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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Neue Lyrik

Steppenwind weht und den Frühling erstickt, des Ordenslandes, durch dessen
farbenblitzenden Herbst das Rauschen des Haffs und der Ostsee geht. Einmal
ist es die Sehnsucht nach der Heimat selbst, die der fernen Dichterin das
Herz bewegt:

[Beginn Spaltensatz] Ich hörte heute morgen
Am Klippenhang die Stare schon.
Sie sangen wie daheim,
Und doch war es ein andrer Ton. Und blaue Veilchen blühten
Auf allen Hügeln bis zur See.
In meiner Heimat Feldern
Liegt in den Furchen noch der Schnee. [Spaltenumbruch] In meiner Stadt im Norden
Stehn sieben Brücken, grau und greif,
An ihre morschen Pfähle
Treibt dumpf und schlitternd jetzt das Eis. Und unter grauen Wolken
Es fein und engelslieblich klingt,
Und meiner Heimat Kinder
Verstehen, was die erste Lerche singt. [Ende Spaltensatz]

Dann aber ist es der Traum Verlornen oder nie erreichten Glücks, den
vielleicht ein Gassenhauer, vielleicht ein Kinderlied wieder auferweckt, und der
in der präzisen, überall knappen, nie ein Wort zu viel sägenden, farbigen Vers¬
sprache von Agnes Miegel wiedergeboren wird.

Das andre bedeutsame und eigenwüchsige ostpreußische Talent ist A. K. T.
Tielo. Und ihm freilich darf man Knappheit und Geschlossenheit nicht immer nach¬
sagen. Tielo stammt aus der litauischen Ebene, vom Memelstrom, und hat,
wie ich es hier bei der Besprechung seines ersten Versbuchs schon gesagt
habe, die dämmerhafte Naturanschauung eingesogen, die dieses vom Wasser
umgebne und vom Wasser durchzogne Wald- und Heideland ausströmt. Ihm,
seiner Heimat, widmet er ganz und gar den neuen Band "Klänge aus
Litauen" (München, Georg D. W. Callwey). Das Buch ist außerordentlich
reich, so reich, wie wenige lyrische Erscheinungen der letzten Zeit. Obwohl
bestimmte Themen immer wieder variiert werden, kommen doch immer wieder
neue Bilder herauf. Der Kurischen Nehrung, der eigenartigsten Landschaft
Deutschlands, hat Tielo viel abgewonnen. sternlos rauscht die Nacht über
der Brandung, und wenn das Frühlicht einkehrt, gibt es wohl ein Bild wie
dieses von den heimkehrenden Fischern, das in seinem Rhythmus aufs glück¬
lichste das Verebben der Wellen, das Schwanken der Boote eingefangen hat:

[Beginn Spaltensatz] Nun ruft es im Frühlicht bang,
Wie wenn ein Schattenvolk schaffe!
Die Fischer schlürfen das Dorf entlang,
Heinikehrend vom grauen Haffe. Und Stimme auf Stimme hallt,
Schon schwanken feuchte Südwester,
Wie drüben im nebelnder Kiefernwald
Buschige .Krähennester. Und es riecht nach Trau und Teer,
Wie sie die Gasse durchwandern --
Sie tragen tropfende Eimer, schwer
Von zuckenden Silberzandern . . . [Spaltenumbruch] Wie zürnte draußen die Flut
Nächtens mit weifjen Zähnen,
Als sie ihr raubten das zappelnde Gut
In rastlos rauschenden Kähnen. Und es ließ in der Dunkelheit
Der Wind die Segel trällern,
Als würden sie alle von ihm geweiht
Zu des Todes Gevattern. Doch war es für Weib und Kind . . .
Und wolkig die Wandrer verschwimmen,
Und immer wieder erdrückt der Wind
Ihre dröhnenden Stimmen. [Ende Spaltensatz]

Neue Lyrik

Steppenwind weht und den Frühling erstickt, des Ordenslandes, durch dessen
farbenblitzenden Herbst das Rauschen des Haffs und der Ostsee geht. Einmal
ist es die Sehnsucht nach der Heimat selbst, die der fernen Dichterin das
Herz bewegt:

[Beginn Spaltensatz] Ich hörte heute morgen
Am Klippenhang die Stare schon.
Sie sangen wie daheim,
Und doch war es ein andrer Ton. Und blaue Veilchen blühten
Auf allen Hügeln bis zur See.
In meiner Heimat Feldern
Liegt in den Furchen noch der Schnee. [Spaltenumbruch] In meiner Stadt im Norden
Stehn sieben Brücken, grau und greif,
An ihre morschen Pfähle
Treibt dumpf und schlitternd jetzt das Eis. Und unter grauen Wolken
Es fein und engelslieblich klingt,
Und meiner Heimat Kinder
Verstehen, was die erste Lerche singt. [Ende Spaltensatz]

Dann aber ist es der Traum Verlornen oder nie erreichten Glücks, den
vielleicht ein Gassenhauer, vielleicht ein Kinderlied wieder auferweckt, und der
in der präzisen, überall knappen, nie ein Wort zu viel sägenden, farbigen Vers¬
sprache von Agnes Miegel wiedergeboren wird.

Das andre bedeutsame und eigenwüchsige ostpreußische Talent ist A. K. T.
Tielo. Und ihm freilich darf man Knappheit und Geschlossenheit nicht immer nach¬
sagen. Tielo stammt aus der litauischen Ebene, vom Memelstrom, und hat,
wie ich es hier bei der Besprechung seines ersten Versbuchs schon gesagt
habe, die dämmerhafte Naturanschauung eingesogen, die dieses vom Wasser
umgebne und vom Wasser durchzogne Wald- und Heideland ausströmt. Ihm,
seiner Heimat, widmet er ganz und gar den neuen Band „Klänge aus
Litauen" (München, Georg D. W. Callwey). Das Buch ist außerordentlich
reich, so reich, wie wenige lyrische Erscheinungen der letzten Zeit. Obwohl
bestimmte Themen immer wieder variiert werden, kommen doch immer wieder
neue Bilder herauf. Der Kurischen Nehrung, der eigenartigsten Landschaft
Deutschlands, hat Tielo viel abgewonnen. sternlos rauscht die Nacht über
der Brandung, und wenn das Frühlicht einkehrt, gibt es wohl ein Bild wie
dieses von den heimkehrenden Fischern, das in seinem Rhythmus aufs glück¬
lichste das Verebben der Wellen, das Schwanken der Boote eingefangen hat:

[Beginn Spaltensatz] Nun ruft es im Frühlicht bang,
Wie wenn ein Schattenvolk schaffe!
Die Fischer schlürfen das Dorf entlang,
Heinikehrend vom grauen Haffe. Und Stimme auf Stimme hallt,
Schon schwanken feuchte Südwester,
Wie drüben im nebelnder Kiefernwald
Buschige .Krähennester. Und es riecht nach Trau und Teer,
Wie sie die Gasse durchwandern —
Sie tragen tropfende Eimer, schwer
Von zuckenden Silberzandern . . . [Spaltenumbruch] Wie zürnte draußen die Flut
Nächtens mit weifjen Zähnen,
Als sie ihr raubten das zappelnde Gut
In rastlos rauschenden Kähnen. Und es ließ in der Dunkelheit
Der Wind die Segel trällern,
Als würden sie alle von ihm geweiht
Zu des Todes Gevattern. Doch war es für Weib und Kind . . .
Und wolkig die Wandrer verschwimmen,
Und immer wieder erdrückt der Wind
Ihre dröhnenden Stimmen. [Ende Spaltensatz]

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[0692] Neue Lyrik Steppenwind weht und den Frühling erstickt, des Ordenslandes, durch dessen farbenblitzenden Herbst das Rauschen des Haffs und der Ostsee geht. Einmal ist es die Sehnsucht nach der Heimat selbst, die der fernen Dichterin das Herz bewegt: Ich hörte heute morgen Am Klippenhang die Stare schon. Sie sangen wie daheim, Und doch war es ein andrer Ton. Und blaue Veilchen blühten Auf allen Hügeln bis zur See. In meiner Heimat Feldern Liegt in den Furchen noch der Schnee. In meiner Stadt im Norden Stehn sieben Brücken, grau und greif, An ihre morschen Pfähle Treibt dumpf und schlitternd jetzt das Eis. Und unter grauen Wolken Es fein und engelslieblich klingt, Und meiner Heimat Kinder Verstehen, was die erste Lerche singt. Dann aber ist es der Traum Verlornen oder nie erreichten Glücks, den vielleicht ein Gassenhauer, vielleicht ein Kinderlied wieder auferweckt, und der in der präzisen, überall knappen, nie ein Wort zu viel sägenden, farbigen Vers¬ sprache von Agnes Miegel wiedergeboren wird. Das andre bedeutsame und eigenwüchsige ostpreußische Talent ist A. K. T. Tielo. Und ihm freilich darf man Knappheit und Geschlossenheit nicht immer nach¬ sagen. Tielo stammt aus der litauischen Ebene, vom Memelstrom, und hat, wie ich es hier bei der Besprechung seines ersten Versbuchs schon gesagt habe, die dämmerhafte Naturanschauung eingesogen, die dieses vom Wasser umgebne und vom Wasser durchzogne Wald- und Heideland ausströmt. Ihm, seiner Heimat, widmet er ganz und gar den neuen Band „Klänge aus Litauen" (München, Georg D. W. Callwey). Das Buch ist außerordentlich reich, so reich, wie wenige lyrische Erscheinungen der letzten Zeit. Obwohl bestimmte Themen immer wieder variiert werden, kommen doch immer wieder neue Bilder herauf. Der Kurischen Nehrung, der eigenartigsten Landschaft Deutschlands, hat Tielo viel abgewonnen. sternlos rauscht die Nacht über der Brandung, und wenn das Frühlicht einkehrt, gibt es wohl ein Bild wie dieses von den heimkehrenden Fischern, das in seinem Rhythmus aufs glück¬ lichste das Verebben der Wellen, das Schwanken der Boote eingefangen hat: Nun ruft es im Frühlicht bang, Wie wenn ein Schattenvolk schaffe! Die Fischer schlürfen das Dorf entlang, Heinikehrend vom grauen Haffe. Und Stimme auf Stimme hallt, Schon schwanken feuchte Südwester, Wie drüben im nebelnder Kiefernwald Buschige .Krähennester. Und es riecht nach Trau und Teer, Wie sie die Gasse durchwandern — Sie tragen tropfende Eimer, schwer Von zuckenden Silberzandern . . . Wie zürnte draußen die Flut Nächtens mit weifjen Zähnen, Als sie ihr raubten das zappelnde Gut In rastlos rauschenden Kähnen. Und es ließ in der Dunkelheit Der Wind die Segel trällern, Als würden sie alle von ihm geweiht Zu des Todes Gevattern. Doch war es für Weib und Kind . . . Und wolkig die Wandrer verschwimmen, Und immer wieder erdrückt der Wind Ihre dröhnenden Stimmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/692>, abgerufen am 26.06.2024.