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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand des Balkanprobleins

von Christen unter die Polizei-, Gendarmerie- und Feldwachtfunktionäre, um
Amnestie für politische Vergehen und um exaktere und für jedes Vilajet
möglichst autonome Finanzgebarung. Da Österreich und Rußland die Unter¬
stützung ihrer Vorschlüge durch die Kabinette der übrigen Firmatarmächte des
Berliner Vertrags ohne besondre Schwierigkeit zugesichert erhielten, so nahm
der Sultan diese Vorschläge, die sich ohnehin in der Richtung seiner eignen
schon amtlich verkündeten Entschließungen bewegten und ihm etwas mundeten,
das überhaupt und so oder so zu verwirklichen scheinbar bei ihm selbst stand,
freundlich und prompt an.

Die Eintracht der Großmächte, die hier zur Erscheinung gekommen war,
hatte kein starkes Fundament. In England hatte man für Schonung der
Türkei wenig übrig, hegte man auch für eigne Rechnung und wegen der
internationalen Verwicklungen allerhand Spekulationen auf das türkische Erbe,
war man jedenfalls aus christlich-humanitären Motiven für eine möglichst
radikale Umgestaltung der gesamten rumelischen Verhältnisse. In Deutsch¬
land wollte man im Gegenteil die weitestmögliche Schonung der Türkei und
entsprechend Integrität ihrer territorialen und politischen Wesenheit, war aber,
um im eignen Interesse den Sultan nicht zu verschnupfen und zugleich doch
auch die gute Nachbarschaft nicht zu verscherze", am liebsten außerhalb der
die Türkei betreffenden diplomatischen Aktionen. In Italien endlich hatte
man seine Bedenken gegen das Vorrecht und gegen das vorherrschende Inter¬
esse, das Österreich und Rußland in Balkansachen besitzen wollten, und die
Consulta konnte, wenngleich das Wiener Kabinett der besondern Stellung
Italiens Rechnung tragen zu wollen versichert hatte, sich nicht enthalten, am
5. März 1903 den italienischen Botschafter in Konstantinopel darauf zu ver¬
weisen, daß "in den Balkandingen Italien wachsam und geschäftig sein müsse
in so großem und so wirksamen Maße, als sowohl den durch allgemeine
Verträge und besondre Vereinbarungen erworbnen wie namentlich den aus der
Nähe der Gegend und den wechselseitigen Beziehungen Italiens mit der Balkan¬
halbinsel abzuleitenden Rechten Italiens entspreche".

Österreich und Rußland beauftragten ihre Konsuln, sich um die Aus¬
führung der dem Sultan aufgenötigten und von ihm s, priori angenommnen
Reformen im einzelnen zu kümmern, auf die Valis und den Generalinspektor
entsprechenden Druck direkt auszuüben und ihre Regierungen aufs genauste
über alle Vorgänge unterrichtet zu halten. Als der Sultan gemäß dem
österreichisch-russischen Wunsche ausländische Spezialisten für die mazedonische
Polizei und Gendarmerie berufen und in diesem Sinne die beiden in türkischen
Heeresdiensten bewährten reichsdeutschen Offiziere Rudgisch und Anker nebst
einigen erst noch von der deutschen Reichsregierung zu erbitterten Kameraden
anstellen wollte, beliebte die russische Regierung Einwände zu erheben und
dem Sultan anstatt der deutschen Offiziere solche irgendeines Kleinstaates zu
empfehlen. Der Sultan wandte sich demzufolge nach Schweden und Norwegen.


Der Stand des Balkanprobleins

von Christen unter die Polizei-, Gendarmerie- und Feldwachtfunktionäre, um
Amnestie für politische Vergehen und um exaktere und für jedes Vilajet
möglichst autonome Finanzgebarung. Da Österreich und Rußland die Unter¬
stützung ihrer Vorschlüge durch die Kabinette der übrigen Firmatarmächte des
Berliner Vertrags ohne besondre Schwierigkeit zugesichert erhielten, so nahm
der Sultan diese Vorschläge, die sich ohnehin in der Richtung seiner eignen
schon amtlich verkündeten Entschließungen bewegten und ihm etwas mundeten,
das überhaupt und so oder so zu verwirklichen scheinbar bei ihm selbst stand,
freundlich und prompt an.

Die Eintracht der Großmächte, die hier zur Erscheinung gekommen war,
hatte kein starkes Fundament. In England hatte man für Schonung der
Türkei wenig übrig, hegte man auch für eigne Rechnung und wegen der
internationalen Verwicklungen allerhand Spekulationen auf das türkische Erbe,
war man jedenfalls aus christlich-humanitären Motiven für eine möglichst
radikale Umgestaltung der gesamten rumelischen Verhältnisse. In Deutsch¬
land wollte man im Gegenteil die weitestmögliche Schonung der Türkei und
entsprechend Integrität ihrer territorialen und politischen Wesenheit, war aber,
um im eignen Interesse den Sultan nicht zu verschnupfen und zugleich doch
auch die gute Nachbarschaft nicht zu verscherze», am liebsten außerhalb der
die Türkei betreffenden diplomatischen Aktionen. In Italien endlich hatte
man seine Bedenken gegen das Vorrecht und gegen das vorherrschende Inter¬
esse, das Österreich und Rußland in Balkansachen besitzen wollten, und die
Consulta konnte, wenngleich das Wiener Kabinett der besondern Stellung
Italiens Rechnung tragen zu wollen versichert hatte, sich nicht enthalten, am
5. März 1903 den italienischen Botschafter in Konstantinopel darauf zu ver¬
weisen, daß „in den Balkandingen Italien wachsam und geschäftig sein müsse
in so großem und so wirksamen Maße, als sowohl den durch allgemeine
Verträge und besondre Vereinbarungen erworbnen wie namentlich den aus der
Nähe der Gegend und den wechselseitigen Beziehungen Italiens mit der Balkan¬
halbinsel abzuleitenden Rechten Italiens entspreche".

Österreich und Rußland beauftragten ihre Konsuln, sich um die Aus¬
führung der dem Sultan aufgenötigten und von ihm s, priori angenommnen
Reformen im einzelnen zu kümmern, auf die Valis und den Generalinspektor
entsprechenden Druck direkt auszuüben und ihre Regierungen aufs genauste
über alle Vorgänge unterrichtet zu halten. Als der Sultan gemäß dem
österreichisch-russischen Wunsche ausländische Spezialisten für die mazedonische
Polizei und Gendarmerie berufen und in diesem Sinne die beiden in türkischen
Heeresdiensten bewährten reichsdeutschen Offiziere Rudgisch und Anker nebst
einigen erst noch von der deutschen Reichsregierung zu erbitterten Kameraden
anstellen wollte, beliebte die russische Regierung Einwände zu erheben und
dem Sultan anstatt der deutschen Offiziere solche irgendeines Kleinstaates zu
empfehlen. Der Sultan wandte sich demzufolge nach Schweden und Norwegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/66>, abgerufen am 22.07.2024.