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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Englische Gedanken über kriegerische Macht

und verzehrte 9^ Millionen Viertelzentner Weizen eigner und 34^ Millionen
fremder Produktion. Die Flotte ist demnach heute verantwortlich für den Schutz
der Kornzufuhr von 78^ Prozent der Bevölkerung.

Das aber ist nur eine und noch nicht einmal die Hauptaufgabe der
britischen Flotte!

Der Schluß der gesamten Beweisführung in Anbetracht der britischen
Flotte aber lautet, daß auch ihre Vermehrung nicht Schritt gehalten hat mit
dem Wachstum des Reiches, mit der bedeutenden Vergrößerung und Steigerung
der ihr zufallenden Aufgaben einerseits und mit dem Anwachsen der See-
streitkrüfte der andern Mächte andrerseits. Daß eine Beweisführung zu¬
gunsten einer Stärkung und Vermehrung der kriegerischen Machtmittel Gro߬
britanniens das gefürchtete Gespenst der "Landungsgefahr" nicht unbeachtet
lassen konnte, ist ohne weiteres klar. Die Darstellung der Möglichkeit einer
Landung fremder Truppen auf englischem Boden ist sehr klar und überzeugend;
sie hier wiederzugeben, würde aber zuweit führen. Es soll nur kurz erwähnt
werden, in welcher Art der Beweis geführt wird.

Sagt man, eine Landung sei unmöglich, so heißt das entweder, erstens
die britische Flotte sei unbesiegbar, oder zweitens ihr zu entrinnen sei un¬
möglich, oder drittens es sei dem Gegner unmöglich, eine genügend starke
Truppenmacht überzusetzen. Diese sämtlichen drei Behauptungen lassen sich
aber, wie an zahlreichen geschichtlichen Beispielen und an der Hand statistischen
Materials nachgewiesen wird, keineswegs aufrecht erhalten. Die Möglichkeit
einer Landung fremder Truppen auf englischem Boden muß also wohl ein¬
geräumt werden.

Eine Betrachtung der politischen Beziehungen Englands zu den übrigen
Mächten versucht ferner zu zeigen, daß im allgemeinen England auch auf
diesem Gebiete vor hundert Jahren günstigere Verhältnisse gehabt habe als
heutzutage. Wird an der Hand dieser verschiednen Betrachtungen nachzuweisen
versucht, daß die Entwicklung der britischen Wehrmacht nicht mit dem Ausbau
des Weltreichs Schritt gehalten habe, und daß die gesamte Lage Englands
heute ungünstiger sei als vor hundert Jahren, so wird weiterhin auf die an¬
zustrebende Gestaltung des Heerwesens mit besonderm Hinblick auf die all¬
gemeine Wehrpflicht eingegangen. Mit Nachdruck wird den dem englischen
Publikum regelmäßig vorgesetzten Phrasen: "die allgemeine Wehrpflicht wider¬
strebe den Gefühlen der Nation" oder "sie könne in einem Lande, wo das
Gefühl der Freiheit und das Selbstbewußtsein jedes Einzelnen so hoch ent¬
wickelt sei, unmöglich geduldet werden", entgegengetreten. Schon das auf
"freiwilligem" Eintritt aufgebaute reguläre Heer wird als ungenügend be¬
zeichnet. "Mangel und Hunger sind zum Unheil des Landes die unsichtbaren
Werbeunteroffiziere für einen großen Teil des Heeres." Dabei ist die Zahl
der freiwillig eintretenden noch immer so gering, daß sie in gewöhnlichen
Zeiten nicht ausreicht, die gesetzlich festgelegte Heeresstärke zu erreichen. Zudem


Englische Gedanken über kriegerische Macht

und verzehrte 9^ Millionen Viertelzentner Weizen eigner und 34^ Millionen
fremder Produktion. Die Flotte ist demnach heute verantwortlich für den Schutz
der Kornzufuhr von 78^ Prozent der Bevölkerung.

Das aber ist nur eine und noch nicht einmal die Hauptaufgabe der
britischen Flotte!

Der Schluß der gesamten Beweisführung in Anbetracht der britischen
Flotte aber lautet, daß auch ihre Vermehrung nicht Schritt gehalten hat mit
dem Wachstum des Reiches, mit der bedeutenden Vergrößerung und Steigerung
der ihr zufallenden Aufgaben einerseits und mit dem Anwachsen der See-
streitkrüfte der andern Mächte andrerseits. Daß eine Beweisführung zu¬
gunsten einer Stärkung und Vermehrung der kriegerischen Machtmittel Gro߬
britanniens das gefürchtete Gespenst der „Landungsgefahr" nicht unbeachtet
lassen konnte, ist ohne weiteres klar. Die Darstellung der Möglichkeit einer
Landung fremder Truppen auf englischem Boden ist sehr klar und überzeugend;
sie hier wiederzugeben, würde aber zuweit führen. Es soll nur kurz erwähnt
werden, in welcher Art der Beweis geführt wird.

Sagt man, eine Landung sei unmöglich, so heißt das entweder, erstens
die britische Flotte sei unbesiegbar, oder zweitens ihr zu entrinnen sei un¬
möglich, oder drittens es sei dem Gegner unmöglich, eine genügend starke
Truppenmacht überzusetzen. Diese sämtlichen drei Behauptungen lassen sich
aber, wie an zahlreichen geschichtlichen Beispielen und an der Hand statistischen
Materials nachgewiesen wird, keineswegs aufrecht erhalten. Die Möglichkeit
einer Landung fremder Truppen auf englischem Boden muß also wohl ein¬
geräumt werden.

Eine Betrachtung der politischen Beziehungen Englands zu den übrigen
Mächten versucht ferner zu zeigen, daß im allgemeinen England auch auf
diesem Gebiete vor hundert Jahren günstigere Verhältnisse gehabt habe als
heutzutage. Wird an der Hand dieser verschiednen Betrachtungen nachzuweisen
versucht, daß die Entwicklung der britischen Wehrmacht nicht mit dem Ausbau
des Weltreichs Schritt gehalten habe, und daß die gesamte Lage Englands
heute ungünstiger sei als vor hundert Jahren, so wird weiterhin auf die an¬
zustrebende Gestaltung des Heerwesens mit besonderm Hinblick auf die all¬
gemeine Wehrpflicht eingegangen. Mit Nachdruck wird den dem englischen
Publikum regelmäßig vorgesetzten Phrasen: „die allgemeine Wehrpflicht wider¬
strebe den Gefühlen der Nation" oder „sie könne in einem Lande, wo das
Gefühl der Freiheit und das Selbstbewußtsein jedes Einzelnen so hoch ent¬
wickelt sei, unmöglich geduldet werden", entgegengetreten. Schon das auf
„freiwilligem" Eintritt aufgebaute reguläre Heer wird als ungenügend be¬
zeichnet. „Mangel und Hunger sind zum Unheil des Landes die unsichtbaren
Werbeunteroffiziere für einen großen Teil des Heeres." Dabei ist die Zahl
der freiwillig eintretenden noch immer so gering, daß sie in gewöhnlichen
Zeiten nicht ausreicht, die gesetzlich festgelegte Heeresstärke zu erreichen. Zudem


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[0670] Englische Gedanken über kriegerische Macht und verzehrte 9^ Millionen Viertelzentner Weizen eigner und 34^ Millionen fremder Produktion. Die Flotte ist demnach heute verantwortlich für den Schutz der Kornzufuhr von 78^ Prozent der Bevölkerung. Das aber ist nur eine und noch nicht einmal die Hauptaufgabe der britischen Flotte! Der Schluß der gesamten Beweisführung in Anbetracht der britischen Flotte aber lautet, daß auch ihre Vermehrung nicht Schritt gehalten hat mit dem Wachstum des Reiches, mit der bedeutenden Vergrößerung und Steigerung der ihr zufallenden Aufgaben einerseits und mit dem Anwachsen der See- streitkrüfte der andern Mächte andrerseits. Daß eine Beweisführung zu¬ gunsten einer Stärkung und Vermehrung der kriegerischen Machtmittel Gro߬ britanniens das gefürchtete Gespenst der „Landungsgefahr" nicht unbeachtet lassen konnte, ist ohne weiteres klar. Die Darstellung der Möglichkeit einer Landung fremder Truppen auf englischem Boden ist sehr klar und überzeugend; sie hier wiederzugeben, würde aber zuweit führen. Es soll nur kurz erwähnt werden, in welcher Art der Beweis geführt wird. Sagt man, eine Landung sei unmöglich, so heißt das entweder, erstens die britische Flotte sei unbesiegbar, oder zweitens ihr zu entrinnen sei un¬ möglich, oder drittens es sei dem Gegner unmöglich, eine genügend starke Truppenmacht überzusetzen. Diese sämtlichen drei Behauptungen lassen sich aber, wie an zahlreichen geschichtlichen Beispielen und an der Hand statistischen Materials nachgewiesen wird, keineswegs aufrecht erhalten. Die Möglichkeit einer Landung fremder Truppen auf englischem Boden muß also wohl ein¬ geräumt werden. Eine Betrachtung der politischen Beziehungen Englands zu den übrigen Mächten versucht ferner zu zeigen, daß im allgemeinen England auch auf diesem Gebiete vor hundert Jahren günstigere Verhältnisse gehabt habe als heutzutage. Wird an der Hand dieser verschiednen Betrachtungen nachzuweisen versucht, daß die Entwicklung der britischen Wehrmacht nicht mit dem Ausbau des Weltreichs Schritt gehalten habe, und daß die gesamte Lage Englands heute ungünstiger sei als vor hundert Jahren, so wird weiterhin auf die an¬ zustrebende Gestaltung des Heerwesens mit besonderm Hinblick auf die all¬ gemeine Wehrpflicht eingegangen. Mit Nachdruck wird den dem englischen Publikum regelmäßig vorgesetzten Phrasen: „die allgemeine Wehrpflicht wider¬ strebe den Gefühlen der Nation" oder „sie könne in einem Lande, wo das Gefühl der Freiheit und das Selbstbewußtsein jedes Einzelnen so hoch ent¬ wickelt sei, unmöglich geduldet werden", entgegengetreten. Schon das auf „freiwilligem" Eintritt aufgebaute reguläre Heer wird als ungenügend be¬ zeichnet. „Mangel und Hunger sind zum Unheil des Landes die unsichtbaren Werbeunteroffiziere für einen großen Teil des Heeres." Dabei ist die Zahl der freiwillig eintretenden noch immer so gering, daß sie in gewöhnlichen Zeiten nicht ausreicht, die gesetzlich festgelegte Heeresstärke zu erreichen. Zudem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/670>, abgerufen am 01.07.2024.