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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Neue Lyrik

Hausagrarier nach besondern "Mietgerichten", deren Beisitzer teils Mieter teils
Vermieter sind, nicht ungehört verhallen. Dann wird man sich aber auch in
Berücksichtigung der unglücklichen Lage der unehelichen Kinder, deren Rechts¬
streitigkeiten doch wahrlich der Beschleunigung und verständigen Behandlung
bedürfen, zur Einführung von "Schwängerungsgerichten" entschließen müssen;
die Schwierigkeiten der Besetzung dieser Sondergerichte werden gar nicht un¬
überwindlich sein.




Neue Lyrik

i ährend sich in den letzten Jahrzehnten unsrer literarischen Ent¬
wicklung der Schwerpunkt dramatischer und epischer Produktion
mehr und mehr vom Westen nach dem Osten, vom Süden nach
dem Norden verschob, und Talente von der Ostseite der Oder
!und der Weichsel immer häufiger mit berechtigtem Erfolge auf¬
traten, fehlte jenen Gauen kolonialer, sich in hartem Kampfe immer neu be¬
hauptender Kultur fast völlig das eigentliche Lied. Die Lyrik schien -- darüber
konnten auch die stilistischen Bemühungen des einst so jugendlichen und frischen
Arno Holz nicht hinwegtäuschen -- ein Besitz andrer Landschaften zu sein.
Erst in den letzten Jahren erklang auch in Ostpreußen ein neuer Ton, und
jetzt hat die Provinz zwei junge Lyriker von seltner Eigenart, ganz eigner
Physiognomie und nicht mehr zu übergehender Bedeutung. Die junge Dichterin
Agnes Miegel hat zuerst im Jahre 1902 Gedichte erscheinen und diesen jetzt
(bei Eugen Diederichs in Jena) "Balladen und Lieder" folgen lassen. In
den Balladen klingt auch hier etwas durch, was ich als die Göttinger Weise
bezeichnen möchte, jener gleich in die Mitte der Dinge führende Ton gehobner
Rhythmik, den der Dichterkreis des neuen Göttinger Musenalmanachs unter
Münchhausens Führung und zum Teil auf seinen Spuren erneut hat. Der
eigentliche Ahne dieses Balladenstils ist der Graf Moritz Strachwitz, und nicht
Fontane, des Grafen lebenslänglicher Verehrer, ist sein eigentlicher Nachfolger;
dazu war Fontane zu sehr, wie ers selber wußte, ein Freund des Kleinen.
Diese junge Generation aber geht in den Spuren Strachwitzens. Auch die
neuen Balladen von Agnes Miegel bezeugen das, vertiefen aber die Natur¬
stimmung stärker, hierin von Storm geschult, der ja überhaupt der einflu߬
reichste ältere Lyriker für das junge Geschlecht ist. So eint sich die fort¬
reißende Gewalt der Handlung mit dem alles umwebenden Zauber der
Stimmung zu ganzen Bildern wie in "Heinrich von Planen". Aber ihre
Krönung fand und findet die Kunst von Agnes Miegel erst im Liede. Hier
ist sie ganz sie selbst, das einer fernen Sehnsucht, einer unerfüllten, nach¬
ziehende, reine junge Weib, die Tochter der Landschaft, über die der russische


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Hausagrarier nach besondern „Mietgerichten", deren Beisitzer teils Mieter teils
Vermieter sind, nicht ungehört verhallen. Dann wird man sich aber auch in
Berücksichtigung der unglücklichen Lage der unehelichen Kinder, deren Rechts¬
streitigkeiten doch wahrlich der Beschleunigung und verständigen Behandlung
bedürfen, zur Einführung von „Schwängerungsgerichten" entschließen müssen;
die Schwierigkeiten der Besetzung dieser Sondergerichte werden gar nicht un¬
überwindlich sein.




Neue Lyrik

i ährend sich in den letzten Jahrzehnten unsrer literarischen Ent¬
wicklung der Schwerpunkt dramatischer und epischer Produktion
mehr und mehr vom Westen nach dem Osten, vom Süden nach
dem Norden verschob, und Talente von der Ostseite der Oder
!und der Weichsel immer häufiger mit berechtigtem Erfolge auf¬
traten, fehlte jenen Gauen kolonialer, sich in hartem Kampfe immer neu be¬
hauptender Kultur fast völlig das eigentliche Lied. Die Lyrik schien — darüber
konnten auch die stilistischen Bemühungen des einst so jugendlichen und frischen
Arno Holz nicht hinwegtäuschen — ein Besitz andrer Landschaften zu sein.
Erst in den letzten Jahren erklang auch in Ostpreußen ein neuer Ton, und
jetzt hat die Provinz zwei junge Lyriker von seltner Eigenart, ganz eigner
Physiognomie und nicht mehr zu übergehender Bedeutung. Die junge Dichterin
Agnes Miegel hat zuerst im Jahre 1902 Gedichte erscheinen und diesen jetzt
(bei Eugen Diederichs in Jena) „Balladen und Lieder" folgen lassen. In
den Balladen klingt auch hier etwas durch, was ich als die Göttinger Weise
bezeichnen möchte, jener gleich in die Mitte der Dinge führende Ton gehobner
Rhythmik, den der Dichterkreis des neuen Göttinger Musenalmanachs unter
Münchhausens Führung und zum Teil auf seinen Spuren erneut hat. Der
eigentliche Ahne dieses Balladenstils ist der Graf Moritz Strachwitz, und nicht
Fontane, des Grafen lebenslänglicher Verehrer, ist sein eigentlicher Nachfolger;
dazu war Fontane zu sehr, wie ers selber wußte, ein Freund des Kleinen.
Diese junge Generation aber geht in den Spuren Strachwitzens. Auch die
neuen Balladen von Agnes Miegel bezeugen das, vertiefen aber die Natur¬
stimmung stärker, hierin von Storm geschult, der ja überhaupt der einflu߬
reichste ältere Lyriker für das junge Geschlecht ist. So eint sich die fort¬
reißende Gewalt der Handlung mit dem alles umwebenden Zauber der
Stimmung zu ganzen Bildern wie in „Heinrich von Planen". Aber ihre
Krönung fand und findet die Kunst von Agnes Miegel erst im Liede. Hier
ist sie ganz sie selbst, das einer fernen Sehnsucht, einer unerfüllten, nach¬
ziehende, reine junge Weib, die Tochter der Landschaft, über die der russische


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[0691] Neue Lyrik Hausagrarier nach besondern „Mietgerichten", deren Beisitzer teils Mieter teils Vermieter sind, nicht ungehört verhallen. Dann wird man sich aber auch in Berücksichtigung der unglücklichen Lage der unehelichen Kinder, deren Rechts¬ streitigkeiten doch wahrlich der Beschleunigung und verständigen Behandlung bedürfen, zur Einführung von „Schwängerungsgerichten" entschließen müssen; die Schwierigkeiten der Besetzung dieser Sondergerichte werden gar nicht un¬ überwindlich sein. Neue Lyrik i ährend sich in den letzten Jahrzehnten unsrer literarischen Ent¬ wicklung der Schwerpunkt dramatischer und epischer Produktion mehr und mehr vom Westen nach dem Osten, vom Süden nach dem Norden verschob, und Talente von der Ostseite der Oder !und der Weichsel immer häufiger mit berechtigtem Erfolge auf¬ traten, fehlte jenen Gauen kolonialer, sich in hartem Kampfe immer neu be¬ hauptender Kultur fast völlig das eigentliche Lied. Die Lyrik schien — darüber konnten auch die stilistischen Bemühungen des einst so jugendlichen und frischen Arno Holz nicht hinwegtäuschen — ein Besitz andrer Landschaften zu sein. Erst in den letzten Jahren erklang auch in Ostpreußen ein neuer Ton, und jetzt hat die Provinz zwei junge Lyriker von seltner Eigenart, ganz eigner Physiognomie und nicht mehr zu übergehender Bedeutung. Die junge Dichterin Agnes Miegel hat zuerst im Jahre 1902 Gedichte erscheinen und diesen jetzt (bei Eugen Diederichs in Jena) „Balladen und Lieder" folgen lassen. In den Balladen klingt auch hier etwas durch, was ich als die Göttinger Weise bezeichnen möchte, jener gleich in die Mitte der Dinge führende Ton gehobner Rhythmik, den der Dichterkreis des neuen Göttinger Musenalmanachs unter Münchhausens Führung und zum Teil auf seinen Spuren erneut hat. Der eigentliche Ahne dieses Balladenstils ist der Graf Moritz Strachwitz, und nicht Fontane, des Grafen lebenslänglicher Verehrer, ist sein eigentlicher Nachfolger; dazu war Fontane zu sehr, wie ers selber wußte, ein Freund des Kleinen. Diese junge Generation aber geht in den Spuren Strachwitzens. Auch die neuen Balladen von Agnes Miegel bezeugen das, vertiefen aber die Natur¬ stimmung stärker, hierin von Storm geschult, der ja überhaupt der einflu߬ reichste ältere Lyriker für das junge Geschlecht ist. So eint sich die fort¬ reißende Gewalt der Handlung mit dem alles umwebenden Zauber der Stimmung zu ganzen Bildern wie in „Heinrich von Planen". Aber ihre Krönung fand und findet die Kunst von Agnes Miegel erst im Liede. Hier ist sie ganz sie selbst, das einer fernen Sehnsucht, einer unerfüllten, nach¬ ziehende, reine junge Weib, die Tochter der Landschaft, über die der russische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/691>, abgerufen am 29.06.2024.