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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Deutsch - amerikanische Angelegenheiten

und Zwecke. In dieser Welt gibts wohl für mich eine neue Heimat, odi
Iibertg.3, ibi xatria." Das ist sein Standpunkt gewesen und geblieben. Die
Erinnerungen finden darum auch kein Wort dafür, daß das Deutsche Reich die
Hoffnungen des "Erweckungsjahres", die Sehnsucht einer vielverkannten Zeit
doch im wesentlichen erfüllt hat. Auch die Rede Karl Schurzens am 6. Oktober 1906
vor dem deutschen Hause der Weltausstellung in Se. Louis enthielt davon
nichts -- zur großen Enttäuschung der spätern Deutschamerikaner, die dem
Deutschen Reiche mit andern Gefühlen gegenüberstehn. Über das Jahr 1848,
den Aufstand im folgenden Jahre, die abenteuerliche Flucht Schurzens aus
Rastatt wie die kühne Befreiung Kinkels aus Spandau und das Flüchtlings¬
leben enthalten die Erinnerungen sehr Lesenswertes, wenn auch kaum viel Neues.

Heinrich Hilgard, der sich in Amerika Villard nannte, ist kein politischer
Flüchtling, sondern ein Jüngerer, der erst am 18. Oktober 1853 als verun¬
glückter deutscher Student in Newyork eintraf. Er sagt ganz offen: "Wäre
ich in Deutschland geblieben, so hätte ich mich wohl kaum vor dem Untergange
retten können. In diesem Sinne allein kann meine Auswanderung zwar nicht
als gerechtfertigt, aber als eine wohltätige Fügung betrachtet werden." Aus
einer angesehenen und wohlhabenden Pfälzer Familie stammend, machte er eine
genußreiche Jugend durch, doch scheint die Erziehung trotz gelegentlicher Strenge
ein wenig des kategorischen Imperativs entbehrt zu haben. Begabt, aber ohne
rechtes Sitzfleisch und Neigung zu einem bestimmten Beruf floh der im neun¬
zehnten Jahre stehende Jüngling, nachdem er schon umgesattelt hatte, wegen
Schulden und Unlust zu einem Berussstudium, ans Furcht vor der Strenge des
Vaters nach Amerika, wo er zunächst ein Jahr lang das Leben eines mittel¬
losen Einwandrers führte, dann mit Unterstützung in den Vereinigten Staaten
lebender Verwandter und seines Vaters sich zum Rechtsanwalt ausbilden sollte,
woraus aber wieder nichts wurde. Durch Teilnahme am politischen Leben
veranlaßt, begann er, sich auf journalistische Arbeiten zu werfen, war Redakteur
und Berichterstatter, inzwischen auch einmal Lehrer und faßte 1858 schließlich
festen Fuß bei der Presse als Berichterstatter aus den Goldfeldern in den
Rocky Mountains. Die Wahl Lincolns und der Sezessionskrieg befestigten diese
Stellung und verhalfen ihm zu einem gesicherten und hohen Einkommen,
schließlich gründete er 1864 eine Nachrichtenagentur. In den nächsten Jahren
hielt er sich als Vertreter großer amerikanischer Zeitungen vielfach in Europa
auf. Als solcher wurde er von deutschen Geldleuten, die an amerikanischen
Eisenbahnpapieren Geld verloren hatten, zu Rate gezogen und geriet dadurch
auf das Gebiet der Börsenspekulation.

Der davon handelnde zweite Teil der Erinnerungen ist leider nicht so
ausführlich gehalten wie der vorhergehende, es ist manches nur zwischen den
Zeilen oder auch gar nicht zu lesen. Trotzdem ist es interessant, einen tiefen
Blick in das Treiben amerikanischer Eisenbahntrusters werfen zu können, von
denen Hilgard-Villard einer der größten geworden war. Vor wenig Jahren


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und Zwecke. In dieser Welt gibts wohl für mich eine neue Heimat, odi
Iibertg.3, ibi xatria." Das ist sein Standpunkt gewesen und geblieben. Die
Erinnerungen finden darum auch kein Wort dafür, daß das Deutsche Reich die
Hoffnungen des „Erweckungsjahres", die Sehnsucht einer vielverkannten Zeit
doch im wesentlichen erfüllt hat. Auch die Rede Karl Schurzens am 6. Oktober 1906
vor dem deutschen Hause der Weltausstellung in Se. Louis enthielt davon
nichts — zur großen Enttäuschung der spätern Deutschamerikaner, die dem
Deutschen Reiche mit andern Gefühlen gegenüberstehn. Über das Jahr 1848,
den Aufstand im folgenden Jahre, die abenteuerliche Flucht Schurzens aus
Rastatt wie die kühne Befreiung Kinkels aus Spandau und das Flüchtlings¬
leben enthalten die Erinnerungen sehr Lesenswertes, wenn auch kaum viel Neues.

Heinrich Hilgard, der sich in Amerika Villard nannte, ist kein politischer
Flüchtling, sondern ein Jüngerer, der erst am 18. Oktober 1853 als verun¬
glückter deutscher Student in Newyork eintraf. Er sagt ganz offen: „Wäre
ich in Deutschland geblieben, so hätte ich mich wohl kaum vor dem Untergange
retten können. In diesem Sinne allein kann meine Auswanderung zwar nicht
als gerechtfertigt, aber als eine wohltätige Fügung betrachtet werden." Aus
einer angesehenen und wohlhabenden Pfälzer Familie stammend, machte er eine
genußreiche Jugend durch, doch scheint die Erziehung trotz gelegentlicher Strenge
ein wenig des kategorischen Imperativs entbehrt zu haben. Begabt, aber ohne
rechtes Sitzfleisch und Neigung zu einem bestimmten Beruf floh der im neun¬
zehnten Jahre stehende Jüngling, nachdem er schon umgesattelt hatte, wegen
Schulden und Unlust zu einem Berussstudium, ans Furcht vor der Strenge des
Vaters nach Amerika, wo er zunächst ein Jahr lang das Leben eines mittel¬
losen Einwandrers führte, dann mit Unterstützung in den Vereinigten Staaten
lebender Verwandter und seines Vaters sich zum Rechtsanwalt ausbilden sollte,
woraus aber wieder nichts wurde. Durch Teilnahme am politischen Leben
veranlaßt, begann er, sich auf journalistische Arbeiten zu werfen, war Redakteur
und Berichterstatter, inzwischen auch einmal Lehrer und faßte 1858 schließlich
festen Fuß bei der Presse als Berichterstatter aus den Goldfeldern in den
Rocky Mountains. Die Wahl Lincolns und der Sezessionskrieg befestigten diese
Stellung und verhalfen ihm zu einem gesicherten und hohen Einkommen,
schließlich gründete er 1864 eine Nachrichtenagentur. In den nächsten Jahren
hielt er sich als Vertreter großer amerikanischer Zeitungen vielfach in Europa
auf. Als solcher wurde er von deutschen Geldleuten, die an amerikanischen
Eisenbahnpapieren Geld verloren hatten, zu Rate gezogen und geriet dadurch
auf das Gebiet der Börsenspekulation.

Der davon handelnde zweite Teil der Erinnerungen ist leider nicht so
ausführlich gehalten wie der vorhergehende, es ist manches nur zwischen den
Zeilen oder auch gar nicht zu lesen. Trotzdem ist es interessant, einen tiefen
Blick in das Treiben amerikanischer Eisenbahntrusters werfen zu können, von
denen Hilgard-Villard einer der größten geworden war. Vor wenig Jahren


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[0622] Deutsch - amerikanische Angelegenheiten und Zwecke. In dieser Welt gibts wohl für mich eine neue Heimat, odi Iibertg.3, ibi xatria." Das ist sein Standpunkt gewesen und geblieben. Die Erinnerungen finden darum auch kein Wort dafür, daß das Deutsche Reich die Hoffnungen des „Erweckungsjahres", die Sehnsucht einer vielverkannten Zeit doch im wesentlichen erfüllt hat. Auch die Rede Karl Schurzens am 6. Oktober 1906 vor dem deutschen Hause der Weltausstellung in Se. Louis enthielt davon nichts — zur großen Enttäuschung der spätern Deutschamerikaner, die dem Deutschen Reiche mit andern Gefühlen gegenüberstehn. Über das Jahr 1848, den Aufstand im folgenden Jahre, die abenteuerliche Flucht Schurzens aus Rastatt wie die kühne Befreiung Kinkels aus Spandau und das Flüchtlings¬ leben enthalten die Erinnerungen sehr Lesenswertes, wenn auch kaum viel Neues. Heinrich Hilgard, der sich in Amerika Villard nannte, ist kein politischer Flüchtling, sondern ein Jüngerer, der erst am 18. Oktober 1853 als verun¬ glückter deutscher Student in Newyork eintraf. Er sagt ganz offen: „Wäre ich in Deutschland geblieben, so hätte ich mich wohl kaum vor dem Untergange retten können. In diesem Sinne allein kann meine Auswanderung zwar nicht als gerechtfertigt, aber als eine wohltätige Fügung betrachtet werden." Aus einer angesehenen und wohlhabenden Pfälzer Familie stammend, machte er eine genußreiche Jugend durch, doch scheint die Erziehung trotz gelegentlicher Strenge ein wenig des kategorischen Imperativs entbehrt zu haben. Begabt, aber ohne rechtes Sitzfleisch und Neigung zu einem bestimmten Beruf floh der im neun¬ zehnten Jahre stehende Jüngling, nachdem er schon umgesattelt hatte, wegen Schulden und Unlust zu einem Berussstudium, ans Furcht vor der Strenge des Vaters nach Amerika, wo er zunächst ein Jahr lang das Leben eines mittel¬ losen Einwandrers führte, dann mit Unterstützung in den Vereinigten Staaten lebender Verwandter und seines Vaters sich zum Rechtsanwalt ausbilden sollte, woraus aber wieder nichts wurde. Durch Teilnahme am politischen Leben veranlaßt, begann er, sich auf journalistische Arbeiten zu werfen, war Redakteur und Berichterstatter, inzwischen auch einmal Lehrer und faßte 1858 schließlich festen Fuß bei der Presse als Berichterstatter aus den Goldfeldern in den Rocky Mountains. Die Wahl Lincolns und der Sezessionskrieg befestigten diese Stellung und verhalfen ihm zu einem gesicherten und hohen Einkommen, schließlich gründete er 1864 eine Nachrichtenagentur. In den nächsten Jahren hielt er sich als Vertreter großer amerikanischer Zeitungen vielfach in Europa auf. Als solcher wurde er von deutschen Geldleuten, die an amerikanischen Eisenbahnpapieren Geld verloren hatten, zu Rate gezogen und geriet dadurch auf das Gebiet der Börsenspekulation. Der davon handelnde zweite Teil der Erinnerungen ist leider nicht so ausführlich gehalten wie der vorhergehende, es ist manches nur zwischen den Zeilen oder auch gar nicht zu lesen. Trotzdem ist es interessant, einen tiefen Blick in das Treiben amerikanischer Eisenbahntrusters werfen zu können, von denen Hilgard-Villard einer der größten geworden war. Vor wenig Jahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/622>, abgerufen am 05.02.2025.