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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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bemerkbar, gewisse Eigenheiten des amerikanischen Reklamewesens in Buch¬
handel und Presse einzunisten. Bücher nach amerikanischem Muster mit dem
Thema: Wie erlangeich persönlichen Erfolg? nehmen zu und werden gekauft,
Reklameinserate mitten im Text finden sich in immer zahlreichern "geschäfts¬
mäßig" betriebnen Zeitungen. Ob sich solche Neuerungen halten werden, ist
fraglich, wünschenswert ist es nicht, wenigstens sollte sich das deutsche Buch
von dergleichen frei erhalten. Als Beweis für die Zunahme des Interesses an
allem amerikanischen Tun und Treiben kann man jedoch auch solche Verirrungen
hinnehmen, solange sie nicht zur Hauptsache gemacht werden. Bei der gegen¬
wärtigen politischen und geschäftlichen Weltlage kann alles, was die wirkliche
Kenntnis der eigenartigen Entwicklung Nordamerikas und seiner Beziehungen
zu Deutschland fördert, nur von Nutzen sein, der gesunde Sinn unsers Volks
wird das Nützliche davon annehmen, das seinem Wesen Widerstrebende dagegen
wieder fallen lassen.

Von diesem Standpunkt aus begrüßen wir mit besondrer Freude zwei
Bücher, die im Verlage von Georg Reimer in Berlin erschienen sind, die
Lebenserinnerungen zweier, in den letzten Jahrzehnten des vergangnen Jahr¬
hunderts viel genannter Deutschamerikaner, Karl Schurz und Heinrich Hilgard-
Villard.*) Hilgard-Villard nennt sich selbst "Bürger zweier Welten", beide sind
Söhne des deutschen Westens, von dem Treitschke bedauerte, daß ihm die
nationale Erhebung des Jahres 1813 nicht beschieden gewesen sei. Die Los¬
lösung vom Vaterlande mag ihnen darum leichter gefallen sein als der Mehrzahl
der deutschen Einwandrer, bei denen das nationale Heimweh nicht ausstirbt.
Die Lebenserinnerungen von Karl Schurz reichen in ihrem ersten Bande nur
bis zur Übersiedlung von England nach den Vereinigten Staaten im Sommer 1852.
Seiner Bedeutung als Deutschamerikaner sind die Grenzboten schon nach seinem
Tode gerecht geworden.**) Er steht in diesen Erinnerungen vollständig auf dem
Boden der alten Achtundvierziger. "Der Idealismus, der in dem republikanischen
Staatsbürger die höchste Verkörperung der Menschenwürde sah, war in uns
durch das Studium des klassischen Altertums genährt worden, und über alle
Zweifel, ob und wie die Republik in Deutschland eingeführt und inmitten des
europäischen Staatensystems behauptet werden könne, hals uns die Geschichte
der französischen Revolution hinweg." Als alle Hoffnungen darauf nach dem
Staatsstreich Louis Napoleons geschwunden waren, entschloß er sich, nach
Amerika zu gehn. "Die Ideale, von denen ich geträumt, und für die ich ge¬
kämpft, fände ich dort, wenn auch nicht voll verwirklicht, doch hoffnungsvoll
nach ganzer Verwirklichung strebend. In diesem Streben werde ich tätig mit¬
helfen können. Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer Ideen




Lebenserinnerungen von Karl Schurz. I. Band. Bis zum Jahre 1852. Berlin, Georg
Reimer, 1906. -- Lebenserinnerungen von Heinrich Hilgard-Villard. Ein Bürger zweier Welten,
bis 1900. Berlin, Georg Reimer. 1906.
Grenzboten 1906, Heft 39.
Grenzboten IV 1907 80
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bemerkbar, gewisse Eigenheiten des amerikanischen Reklamewesens in Buch¬
handel und Presse einzunisten. Bücher nach amerikanischem Muster mit dem
Thema: Wie erlangeich persönlichen Erfolg? nehmen zu und werden gekauft,
Reklameinserate mitten im Text finden sich in immer zahlreichern „geschäfts¬
mäßig" betriebnen Zeitungen. Ob sich solche Neuerungen halten werden, ist
fraglich, wünschenswert ist es nicht, wenigstens sollte sich das deutsche Buch
von dergleichen frei erhalten. Als Beweis für die Zunahme des Interesses an
allem amerikanischen Tun und Treiben kann man jedoch auch solche Verirrungen
hinnehmen, solange sie nicht zur Hauptsache gemacht werden. Bei der gegen¬
wärtigen politischen und geschäftlichen Weltlage kann alles, was die wirkliche
Kenntnis der eigenartigen Entwicklung Nordamerikas und seiner Beziehungen
zu Deutschland fördert, nur von Nutzen sein, der gesunde Sinn unsers Volks
wird das Nützliche davon annehmen, das seinem Wesen Widerstrebende dagegen
wieder fallen lassen.

Von diesem Standpunkt aus begrüßen wir mit besondrer Freude zwei
Bücher, die im Verlage von Georg Reimer in Berlin erschienen sind, die
Lebenserinnerungen zweier, in den letzten Jahrzehnten des vergangnen Jahr¬
hunderts viel genannter Deutschamerikaner, Karl Schurz und Heinrich Hilgard-
Villard.*) Hilgard-Villard nennt sich selbst „Bürger zweier Welten", beide sind
Söhne des deutschen Westens, von dem Treitschke bedauerte, daß ihm die
nationale Erhebung des Jahres 1813 nicht beschieden gewesen sei. Die Los¬
lösung vom Vaterlande mag ihnen darum leichter gefallen sein als der Mehrzahl
der deutschen Einwandrer, bei denen das nationale Heimweh nicht ausstirbt.
Die Lebenserinnerungen von Karl Schurz reichen in ihrem ersten Bande nur
bis zur Übersiedlung von England nach den Vereinigten Staaten im Sommer 1852.
Seiner Bedeutung als Deutschamerikaner sind die Grenzboten schon nach seinem
Tode gerecht geworden.**) Er steht in diesen Erinnerungen vollständig auf dem
Boden der alten Achtundvierziger. „Der Idealismus, der in dem republikanischen
Staatsbürger die höchste Verkörperung der Menschenwürde sah, war in uns
durch das Studium des klassischen Altertums genährt worden, und über alle
Zweifel, ob und wie die Republik in Deutschland eingeführt und inmitten des
europäischen Staatensystems behauptet werden könne, hals uns die Geschichte
der französischen Revolution hinweg." Als alle Hoffnungen darauf nach dem
Staatsstreich Louis Napoleons geschwunden waren, entschloß er sich, nach
Amerika zu gehn. „Die Ideale, von denen ich geträumt, und für die ich ge¬
kämpft, fände ich dort, wenn auch nicht voll verwirklicht, doch hoffnungsvoll
nach ganzer Verwirklichung strebend. In diesem Streben werde ich tätig mit¬
helfen können. Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer Ideen




Lebenserinnerungen von Karl Schurz. I. Band. Bis zum Jahre 1852. Berlin, Georg
Reimer, 1906. — Lebenserinnerungen von Heinrich Hilgard-Villard. Ein Bürger zweier Welten,
bis 1900. Berlin, Georg Reimer. 1906.
Grenzboten 1906, Heft 39.
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[0621] Deutsch - amerikanische Angelegenheiten bemerkbar, gewisse Eigenheiten des amerikanischen Reklamewesens in Buch¬ handel und Presse einzunisten. Bücher nach amerikanischem Muster mit dem Thema: Wie erlangeich persönlichen Erfolg? nehmen zu und werden gekauft, Reklameinserate mitten im Text finden sich in immer zahlreichern „geschäfts¬ mäßig" betriebnen Zeitungen. Ob sich solche Neuerungen halten werden, ist fraglich, wünschenswert ist es nicht, wenigstens sollte sich das deutsche Buch von dergleichen frei erhalten. Als Beweis für die Zunahme des Interesses an allem amerikanischen Tun und Treiben kann man jedoch auch solche Verirrungen hinnehmen, solange sie nicht zur Hauptsache gemacht werden. Bei der gegen¬ wärtigen politischen und geschäftlichen Weltlage kann alles, was die wirkliche Kenntnis der eigenartigen Entwicklung Nordamerikas und seiner Beziehungen zu Deutschland fördert, nur von Nutzen sein, der gesunde Sinn unsers Volks wird das Nützliche davon annehmen, das seinem Wesen Widerstrebende dagegen wieder fallen lassen. Von diesem Standpunkt aus begrüßen wir mit besondrer Freude zwei Bücher, die im Verlage von Georg Reimer in Berlin erschienen sind, die Lebenserinnerungen zweier, in den letzten Jahrzehnten des vergangnen Jahr¬ hunderts viel genannter Deutschamerikaner, Karl Schurz und Heinrich Hilgard- Villard.*) Hilgard-Villard nennt sich selbst „Bürger zweier Welten", beide sind Söhne des deutschen Westens, von dem Treitschke bedauerte, daß ihm die nationale Erhebung des Jahres 1813 nicht beschieden gewesen sei. Die Los¬ lösung vom Vaterlande mag ihnen darum leichter gefallen sein als der Mehrzahl der deutschen Einwandrer, bei denen das nationale Heimweh nicht ausstirbt. Die Lebenserinnerungen von Karl Schurz reichen in ihrem ersten Bande nur bis zur Übersiedlung von England nach den Vereinigten Staaten im Sommer 1852. Seiner Bedeutung als Deutschamerikaner sind die Grenzboten schon nach seinem Tode gerecht geworden.**) Er steht in diesen Erinnerungen vollständig auf dem Boden der alten Achtundvierziger. „Der Idealismus, der in dem republikanischen Staatsbürger die höchste Verkörperung der Menschenwürde sah, war in uns durch das Studium des klassischen Altertums genährt worden, und über alle Zweifel, ob und wie die Republik in Deutschland eingeführt und inmitten des europäischen Staatensystems behauptet werden könne, hals uns die Geschichte der französischen Revolution hinweg." Als alle Hoffnungen darauf nach dem Staatsstreich Louis Napoleons geschwunden waren, entschloß er sich, nach Amerika zu gehn. „Die Ideale, von denen ich geträumt, und für die ich ge¬ kämpft, fände ich dort, wenn auch nicht voll verwirklicht, doch hoffnungsvoll nach ganzer Verwirklichung strebend. In diesem Streben werde ich tätig mit¬ helfen können. Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer Ideen Lebenserinnerungen von Karl Schurz. I. Band. Bis zum Jahre 1852. Berlin, Georg Reimer, 1906. — Lebenserinnerungen von Heinrich Hilgard-Villard. Ein Bürger zweier Welten, bis 1900. Berlin, Georg Reimer. 1906. Grenzboten 1906, Heft 39. Grenzboten IV 1907 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/621>, abgerufen am 26.08.2024.