Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Stand des Balkanproblems

Indessen gaben neue Unruhen, die sich in Mazedonien nud Albanien er¬
eigneten und abermals in der Hauptsache auf Bulgarien zurückgingen, Öster¬
reich und Nußland Veranlassung, abgesehen von Maßnahmen zum direkten
Schutze ihrer bedroht erscheinenden eignen Untertanen, den Sultan neuerdings
zur energischen Durchführung der Reformen zu ernähren und von den andern
Großmächten die diplomatische Unterstützung dieser Mahnung nachzusuchen, die
auch gewährt wurde. Als der Sultan dann zur Unterdrückung der Unruhen
Truppen schickte und diese Truppen ihre Mission übertrieben, indem sie auch
ihrerseits in Gewalttätigkeiten über das gebührende Maß hinausgingen, wußten
Österreich und Rußland nichts andres zu tun, als in Mürzsteg "eine wirk¬
samere Weise der Kontrolle und Überwachung" der Hohen Pforte wie "die
Unterstützung der jedes Existenzmittels beraubten Bevölkerung, die Erleichterung
der Heimkehr der Flüchtlinge und die Wiederherstellung der von den Feuers¬
brünsten zerstörten Dörfer, Kirchen und Schulen" zu beschließen. England,
das zu diesem Zwecke ein Einvernehmen mit Italien suchte, bemühte sich,
sobald ihm die österreichisch-russischen Absichten bekannt wurden, um einen
wenn möglich militärischen Ausdruck jener verstärkten Kontrolle und Über¬
wachung der Hohen Pforte durch die Großmächte, und in Wien und Peters¬
burg trug man dem englischen Bemühen in der Tat Rechnung.

Österreich und Rußland versäumten keine Gelegenheit, ihre Unparteilich¬
keit und ihr ä^sintsresssrniziit als bestimmende Motive ihrer balkanischen
Aktion an den Tag zu legen. Nichtsdestoweniger unterließen sie, den unver¬
kennbaren und berechtigten Wunsch Italiens und wohl auch der übrigen
Firmatare des Berliner Vertrags, vor dem Beginn der alle Mächte moralisch
und in gewissem Betracht auch praktisch engagierenden diplomatischen Ma߬
nahmen bei der Hohen Pforte von deren Inhalt und Charakter vollständig
unterrichtet zu werden, zu erfüllen. Das Mürzsteger sogenannte Programm
wurde am 22. Oktober 1903 zuerst der Pforte zur Kenntnis gebracht und
am 24. Oktober den Mächten. Es enthielt folgende Forderungen zu Lasten
der Pforte: 1. Ernennung eines österreichischen und eines russischen speziellen
Zivilagenten, die den Generalgouvemeur überall zu begleiten und ihn auf
alles hinzuweisen haben, was ihnen bzw. ihren Regierungen in den maze¬
donischen Vilajets zu tun oder zu unterlassen nötig erscheint; 2. die Organi¬
sation der Gendarmerie ist, in Anbetracht der geringen Bewährung der
-- nach russischem Protest gegen die dentschen -- vom Sultan angestellten
schwedischen Offiziere, einem fremdländischen General in türkischen Diensten
anzuvertrauen, und es sind diesem General Offiziere der Großmächte beizu¬
ordnen, die sich in den verschiednen, nach Vereinbarung untereinander zu ver¬
teilenden Bezirken als Kontrolleure, Instrukteure und Orgcmisatenre zu be¬
tätigen haben, und die nach Ermessen eine Anzahl von fremdländischen
Offizieren und Unteroffizieren zu ihrer Unterstützung verlangen dürfen; 3. Modi¬
fikation der territorialen Umgrenzung der Verwaltungseinheiten unter dem


Der Stand des Balkanproblems

Indessen gaben neue Unruhen, die sich in Mazedonien nud Albanien er¬
eigneten und abermals in der Hauptsache auf Bulgarien zurückgingen, Öster¬
reich und Nußland Veranlassung, abgesehen von Maßnahmen zum direkten
Schutze ihrer bedroht erscheinenden eignen Untertanen, den Sultan neuerdings
zur energischen Durchführung der Reformen zu ernähren und von den andern
Großmächten die diplomatische Unterstützung dieser Mahnung nachzusuchen, die
auch gewährt wurde. Als der Sultan dann zur Unterdrückung der Unruhen
Truppen schickte und diese Truppen ihre Mission übertrieben, indem sie auch
ihrerseits in Gewalttätigkeiten über das gebührende Maß hinausgingen, wußten
Österreich und Rußland nichts andres zu tun, als in Mürzsteg „eine wirk¬
samere Weise der Kontrolle und Überwachung" der Hohen Pforte wie „die
Unterstützung der jedes Existenzmittels beraubten Bevölkerung, die Erleichterung
der Heimkehr der Flüchtlinge und die Wiederherstellung der von den Feuers¬
brünsten zerstörten Dörfer, Kirchen und Schulen" zu beschließen. England,
das zu diesem Zwecke ein Einvernehmen mit Italien suchte, bemühte sich,
sobald ihm die österreichisch-russischen Absichten bekannt wurden, um einen
wenn möglich militärischen Ausdruck jener verstärkten Kontrolle und Über¬
wachung der Hohen Pforte durch die Großmächte, und in Wien und Peters¬
burg trug man dem englischen Bemühen in der Tat Rechnung.

Österreich und Rußland versäumten keine Gelegenheit, ihre Unparteilich¬
keit und ihr ä^sintsresssrniziit als bestimmende Motive ihrer balkanischen
Aktion an den Tag zu legen. Nichtsdestoweniger unterließen sie, den unver¬
kennbaren und berechtigten Wunsch Italiens und wohl auch der übrigen
Firmatare des Berliner Vertrags, vor dem Beginn der alle Mächte moralisch
und in gewissem Betracht auch praktisch engagierenden diplomatischen Ma߬
nahmen bei der Hohen Pforte von deren Inhalt und Charakter vollständig
unterrichtet zu werden, zu erfüllen. Das Mürzsteger sogenannte Programm
wurde am 22. Oktober 1903 zuerst der Pforte zur Kenntnis gebracht und
am 24. Oktober den Mächten. Es enthielt folgende Forderungen zu Lasten
der Pforte: 1. Ernennung eines österreichischen und eines russischen speziellen
Zivilagenten, die den Generalgouvemeur überall zu begleiten und ihn auf
alles hinzuweisen haben, was ihnen bzw. ihren Regierungen in den maze¬
donischen Vilajets zu tun oder zu unterlassen nötig erscheint; 2. die Organi¬
sation der Gendarmerie ist, in Anbetracht der geringen Bewährung der
— nach russischem Protest gegen die dentschen — vom Sultan angestellten
schwedischen Offiziere, einem fremdländischen General in türkischen Diensten
anzuvertrauen, und es sind diesem General Offiziere der Großmächte beizu¬
ordnen, die sich in den verschiednen, nach Vereinbarung untereinander zu ver¬
teilenden Bezirken als Kontrolleure, Instrukteure und Orgcmisatenre zu be¬
tätigen haben, und die nach Ermessen eine Anzahl von fremdländischen
Offizieren und Unteroffizieren zu ihrer Unterstützung verlangen dürfen; 3. Modi¬
fikation der territorialen Umgrenzung der Verwaltungseinheiten unter dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303483"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Stand des Balkanproblems</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_240" prev="#ID_239"> Indessen gaben neue Unruhen, die sich in Mazedonien nud Albanien er¬<lb/>
eigneten und abermals in der Hauptsache auf Bulgarien zurückgingen, Öster¬<lb/>
reich und Nußland Veranlassung, abgesehen von Maßnahmen zum direkten<lb/>
Schutze ihrer bedroht erscheinenden eignen Untertanen, den Sultan neuerdings<lb/>
zur energischen Durchführung der Reformen zu ernähren und von den andern<lb/>
Großmächten die diplomatische Unterstützung dieser Mahnung nachzusuchen, die<lb/>
auch gewährt wurde. Als der Sultan dann zur Unterdrückung der Unruhen<lb/>
Truppen schickte und diese Truppen ihre Mission übertrieben, indem sie auch<lb/>
ihrerseits in Gewalttätigkeiten über das gebührende Maß hinausgingen, wußten<lb/>
Österreich und Rußland nichts andres zu tun, als in Mürzsteg &#x201E;eine wirk¬<lb/>
samere Weise der Kontrolle und Überwachung" der Hohen Pforte wie &#x201E;die<lb/>
Unterstützung der jedes Existenzmittels beraubten Bevölkerung, die Erleichterung<lb/>
der Heimkehr der Flüchtlinge und die Wiederherstellung der von den Feuers¬<lb/>
brünsten zerstörten Dörfer, Kirchen und Schulen" zu beschließen. England,<lb/>
das zu diesem Zwecke ein Einvernehmen mit Italien suchte, bemühte sich,<lb/>
sobald ihm die österreichisch-russischen Absichten bekannt wurden, um einen<lb/>
wenn möglich militärischen Ausdruck jener verstärkten Kontrolle und Über¬<lb/>
wachung der Hohen Pforte durch die Großmächte, und in Wien und Peters¬<lb/>
burg trug man dem englischen Bemühen in der Tat Rechnung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_241" next="#ID_242"> Österreich und Rußland versäumten keine Gelegenheit, ihre Unparteilich¬<lb/>
keit und ihr ä^sintsresssrniziit als bestimmende Motive ihrer balkanischen<lb/>
Aktion an den Tag zu legen. Nichtsdestoweniger unterließen sie, den unver¬<lb/>
kennbaren und berechtigten Wunsch Italiens und wohl auch der übrigen<lb/>
Firmatare des Berliner Vertrags, vor dem Beginn der alle Mächte moralisch<lb/>
und in gewissem Betracht auch praktisch engagierenden diplomatischen Ma߬<lb/>
nahmen bei der Hohen Pforte von deren Inhalt und Charakter vollständig<lb/>
unterrichtet zu werden, zu erfüllen. Das Mürzsteger sogenannte Programm<lb/>
wurde am 22. Oktober 1903 zuerst der Pforte zur Kenntnis gebracht und<lb/>
am 24. Oktober den Mächten. Es enthielt folgende Forderungen zu Lasten<lb/>
der Pforte: 1. Ernennung eines österreichischen und eines russischen speziellen<lb/>
Zivilagenten, die den Generalgouvemeur überall zu begleiten und ihn auf<lb/>
alles hinzuweisen haben, was ihnen bzw. ihren Regierungen in den maze¬<lb/>
donischen Vilajets zu tun oder zu unterlassen nötig erscheint; 2. die Organi¬<lb/>
sation der Gendarmerie ist, in Anbetracht der geringen Bewährung der<lb/>
&#x2014; nach russischem Protest gegen die dentschen &#x2014; vom Sultan angestellten<lb/>
schwedischen Offiziere, einem fremdländischen General in türkischen Diensten<lb/>
anzuvertrauen, und es sind diesem General Offiziere der Großmächte beizu¬<lb/>
ordnen, die sich in den verschiednen, nach Vereinbarung untereinander zu ver¬<lb/>
teilenden Bezirken als Kontrolleure, Instrukteure und Orgcmisatenre zu be¬<lb/>
tätigen haben, und die nach Ermessen eine Anzahl von fremdländischen<lb/>
Offizieren und Unteroffizieren zu ihrer Unterstützung verlangen dürfen; 3. Modi¬<lb/>
fikation der territorialen Umgrenzung der Verwaltungseinheiten unter dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0067] Der Stand des Balkanproblems Indessen gaben neue Unruhen, die sich in Mazedonien nud Albanien er¬ eigneten und abermals in der Hauptsache auf Bulgarien zurückgingen, Öster¬ reich und Nußland Veranlassung, abgesehen von Maßnahmen zum direkten Schutze ihrer bedroht erscheinenden eignen Untertanen, den Sultan neuerdings zur energischen Durchführung der Reformen zu ernähren und von den andern Großmächten die diplomatische Unterstützung dieser Mahnung nachzusuchen, die auch gewährt wurde. Als der Sultan dann zur Unterdrückung der Unruhen Truppen schickte und diese Truppen ihre Mission übertrieben, indem sie auch ihrerseits in Gewalttätigkeiten über das gebührende Maß hinausgingen, wußten Österreich und Rußland nichts andres zu tun, als in Mürzsteg „eine wirk¬ samere Weise der Kontrolle und Überwachung" der Hohen Pforte wie „die Unterstützung der jedes Existenzmittels beraubten Bevölkerung, die Erleichterung der Heimkehr der Flüchtlinge und die Wiederherstellung der von den Feuers¬ brünsten zerstörten Dörfer, Kirchen und Schulen" zu beschließen. England, das zu diesem Zwecke ein Einvernehmen mit Italien suchte, bemühte sich, sobald ihm die österreichisch-russischen Absichten bekannt wurden, um einen wenn möglich militärischen Ausdruck jener verstärkten Kontrolle und Über¬ wachung der Hohen Pforte durch die Großmächte, und in Wien und Peters¬ burg trug man dem englischen Bemühen in der Tat Rechnung. Österreich und Rußland versäumten keine Gelegenheit, ihre Unparteilich¬ keit und ihr ä^sintsresssrniziit als bestimmende Motive ihrer balkanischen Aktion an den Tag zu legen. Nichtsdestoweniger unterließen sie, den unver¬ kennbaren und berechtigten Wunsch Italiens und wohl auch der übrigen Firmatare des Berliner Vertrags, vor dem Beginn der alle Mächte moralisch und in gewissem Betracht auch praktisch engagierenden diplomatischen Ma߬ nahmen bei der Hohen Pforte von deren Inhalt und Charakter vollständig unterrichtet zu werden, zu erfüllen. Das Mürzsteger sogenannte Programm wurde am 22. Oktober 1903 zuerst der Pforte zur Kenntnis gebracht und am 24. Oktober den Mächten. Es enthielt folgende Forderungen zu Lasten der Pforte: 1. Ernennung eines österreichischen und eines russischen speziellen Zivilagenten, die den Generalgouvemeur überall zu begleiten und ihn auf alles hinzuweisen haben, was ihnen bzw. ihren Regierungen in den maze¬ donischen Vilajets zu tun oder zu unterlassen nötig erscheint; 2. die Organi¬ sation der Gendarmerie ist, in Anbetracht der geringen Bewährung der — nach russischem Protest gegen die dentschen — vom Sultan angestellten schwedischen Offiziere, einem fremdländischen General in türkischen Diensten anzuvertrauen, und es sind diesem General Offiziere der Großmächte beizu¬ ordnen, die sich in den verschiednen, nach Vereinbarung untereinander zu ver¬ teilenden Bezirken als Kontrolleure, Instrukteure und Orgcmisatenre zu be¬ tätigen haben, und die nach Ermessen eine Anzahl von fremdländischen Offizieren und Unteroffizieren zu ihrer Unterstützung verlangen dürfen; 3. Modi¬ fikation der territorialen Umgrenzung der Verwaltungseinheiten unter dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/67
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/67>, abgerufen am 25.08.2024.