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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand des Balkanproblems

Gesichtspunkte, daß die verschiednen Nationalitäten mit größerer Regelmäßig¬
keit gruppiert werden; 4. Reorganisation der Verwciltungs - und Justizein¬
richtungen, indem den eingebornen Christen Zugang zu den Ämtern gewährt
und die Entfaltung der lokalen Autonomie begünstigt wird; 5. sofortige Be¬
gründung von gleichermaßen aus Christen und Muselmanen zusammengesetzten
Kommissionen, die in den Hauptstädten der Vilajets unter Aufsicht der Kon¬
suln Österreichs und Rußlands die politischen und sonstigen, während der Un¬
ruhen begangnen Verbrechen zu prüfen haben; 6. Zahlung von Entschädigungs-,
Hilfs- und Restaurationsgeldcrn zugunsten geschädigter Christen, die das Geld
unter Aufsicht der Konsuln Österreichs und Rußlands durch Kommissionen
unter sich verteilen lassen; 7. einjährige Befreiung von aller Steuer für die
christlichen Einwohner ausgebrannter Dörfer; 8. Beschleunigung in der Aus¬
führung aller beschlossenen und noch zu beschließenden Reformen; 9. Absetzung
der Redifs zweiter Klasse und sofortige sowie absolute Verhinderung der Bildung
von Banden.

Es kann nicht wundernehmen, daß ein so weitgreifendes und delikates
Unternehmen, wie es dieses Mürzsteger Programm selbst dann darstellt, wenn
man die voraufgegangnen internationalen Vereinbarungen und österreichisch¬
russischen Maßnahmen als ihre Voraussetzungen berücksichtigt, mit Bedenken
aufgenommen wurde. Die Consulta machte daraus kein Hehl, daß sie die
Unterlassung eines Ideenaustausches mit ihr vor der Verabschiedung und
Konstantinopler Inszenierung des Programms sowie vor dem Ersuchen in
Rom um dessen diplomatische Unterstützung peinlich empfunden habe; und in
der Tat wäre, trotzdem Italien es an Eifer zur Aufrechterhaltung des Scheins
eines europäischen Konzerts der Hohen Pforte gegenüber nicht hat fehlen
lassen, manche der spätern ebenso intrikaten wie in mehrerer Hinsicht sehr ge¬
fährlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kabinetten erspart worden, und
die Reformaktion hätte größere Fortschritte gemacht, wenn Österreich und
Rußland nicht zu Anfang den, sei es aus eigennütziger Spekulation, sei es
aus Kurzsichtigkeit zu erklärenden, eaux xas begangen hätten. Das Auswärtige
Amt in Berlin hat auch nur für angemessen erachtet, den Botschafter in
Konstantinopel zu beauftragen, seine Bemühungen auf einen Rat an die
Hohe Pforte, "sich mit den beiden proponiercnden Mächten zu verständigen",
zu beschränken und sich im übrigen jedweder Äußerung über den Inhalt und
Charakter der Propositionen peinlichst zu enthalten. Das Londoner Kabinett
konnte ebenfalls nicht umhin, zwar dem Sultan mit der Fiktion einer
prinzipiellen Übereinstimmung mit den Proponenten aufzuwarten, in Wahrheit
aber sich die sorgfältige Würdigung der Propositionen vorzubehalten und
wegen einiger von ihnen "weitere Aufklärungen abzuwarten" -- und man
weiß, daß England seinen Vorbehalt sehr wahrgenommen hat, ohne darum
doch den Protest der Türkei ob der Minderung ihrer Souveränität und ob
der absoluten Unausführbarkeit eines großen Teiles der Programmpunkte einer


Der Stand des Balkanproblems

Gesichtspunkte, daß die verschiednen Nationalitäten mit größerer Regelmäßig¬
keit gruppiert werden; 4. Reorganisation der Verwciltungs - und Justizein¬
richtungen, indem den eingebornen Christen Zugang zu den Ämtern gewährt
und die Entfaltung der lokalen Autonomie begünstigt wird; 5. sofortige Be¬
gründung von gleichermaßen aus Christen und Muselmanen zusammengesetzten
Kommissionen, die in den Hauptstädten der Vilajets unter Aufsicht der Kon¬
suln Österreichs und Rußlands die politischen und sonstigen, während der Un¬
ruhen begangnen Verbrechen zu prüfen haben; 6. Zahlung von Entschädigungs-,
Hilfs- und Restaurationsgeldcrn zugunsten geschädigter Christen, die das Geld
unter Aufsicht der Konsuln Österreichs und Rußlands durch Kommissionen
unter sich verteilen lassen; 7. einjährige Befreiung von aller Steuer für die
christlichen Einwohner ausgebrannter Dörfer; 8. Beschleunigung in der Aus¬
führung aller beschlossenen und noch zu beschließenden Reformen; 9. Absetzung
der Redifs zweiter Klasse und sofortige sowie absolute Verhinderung der Bildung
von Banden.

Es kann nicht wundernehmen, daß ein so weitgreifendes und delikates
Unternehmen, wie es dieses Mürzsteger Programm selbst dann darstellt, wenn
man die voraufgegangnen internationalen Vereinbarungen und österreichisch¬
russischen Maßnahmen als ihre Voraussetzungen berücksichtigt, mit Bedenken
aufgenommen wurde. Die Consulta machte daraus kein Hehl, daß sie die
Unterlassung eines Ideenaustausches mit ihr vor der Verabschiedung und
Konstantinopler Inszenierung des Programms sowie vor dem Ersuchen in
Rom um dessen diplomatische Unterstützung peinlich empfunden habe; und in
der Tat wäre, trotzdem Italien es an Eifer zur Aufrechterhaltung des Scheins
eines europäischen Konzerts der Hohen Pforte gegenüber nicht hat fehlen
lassen, manche der spätern ebenso intrikaten wie in mehrerer Hinsicht sehr ge¬
fährlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kabinetten erspart worden, und
die Reformaktion hätte größere Fortschritte gemacht, wenn Österreich und
Rußland nicht zu Anfang den, sei es aus eigennütziger Spekulation, sei es
aus Kurzsichtigkeit zu erklärenden, eaux xas begangen hätten. Das Auswärtige
Amt in Berlin hat auch nur für angemessen erachtet, den Botschafter in
Konstantinopel zu beauftragen, seine Bemühungen auf einen Rat an die
Hohe Pforte, „sich mit den beiden proponiercnden Mächten zu verständigen",
zu beschränken und sich im übrigen jedweder Äußerung über den Inhalt und
Charakter der Propositionen peinlichst zu enthalten. Das Londoner Kabinett
konnte ebenfalls nicht umhin, zwar dem Sultan mit der Fiktion einer
prinzipiellen Übereinstimmung mit den Proponenten aufzuwarten, in Wahrheit
aber sich die sorgfältige Würdigung der Propositionen vorzubehalten und
wegen einiger von ihnen „weitere Aufklärungen abzuwarten" — und man
weiß, daß England seinen Vorbehalt sehr wahrgenommen hat, ohne darum
doch den Protest der Türkei ob der Minderung ihrer Souveränität und ob
der absoluten Unausführbarkeit eines großen Teiles der Programmpunkte einer


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[0068] Der Stand des Balkanproblems Gesichtspunkte, daß die verschiednen Nationalitäten mit größerer Regelmäßig¬ keit gruppiert werden; 4. Reorganisation der Verwciltungs - und Justizein¬ richtungen, indem den eingebornen Christen Zugang zu den Ämtern gewährt und die Entfaltung der lokalen Autonomie begünstigt wird; 5. sofortige Be¬ gründung von gleichermaßen aus Christen und Muselmanen zusammengesetzten Kommissionen, die in den Hauptstädten der Vilajets unter Aufsicht der Kon¬ suln Österreichs und Rußlands die politischen und sonstigen, während der Un¬ ruhen begangnen Verbrechen zu prüfen haben; 6. Zahlung von Entschädigungs-, Hilfs- und Restaurationsgeldcrn zugunsten geschädigter Christen, die das Geld unter Aufsicht der Konsuln Österreichs und Rußlands durch Kommissionen unter sich verteilen lassen; 7. einjährige Befreiung von aller Steuer für die christlichen Einwohner ausgebrannter Dörfer; 8. Beschleunigung in der Aus¬ führung aller beschlossenen und noch zu beschließenden Reformen; 9. Absetzung der Redifs zweiter Klasse und sofortige sowie absolute Verhinderung der Bildung von Banden. Es kann nicht wundernehmen, daß ein so weitgreifendes und delikates Unternehmen, wie es dieses Mürzsteger Programm selbst dann darstellt, wenn man die voraufgegangnen internationalen Vereinbarungen und österreichisch¬ russischen Maßnahmen als ihre Voraussetzungen berücksichtigt, mit Bedenken aufgenommen wurde. Die Consulta machte daraus kein Hehl, daß sie die Unterlassung eines Ideenaustausches mit ihr vor der Verabschiedung und Konstantinopler Inszenierung des Programms sowie vor dem Ersuchen in Rom um dessen diplomatische Unterstützung peinlich empfunden habe; und in der Tat wäre, trotzdem Italien es an Eifer zur Aufrechterhaltung des Scheins eines europäischen Konzerts der Hohen Pforte gegenüber nicht hat fehlen lassen, manche der spätern ebenso intrikaten wie in mehrerer Hinsicht sehr ge¬ fährlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kabinetten erspart worden, und die Reformaktion hätte größere Fortschritte gemacht, wenn Österreich und Rußland nicht zu Anfang den, sei es aus eigennütziger Spekulation, sei es aus Kurzsichtigkeit zu erklärenden, eaux xas begangen hätten. Das Auswärtige Amt in Berlin hat auch nur für angemessen erachtet, den Botschafter in Konstantinopel zu beauftragen, seine Bemühungen auf einen Rat an die Hohe Pforte, „sich mit den beiden proponiercnden Mächten zu verständigen", zu beschränken und sich im übrigen jedweder Äußerung über den Inhalt und Charakter der Propositionen peinlichst zu enthalten. Das Londoner Kabinett konnte ebenfalls nicht umhin, zwar dem Sultan mit der Fiktion einer prinzipiellen Übereinstimmung mit den Proponenten aufzuwarten, in Wahrheit aber sich die sorgfältige Würdigung der Propositionen vorzubehalten und wegen einiger von ihnen „weitere Aufklärungen abzuwarten" — und man weiß, daß England seinen Vorbehalt sehr wahrgenommen hat, ohne darum doch den Protest der Türkei ob der Minderung ihrer Souveränität und ob der absoluten Unausführbarkeit eines großen Teiles der Programmpunkte einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/68>, abgerufen am 25.08.2024.