Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

mir damals unwissentlich erwiesen hat, meinen Dank abzustatten. In einem
wesentlichen Punkte hat er damals gegen mich Recht behalten. Unter dem
Eindruck der Depression, an der wir seit 1873 litten (die Zahl der Arbeits¬
losen war sehr groß, und in Berlin standen 40000 Wohnungen leer) und der
Klagen der Landwirte faßte ich mit vielen andern die Lage pessimistisch aus.
Nicht etwa, daß ich an den Marx-Bebelschen Kladderadatsch und den von beiden
Prophezeiten Umschlag des Kapitalismus in den Kommunismus geglaubt hätte --
diese Phantasien habe ich ausführlich widerlegt, aber ich meinte, der scheinbar
zunehmenden Arbeitslosigkeit und Verarmung der Massen könne nur durch
eine schleunigst einzuleitende Kolonialpolitik in großem Stile gesteuert werden.
Sie ist auch ohne eine solche (denn unsre überseeischen Kolonien haben bis
jetzt nur gekostet, nichts gebracht) einem erstaunlichen Aufschwung gewichen,
sodaß in den letzten Jahren nicht allein die Landwirtschaft, sondern auch die
Industrie über Arbeitermangel zu klagen hatte. Die Steigerung der land¬
wirtschaftlichen Produktion und die Möglichkeit, importierte Nahrungsmittel
zu bezahlen, haben unser Volk ausreichend mit Brot versorgt. Diese Mög¬
lichkeit entsprang der andern, alle Hände ausreichend zu beschäftigen und höher
als bisher zu bezahlen, weil einerseits die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung
gestiegen, andrerseits die Lage der Industriearbeiter durch die Sozialpolitik der
Negierung und durch die erkämpften Lohnerhöhungen verbessert worden war.
(Das läßt, wie wir sehen werden, Wolf als eine Ursache der Hochkonjunktur
nicht gelten.) Neben dem Unentbehrlichen vermag die Bevölkerung bis in
ihre untersten Schichten auch mancherlei wohlfeilen Luxus zu bezahlen, nicht
bloß privaten wie Zigarren, Photographien und Ansichtskarten, sondern auch
öffentlichen wie den Verkehrs- und Beleuchtungsluxus (sowohl die Verkehrs¬
mittel -- man denke an Bergbahnen und Autos -- wie die Beleuchtung gehn
weit über das Bedürfnis hinaus), und dieser Luxus selbst beschäftigt Millionen
Hände, während die in erstaunlichem Tempo vorwärts stürmende Technik für
immer neue Arten von Luxusgütern und durch ihre stete Verbilligung für
Massenverbreitung sorgt. Zudem fordert das Wettrüsten der Staaten immer
mehr Materialien und Arbeit. Wie diese und andre Ursachen ineinander¬
greifen, genau zu ermitteln, wird wohl auch dem virtuosesten Anatomen und
Physiologen des Gesellschaftskörpers nicht gelingen, aber ohne feine, ja ohne
alle Analyse vermögen wir zu erkennen, daß alle diese Ursachen Symptome
der Gesundheit und einer Vertrauen in die Zukunft erweckenden physischen,
ethischen und intellektuellen Kraft des deutschen Volkes sind.

Trotzdem so meine damalige Voraussicht zuschanden geworden ist, halte
ich die in meinem Buche angestellten grundsätzlichen Erwägungen für richtig
und glaube, daß sie auch heute noch Beachtung verdienen und in alle Zukunft
verdienen werden. Denn diese Zukunft ist hoffentlich noch lang und wird noch
manchen Wandel bringen. In Deutschland ist der Kapitalismus (ein Wort,
mit dem ich selbstverständlich nicht etwa das Privateigentum an Kapital meine)


Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

mir damals unwissentlich erwiesen hat, meinen Dank abzustatten. In einem
wesentlichen Punkte hat er damals gegen mich Recht behalten. Unter dem
Eindruck der Depression, an der wir seit 1873 litten (die Zahl der Arbeits¬
losen war sehr groß, und in Berlin standen 40000 Wohnungen leer) und der
Klagen der Landwirte faßte ich mit vielen andern die Lage pessimistisch aus.
Nicht etwa, daß ich an den Marx-Bebelschen Kladderadatsch und den von beiden
Prophezeiten Umschlag des Kapitalismus in den Kommunismus geglaubt hätte —
diese Phantasien habe ich ausführlich widerlegt, aber ich meinte, der scheinbar
zunehmenden Arbeitslosigkeit und Verarmung der Massen könne nur durch
eine schleunigst einzuleitende Kolonialpolitik in großem Stile gesteuert werden.
Sie ist auch ohne eine solche (denn unsre überseeischen Kolonien haben bis
jetzt nur gekostet, nichts gebracht) einem erstaunlichen Aufschwung gewichen,
sodaß in den letzten Jahren nicht allein die Landwirtschaft, sondern auch die
Industrie über Arbeitermangel zu klagen hatte. Die Steigerung der land¬
wirtschaftlichen Produktion und die Möglichkeit, importierte Nahrungsmittel
zu bezahlen, haben unser Volk ausreichend mit Brot versorgt. Diese Mög¬
lichkeit entsprang der andern, alle Hände ausreichend zu beschäftigen und höher
als bisher zu bezahlen, weil einerseits die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung
gestiegen, andrerseits die Lage der Industriearbeiter durch die Sozialpolitik der
Negierung und durch die erkämpften Lohnerhöhungen verbessert worden war.
(Das läßt, wie wir sehen werden, Wolf als eine Ursache der Hochkonjunktur
nicht gelten.) Neben dem Unentbehrlichen vermag die Bevölkerung bis in
ihre untersten Schichten auch mancherlei wohlfeilen Luxus zu bezahlen, nicht
bloß privaten wie Zigarren, Photographien und Ansichtskarten, sondern auch
öffentlichen wie den Verkehrs- und Beleuchtungsluxus (sowohl die Verkehrs¬
mittel — man denke an Bergbahnen und Autos — wie die Beleuchtung gehn
weit über das Bedürfnis hinaus), und dieser Luxus selbst beschäftigt Millionen
Hände, während die in erstaunlichem Tempo vorwärts stürmende Technik für
immer neue Arten von Luxusgütern und durch ihre stete Verbilligung für
Massenverbreitung sorgt. Zudem fordert das Wettrüsten der Staaten immer
mehr Materialien und Arbeit. Wie diese und andre Ursachen ineinander¬
greifen, genau zu ermitteln, wird wohl auch dem virtuosesten Anatomen und
Physiologen des Gesellschaftskörpers nicht gelingen, aber ohne feine, ja ohne
alle Analyse vermögen wir zu erkennen, daß alle diese Ursachen Symptome
der Gesundheit und einer Vertrauen in die Zukunft erweckenden physischen,
ethischen und intellektuellen Kraft des deutschen Volkes sind.

Trotzdem so meine damalige Voraussicht zuschanden geworden ist, halte
ich die in meinem Buche angestellten grundsätzlichen Erwägungen für richtig
und glaube, daß sie auch heute noch Beachtung verdienen und in alle Zukunft
verdienen werden. Denn diese Zukunft ist hoffentlich noch lang und wird noch
manchen Wandel bringen. In Deutschland ist der Kapitalismus (ein Wort,
mit dem ich selbstverständlich nicht etwa das Privateigentum an Kapital meine)


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0231" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310642"/>
          <fw type="header" place="top"> Julius Wolfs exakte Nationalökonomie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1176" prev="#ID_1175"> mir damals unwissentlich erwiesen hat, meinen Dank abzustatten. In einem<lb/>
wesentlichen Punkte hat er damals gegen mich Recht behalten. Unter dem<lb/>
Eindruck der Depression, an der wir seit 1873 litten (die Zahl der Arbeits¬<lb/>
losen war sehr groß, und in Berlin standen 40000 Wohnungen leer) und der<lb/>
Klagen der Landwirte faßte ich mit vielen andern die Lage pessimistisch aus.<lb/>
Nicht etwa, daß ich an den Marx-Bebelschen Kladderadatsch und den von beiden<lb/>
Prophezeiten Umschlag des Kapitalismus in den Kommunismus geglaubt hätte &#x2014;<lb/>
diese Phantasien habe ich ausführlich widerlegt, aber ich meinte, der scheinbar<lb/>
zunehmenden Arbeitslosigkeit und Verarmung der Massen könne nur durch<lb/>
eine schleunigst einzuleitende Kolonialpolitik in großem Stile gesteuert werden.<lb/>
Sie ist auch ohne eine solche (denn unsre überseeischen Kolonien haben bis<lb/>
jetzt nur gekostet, nichts gebracht) einem erstaunlichen Aufschwung gewichen,<lb/>
sodaß in den letzten Jahren nicht allein die Landwirtschaft, sondern auch die<lb/>
Industrie über Arbeitermangel zu klagen hatte. Die Steigerung der land¬<lb/>
wirtschaftlichen Produktion und die Möglichkeit, importierte Nahrungsmittel<lb/>
zu bezahlen, haben unser Volk ausreichend mit Brot versorgt. Diese Mög¬<lb/>
lichkeit entsprang der andern, alle Hände ausreichend zu beschäftigen und höher<lb/>
als bisher zu bezahlen, weil einerseits die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung<lb/>
gestiegen, andrerseits die Lage der Industriearbeiter durch die Sozialpolitik der<lb/>
Negierung und durch die erkämpften Lohnerhöhungen verbessert worden war.<lb/>
(Das läßt, wie wir sehen werden, Wolf als eine Ursache der Hochkonjunktur<lb/>
nicht gelten.) Neben dem Unentbehrlichen vermag die Bevölkerung bis in<lb/>
ihre untersten Schichten auch mancherlei wohlfeilen Luxus zu bezahlen, nicht<lb/>
bloß privaten wie Zigarren, Photographien und Ansichtskarten, sondern auch<lb/>
öffentlichen wie den Verkehrs- und Beleuchtungsluxus (sowohl die Verkehrs¬<lb/>
mittel &#x2014; man denke an Bergbahnen und Autos &#x2014; wie die Beleuchtung gehn<lb/>
weit über das Bedürfnis hinaus), und dieser Luxus selbst beschäftigt Millionen<lb/>
Hände, während die in erstaunlichem Tempo vorwärts stürmende Technik für<lb/>
immer neue Arten von Luxusgütern und durch ihre stete Verbilligung für<lb/>
Massenverbreitung sorgt. Zudem fordert das Wettrüsten der Staaten immer<lb/>
mehr Materialien und Arbeit. Wie diese und andre Ursachen ineinander¬<lb/>
greifen, genau zu ermitteln, wird wohl auch dem virtuosesten Anatomen und<lb/>
Physiologen des Gesellschaftskörpers nicht gelingen, aber ohne feine, ja ohne<lb/>
alle Analyse vermögen wir zu erkennen, daß alle diese Ursachen Symptome<lb/>
der Gesundheit und einer Vertrauen in die Zukunft erweckenden physischen,<lb/>
ethischen und intellektuellen Kraft des deutschen Volkes sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1177" next="#ID_1178"> Trotzdem so meine damalige Voraussicht zuschanden geworden ist, halte<lb/>
ich die in meinem Buche angestellten grundsätzlichen Erwägungen für richtig<lb/>
und glaube, daß sie auch heute noch Beachtung verdienen und in alle Zukunft<lb/>
verdienen werden. Denn diese Zukunft ist hoffentlich noch lang und wird noch<lb/>
manchen Wandel bringen. In Deutschland ist der Kapitalismus (ein Wort,<lb/>
mit dem ich selbstverständlich nicht etwa das Privateigentum an Kapital meine)</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0231] Julius Wolfs exakte Nationalökonomie mir damals unwissentlich erwiesen hat, meinen Dank abzustatten. In einem wesentlichen Punkte hat er damals gegen mich Recht behalten. Unter dem Eindruck der Depression, an der wir seit 1873 litten (die Zahl der Arbeits¬ losen war sehr groß, und in Berlin standen 40000 Wohnungen leer) und der Klagen der Landwirte faßte ich mit vielen andern die Lage pessimistisch aus. Nicht etwa, daß ich an den Marx-Bebelschen Kladderadatsch und den von beiden Prophezeiten Umschlag des Kapitalismus in den Kommunismus geglaubt hätte — diese Phantasien habe ich ausführlich widerlegt, aber ich meinte, der scheinbar zunehmenden Arbeitslosigkeit und Verarmung der Massen könne nur durch eine schleunigst einzuleitende Kolonialpolitik in großem Stile gesteuert werden. Sie ist auch ohne eine solche (denn unsre überseeischen Kolonien haben bis jetzt nur gekostet, nichts gebracht) einem erstaunlichen Aufschwung gewichen, sodaß in den letzten Jahren nicht allein die Landwirtschaft, sondern auch die Industrie über Arbeitermangel zu klagen hatte. Die Steigerung der land¬ wirtschaftlichen Produktion und die Möglichkeit, importierte Nahrungsmittel zu bezahlen, haben unser Volk ausreichend mit Brot versorgt. Diese Mög¬ lichkeit entsprang der andern, alle Hände ausreichend zu beschäftigen und höher als bisher zu bezahlen, weil einerseits die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung gestiegen, andrerseits die Lage der Industriearbeiter durch die Sozialpolitik der Negierung und durch die erkämpften Lohnerhöhungen verbessert worden war. (Das läßt, wie wir sehen werden, Wolf als eine Ursache der Hochkonjunktur nicht gelten.) Neben dem Unentbehrlichen vermag die Bevölkerung bis in ihre untersten Schichten auch mancherlei wohlfeilen Luxus zu bezahlen, nicht bloß privaten wie Zigarren, Photographien und Ansichtskarten, sondern auch öffentlichen wie den Verkehrs- und Beleuchtungsluxus (sowohl die Verkehrs¬ mittel — man denke an Bergbahnen und Autos — wie die Beleuchtung gehn weit über das Bedürfnis hinaus), und dieser Luxus selbst beschäftigt Millionen Hände, während die in erstaunlichem Tempo vorwärts stürmende Technik für immer neue Arten von Luxusgütern und durch ihre stete Verbilligung für Massenverbreitung sorgt. Zudem fordert das Wettrüsten der Staaten immer mehr Materialien und Arbeit. Wie diese und andre Ursachen ineinander¬ greifen, genau zu ermitteln, wird wohl auch dem virtuosesten Anatomen und Physiologen des Gesellschaftskörpers nicht gelingen, aber ohne feine, ja ohne alle Analyse vermögen wir zu erkennen, daß alle diese Ursachen Symptome der Gesundheit und einer Vertrauen in die Zukunft erweckenden physischen, ethischen und intellektuellen Kraft des deutschen Volkes sind. Trotzdem so meine damalige Voraussicht zuschanden geworden ist, halte ich die in meinem Buche angestellten grundsätzlichen Erwägungen für richtig und glaube, daß sie auch heute noch Beachtung verdienen und in alle Zukunft verdienen werden. Denn diese Zukunft ist hoffentlich noch lang und wird noch manchen Wandel bringen. In Deutschland ist der Kapitalismus (ein Wort, mit dem ich selbstverständlich nicht etwa das Privateigentum an Kapital meine)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/231
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/231>, abgerufen am 24.08.2024.