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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Kollegialgerichte

abweichende Handhabung und Ansicht der Berufsgenossen dem einzelnen Richter
steten Anlaß zur Prüfung der Richtigkeit seiner Amtsführung gibt. Und welchen
Gefahren ist nicht die Unparteilichkeit und Unbefangenheit des Richters aus¬
gesetzt! Der eine Richter neigt dazu, in der Tagespresse ein Übel schlimmster
Art zu finden, das in jedem angeklagten Redakteur einer Tageszeitung Sühne
finden müsse; ein andrer neigt wieder dazu, in jedem Polizeibeamten einen
Heros der Staatsautorität zu sehn, dessen Wahrhaftigkeit anzuzweifeln schon
an sich sündhaft sei; wieder andre Richter neigen zu einer Überspannung der
sozialpolitischen Anforderungen unsrer Zeit. Die Richter sind eben auch nur
Menschen, und es ist für den Richter nur zu leicht die Gefahr vorhanden, daß
er auch in seiner Amtstätigkeit von seiner Stellungnahme zu politischen,
religiösen und wirtschaftlichen Fragen beeinflußt wird. Auch hier ist das
kvllegialgerichtliche Zusammenarbeiten der beste Schutzwall gegen die amtliche
Vetätigung solcher Neigungen. Nach einem japanischen Sprichwort gibt es
keinen Fächer, mit dem sich der Nebel verscheuchen ließe; und so gibt es auch
keine Gerichtsverfassung, die vollkommen ist: zweifellos hat auch die kollegial¬
gerichtliche Verfassung ihre Nachteile gegenüber dem Einzelrichtertum; aber
schon der geschilderte erziehende Einfluß auf die Amtsführung der Richter
durch die Kollegialgerichte sollte von einer Erweiterung des Einzelrichtertums
abhalten.

Unsre heutige Gerichtsverfassung mit ihrer doppelköpfigen ersten Instanz
von kollegial gebildeten Landgerichten und einer überaus großen Zahl von
Einzelrichtern ist eine recht unglückliche Schöpfung, wie sich am besten ergibt,
wenn man sie mit der frühern preußischen Gerichtsverfassung vergleicht. Hier
waren die "Kreisgerichte" die Gerichte erster Instanz, und fast jede einzelne
Kleinstadt hatte ihr Kreisgericht. Es waren dies Kollegialgerichte von fünf
Richtern, an deren Spitze ein Kreisgerichtsdirektor stand. Dieser hatte mit zwei
Richtern die Verrichtungen der heutigen Zivilkammern, während er mit den
beiden andern Richtern die Verrichtungen der heutigen Strafkammern hatte.
Daneben bearbeitete jeder dieser Richter gewisse Angelegenheiten als Einzel¬
richter, so der eine die Rechtsstreitigkeiten bis 150 Mark, der andre die geringern
Strafsachen, der dritte die Grundbuchsachen, der vierte die sonstigen Angelegen¬
heiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. So war jeder preußische Richter Mitglied
eines Kollegialgerichts, und er arbeitete teils im Kollegium, teils als Einzel¬
richter, sodaß seiner Arbeitsweise als Einzelrichter der wohltätige Einfluß der
kollegialgerichtlichen Bearbeitung ebenfalls zustatten kam; und daß man zu
diesen Richtern Zutrauen hatte, beweist wohl am besten der Umstand, daß man
damals weite Gebiete des öffentlichen Rechts der Entscheidung der ordentlichen
Gerichte unterbreitete. Es ist auffallend, daß sehr bald nach Beseitigung der
preußischen Gerichtsverfassung jenes Streben nach Einschränkung der Zuständig¬
keit der ordentlichen Gerichte begann, jenes Streben nach "Sondergerichten von
Standesgenossen". Gehn die Verhältnisse so weiter, so wird der Ruf der


Die richterliche Individualität und die Kollegialgerichte

abweichende Handhabung und Ansicht der Berufsgenossen dem einzelnen Richter
steten Anlaß zur Prüfung der Richtigkeit seiner Amtsführung gibt. Und welchen
Gefahren ist nicht die Unparteilichkeit und Unbefangenheit des Richters aus¬
gesetzt! Der eine Richter neigt dazu, in der Tagespresse ein Übel schlimmster
Art zu finden, das in jedem angeklagten Redakteur einer Tageszeitung Sühne
finden müsse; ein andrer neigt wieder dazu, in jedem Polizeibeamten einen
Heros der Staatsautorität zu sehn, dessen Wahrhaftigkeit anzuzweifeln schon
an sich sündhaft sei; wieder andre Richter neigen zu einer Überspannung der
sozialpolitischen Anforderungen unsrer Zeit. Die Richter sind eben auch nur
Menschen, und es ist für den Richter nur zu leicht die Gefahr vorhanden, daß
er auch in seiner Amtstätigkeit von seiner Stellungnahme zu politischen,
religiösen und wirtschaftlichen Fragen beeinflußt wird. Auch hier ist das
kvllegialgerichtliche Zusammenarbeiten der beste Schutzwall gegen die amtliche
Vetätigung solcher Neigungen. Nach einem japanischen Sprichwort gibt es
keinen Fächer, mit dem sich der Nebel verscheuchen ließe; und so gibt es auch
keine Gerichtsverfassung, die vollkommen ist: zweifellos hat auch die kollegial¬
gerichtliche Verfassung ihre Nachteile gegenüber dem Einzelrichtertum; aber
schon der geschilderte erziehende Einfluß auf die Amtsführung der Richter
durch die Kollegialgerichte sollte von einer Erweiterung des Einzelrichtertums
abhalten.

Unsre heutige Gerichtsverfassung mit ihrer doppelköpfigen ersten Instanz
von kollegial gebildeten Landgerichten und einer überaus großen Zahl von
Einzelrichtern ist eine recht unglückliche Schöpfung, wie sich am besten ergibt,
wenn man sie mit der frühern preußischen Gerichtsverfassung vergleicht. Hier
waren die „Kreisgerichte" die Gerichte erster Instanz, und fast jede einzelne
Kleinstadt hatte ihr Kreisgericht. Es waren dies Kollegialgerichte von fünf
Richtern, an deren Spitze ein Kreisgerichtsdirektor stand. Dieser hatte mit zwei
Richtern die Verrichtungen der heutigen Zivilkammern, während er mit den
beiden andern Richtern die Verrichtungen der heutigen Strafkammern hatte.
Daneben bearbeitete jeder dieser Richter gewisse Angelegenheiten als Einzel¬
richter, so der eine die Rechtsstreitigkeiten bis 150 Mark, der andre die geringern
Strafsachen, der dritte die Grundbuchsachen, der vierte die sonstigen Angelegen¬
heiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. So war jeder preußische Richter Mitglied
eines Kollegialgerichts, und er arbeitete teils im Kollegium, teils als Einzel¬
richter, sodaß seiner Arbeitsweise als Einzelrichter der wohltätige Einfluß der
kollegialgerichtlichen Bearbeitung ebenfalls zustatten kam; und daß man zu
diesen Richtern Zutrauen hatte, beweist wohl am besten der Umstand, daß man
damals weite Gebiete des öffentlichen Rechts der Entscheidung der ordentlichen
Gerichte unterbreitete. Es ist auffallend, daß sehr bald nach Beseitigung der
preußischen Gerichtsverfassung jenes Streben nach Einschränkung der Zuständig¬
keit der ordentlichen Gerichte begann, jenes Streben nach „Sondergerichten von
Standesgenossen". Gehn die Verhältnisse so weiter, so wird der Ruf der


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[0690] Die richterliche Individualität und die Kollegialgerichte abweichende Handhabung und Ansicht der Berufsgenossen dem einzelnen Richter steten Anlaß zur Prüfung der Richtigkeit seiner Amtsführung gibt. Und welchen Gefahren ist nicht die Unparteilichkeit und Unbefangenheit des Richters aus¬ gesetzt! Der eine Richter neigt dazu, in der Tagespresse ein Übel schlimmster Art zu finden, das in jedem angeklagten Redakteur einer Tageszeitung Sühne finden müsse; ein andrer neigt wieder dazu, in jedem Polizeibeamten einen Heros der Staatsautorität zu sehn, dessen Wahrhaftigkeit anzuzweifeln schon an sich sündhaft sei; wieder andre Richter neigen zu einer Überspannung der sozialpolitischen Anforderungen unsrer Zeit. Die Richter sind eben auch nur Menschen, und es ist für den Richter nur zu leicht die Gefahr vorhanden, daß er auch in seiner Amtstätigkeit von seiner Stellungnahme zu politischen, religiösen und wirtschaftlichen Fragen beeinflußt wird. Auch hier ist das kvllegialgerichtliche Zusammenarbeiten der beste Schutzwall gegen die amtliche Vetätigung solcher Neigungen. Nach einem japanischen Sprichwort gibt es keinen Fächer, mit dem sich der Nebel verscheuchen ließe; und so gibt es auch keine Gerichtsverfassung, die vollkommen ist: zweifellos hat auch die kollegial¬ gerichtliche Verfassung ihre Nachteile gegenüber dem Einzelrichtertum; aber schon der geschilderte erziehende Einfluß auf die Amtsführung der Richter durch die Kollegialgerichte sollte von einer Erweiterung des Einzelrichtertums abhalten. Unsre heutige Gerichtsverfassung mit ihrer doppelköpfigen ersten Instanz von kollegial gebildeten Landgerichten und einer überaus großen Zahl von Einzelrichtern ist eine recht unglückliche Schöpfung, wie sich am besten ergibt, wenn man sie mit der frühern preußischen Gerichtsverfassung vergleicht. Hier waren die „Kreisgerichte" die Gerichte erster Instanz, und fast jede einzelne Kleinstadt hatte ihr Kreisgericht. Es waren dies Kollegialgerichte von fünf Richtern, an deren Spitze ein Kreisgerichtsdirektor stand. Dieser hatte mit zwei Richtern die Verrichtungen der heutigen Zivilkammern, während er mit den beiden andern Richtern die Verrichtungen der heutigen Strafkammern hatte. Daneben bearbeitete jeder dieser Richter gewisse Angelegenheiten als Einzel¬ richter, so der eine die Rechtsstreitigkeiten bis 150 Mark, der andre die geringern Strafsachen, der dritte die Grundbuchsachen, der vierte die sonstigen Angelegen¬ heiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. So war jeder preußische Richter Mitglied eines Kollegialgerichts, und er arbeitete teils im Kollegium, teils als Einzel¬ richter, sodaß seiner Arbeitsweise als Einzelrichter der wohltätige Einfluß der kollegialgerichtlichen Bearbeitung ebenfalls zustatten kam; und daß man zu diesen Richtern Zutrauen hatte, beweist wohl am besten der Umstand, daß man damals weite Gebiete des öffentlichen Rechts der Entscheidung der ordentlichen Gerichte unterbreitete. Es ist auffallend, daß sehr bald nach Beseitigung der preußischen Gerichtsverfassung jenes Streben nach Einschränkung der Zuständig¬ keit der ordentlichen Gerichte begann, jenes Streben nach „Sondergerichten von Standesgenossen". Gehn die Verhältnisse so weiter, so wird der Ruf der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/690>, abgerufen am 01.07.2024.