Leipzig, A. Deichert Nachf., 1908.) Zur Einführung
in die Volkswirtschaftslehre und zum Selbststudium eignet es sich nicht; denn
es besteht aus aneinandergereihten Thesen, die ihrer prügnanten, dnrch häufige
Einschachtellingen erreichten Kürze wegen an sich schwer verständlich sind und
die dazu der Beweise, der erläuternden Ausführungen und Beispiele ermangeln.
Der Verfasser kann nur zwei Klassen von Benutzern im Ange gehabt haben:
seine Zuhörer, denen im Kolleg die Thesen erklärt werden, und seine Fach¬
genossen, die daran ihre eignen Ansichten revidieren sollen. In doppelter Be¬
ziehung glaubt er diesen Neues zu bieten, stofflich lind methodisch. Er ver¬
zeichnet, zur Orientierung seiner Leser und um sich die Priorität zu wahren,
67 Neuschöpfungen. Ob und wie weit sie das sind, mögen die Fachautoritäten


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[0232] Julius Wolfs exakte Nationalökonomie durch die Gesetzgebung, namentlich durch die Sozialgesetzgebung, und durch eine vielfach noch gesunde soziale Schichtung eingedämmt worden. Aber in dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten sieht es bedenklich aus. Die Vereinigten Staaten können so genannt werden, weil einer aus europäischen Auswandrern und Nachkommen von solchen, also einem ganz besonders energischen und unter¬ nehmungslustigen Menschenschlage bestehenden Bevölkerung freies Land im Überfluß und unberechenbare Massen ungehobner Bodenschätze zur Verfügung stehn. Aber trotzdem daß dort noch Millionen Quadratkilometer Land nach Bedauern verlangen, hat die letzte Krisis Hunderttausende von Arbeitern aufs Pflaster geworfen, sodaß sie zu Tausenden nach dem „übervölkerten" Europa zurückgeströmt sind. Und diese Republik, die sich die am meisten demokratische zu sein rühmt, in der jeder Straßenkehrer auf seine Souveränitätspartikel stolz ist, scheint politisch wie wirtschaftlich ganz und gar der Gewaltherrschaft eines Konsortiums oder einiger Konsortien von Trustmagnaten verfallen zu sein, die vom Volke eine Räuberbande gescholten, vom Präsidenten als solche charak¬ terisiert werden, und von deren geschäftlichem und gesellschaftlichen Treiben in Zeitungen und Romanen die abscheulichsten Dinge erzählt werden. Zum Teil entspringen diese Übelstünde nicht sowohl dem Kapitalismus als der mit diesem nicht identischen aber engverketteten Industrialisierung, die namentlich den Eng¬ ländern trotz der weit größern Solidität ihres Staatsbaus bange macht. Bei uns ist auch die Industrialisierung eingeschränkt worden, besonders durch das Erstarken der Landwirtschaft, hauptsächlich der Bauernschaft. Dieses wird nun zwar zum Teil durchaus einwandfreien Mitteln verdankt wie dem auch das Kleingewerbe stützenden Genosseuschciftswesen, zum andern Teile aber dem Schutzzoll, der sich auf die Dauer wahrscheinlich nicht wird aufrechterhalten lassen. Daß aber trotz der verhältnismüßig noch gesunden Struktur unsers Sozialkörpers die unaufhaltsam fortschreitende Industrialisierung auch bei uns bedenkliche Erscheinungen von vielerlei Art hervorruft, die als allgemein be¬ kannt nicht aufgezählt zu werden brauchen, beweisen die unaufhörlichen Klagen darüber. Wolfs neustes Werk nun heißt Nationalökonomie als exakte Wissen¬ schaft. Ein Grundriß. (Leipzig, A. Deichert Nachf., 1908.) Zur Einführung in die Volkswirtschaftslehre und zum Selbststudium eignet es sich nicht; denn es besteht aus aneinandergereihten Thesen, die ihrer prügnanten, dnrch häufige Einschachtellingen erreichten Kürze wegen an sich schwer verständlich sind und die dazu der Beweise, der erläuternden Ausführungen und Beispiele ermangeln. Der Verfasser kann nur zwei Klassen von Benutzern im Ange gehabt haben: seine Zuhörer, denen im Kolleg die Thesen erklärt werden, und seine Fach¬ genossen, die daran ihre eignen Ansichten revidieren sollen. In doppelter Be¬ ziehung glaubt er diesen Neues zu bieten, stofflich lind methodisch. Er ver¬ zeichnet, zur Orientierung seiner Leser und um sich die Priorität zu wahren, 67 Neuschöpfungen. Ob und wie weit sie das sind, mögen die Fachautoritäten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/232>, abgerufen am 22.07.2024.