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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand dos Balkanproblems

Beachtung zu würdigen. Nur Frankreich oder vielmehr Herr Delcasse, dem
Graf Lamsdorff persönlich die politische Opportunist zu empfehlen für nötig
befunden hatte, stellte sich voll in den Dienst der russisch-österreichischen Ab¬
sichten.

Die Pforte lenkte, nachdem sie auf ihre effektiven Leistungen im Sinne
der europäischen Reformpläne vergeblich hingewiesen hatte, ein, und es kam
auf die bekannte langsame Weise zu einer gewissen Verwirklichung des einen
und andern Punktes des Mürzsteger Programms. Man darf sagen, daß die
Schwierigkeiten nicht mehr so sehr von feiten der Pforte kamen, die durch
Nachgiebigkeit gegen die Ansprüche der "Mandatare Europas" am besten ihr
diplomatisches Spiel spielen und ihre innerpolitischen Interessen wahren zu
können hoffen mochte, als von feiten der Mächte Europas selbst, die bei
jedem praktischen Schritt in der Reformaktion alle Möglichkeiten einer
Schmälerung ihrer nähern und fernern Sonderinteresfen ausdrücklich ausge¬
schlossen sehen wollten und einander nicht über den Weg trauten. Italien
wurde, als mau mit der Organisation der Gendarmerie an den Kern der
Reformen zu rühren begann, dadurch versöhnt, daß Österreich anregte und
Rußland billigte, daß ein italienischer General der Organisator der maze¬
donischen Gendarmerie werden sollte und in der Person von De Giorgis
wurde; Nußland, das bei früherer Gelegenheit gegen deutsche Gendarmerie¬
organisatoren zu protestieren beliebt hatte, unterließ also gegen die doch auch
einer Großmacht zugehörenden italienischen jeden Einwand, und auch Österreich
bequemte sich hiermit wohl oder übel zu der Anerkennung eines besondern
Interesses Italiens an der unmittelbaren Mitwirkung am mazedonischen
Beruhigungswerk. Während die Ernennung des österreichischen Generalkonsuls
von Müller und des russischen Generalkonsuls Demerick zu Zivilagenten in
Mazedonien unbeanstandet (oder richtiger: "nur" von der Türkei beanstandet)
erfolgte, brachte die Angelegenheit der Entsendung von Offizieren, die den
Generalstab von De Giorgis bilden sollten, zu Anfang 1904 einen neuen
kritischen Punkt hervor, da Italien ohne Rücksicht auf den in türkische Dienste
eingetretnen General De Giorgis ebensoviel Offiziere detachieren wollte wie
die andern Mächte und mit Bezug auf Österreich und Rußland, die diesem
italienischen Wunsche aus naheliegenden Gründen wenig geneigt waren, aus¬
zusprechen für nötig fand, daß es "mit der größten Sorgfalt wachen müsse,
damit nicht das Konzert der Mächte, worin es die größte Garantie seiner
Interessen sehe, geschwächt oder ausgeschaltet werde". Wie hierbei, so später
bei der zu nicht minder bedenklichen internationalen Erörterungen Anlaß
gebenden Frage der Aufteilung der Distrikte unter die Gendarmerieoffiziere der
verschiednen Großmächte war es England, das Italien sekundierte; beide
Mächte gaben außer in Konstantinopel in Wien und Petersburg aufs be¬
stimmteste zu verstehen, daß sie generell das Recht für sich in Anspruch nähmen,
in jeder Phase der Organisation der mazedonischen Gendarmerie unter den


Der Stand dos Balkanproblems

Beachtung zu würdigen. Nur Frankreich oder vielmehr Herr Delcasse, dem
Graf Lamsdorff persönlich die politische Opportunist zu empfehlen für nötig
befunden hatte, stellte sich voll in den Dienst der russisch-österreichischen Ab¬
sichten.

Die Pforte lenkte, nachdem sie auf ihre effektiven Leistungen im Sinne
der europäischen Reformpläne vergeblich hingewiesen hatte, ein, und es kam
auf die bekannte langsame Weise zu einer gewissen Verwirklichung des einen
und andern Punktes des Mürzsteger Programms. Man darf sagen, daß die
Schwierigkeiten nicht mehr so sehr von feiten der Pforte kamen, die durch
Nachgiebigkeit gegen die Ansprüche der „Mandatare Europas" am besten ihr
diplomatisches Spiel spielen und ihre innerpolitischen Interessen wahren zu
können hoffen mochte, als von feiten der Mächte Europas selbst, die bei
jedem praktischen Schritt in der Reformaktion alle Möglichkeiten einer
Schmälerung ihrer nähern und fernern Sonderinteresfen ausdrücklich ausge¬
schlossen sehen wollten und einander nicht über den Weg trauten. Italien
wurde, als mau mit der Organisation der Gendarmerie an den Kern der
Reformen zu rühren begann, dadurch versöhnt, daß Österreich anregte und
Rußland billigte, daß ein italienischer General der Organisator der maze¬
donischen Gendarmerie werden sollte und in der Person von De Giorgis
wurde; Nußland, das bei früherer Gelegenheit gegen deutsche Gendarmerie¬
organisatoren zu protestieren beliebt hatte, unterließ also gegen die doch auch
einer Großmacht zugehörenden italienischen jeden Einwand, und auch Österreich
bequemte sich hiermit wohl oder übel zu der Anerkennung eines besondern
Interesses Italiens an der unmittelbaren Mitwirkung am mazedonischen
Beruhigungswerk. Während die Ernennung des österreichischen Generalkonsuls
von Müller und des russischen Generalkonsuls Demerick zu Zivilagenten in
Mazedonien unbeanstandet (oder richtiger: „nur" von der Türkei beanstandet)
erfolgte, brachte die Angelegenheit der Entsendung von Offizieren, die den
Generalstab von De Giorgis bilden sollten, zu Anfang 1904 einen neuen
kritischen Punkt hervor, da Italien ohne Rücksicht auf den in türkische Dienste
eingetretnen General De Giorgis ebensoviel Offiziere detachieren wollte wie
die andern Mächte und mit Bezug auf Österreich und Rußland, die diesem
italienischen Wunsche aus naheliegenden Gründen wenig geneigt waren, aus¬
zusprechen für nötig fand, daß es „mit der größten Sorgfalt wachen müsse,
damit nicht das Konzert der Mächte, worin es die größte Garantie seiner
Interessen sehe, geschwächt oder ausgeschaltet werde". Wie hierbei, so später
bei der zu nicht minder bedenklichen internationalen Erörterungen Anlaß
gebenden Frage der Aufteilung der Distrikte unter die Gendarmerieoffiziere der
verschiednen Großmächte war es England, das Italien sekundierte; beide
Mächte gaben außer in Konstantinopel in Wien und Petersburg aufs be¬
stimmteste zu verstehen, daß sie generell das Recht für sich in Anspruch nähmen,
in jeder Phase der Organisation der mazedonischen Gendarmerie unter den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/69>, abgerufen am 25.08.2024.