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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Über die Einseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Unterrichtsziel immer ein gefährlicher Übelstand ist. Um so zäher müssen wir
am lateinischen Stile festhalten. Fürs Griechische aber ist nun in Württemberg
das Skriptum -- wir sagen Komposition -- schon beim Abschluß von Unter¬
sekunda gestrichen und hat die Einübung der Grammatik schon im dritten Jahre
des Lernens "im wesentlichen bei der Lektüre zu geschehn", die damit wieder
zum oorxu8 vns der Grammatik erniedrigt wird. Das Komponieren ist "nicht
ausgeschlossen", also nur nebenbei gestattet. Wenn man nun jetzt schon wahr¬
nimmt, daß zum Beispiel die Bedeutung des Modus, eines der wichtigsten
sprachlichen Mittel für den feinern und meinem Ausdruck des Gedankens, von
den Schülern überwiegend nur noch tastend und ratend, unsicher und unklar
erfaßt wird, wie soll das vollends künftig werden? Auch in der Kasusbehand¬
lung begegnet der wichtige und vieldeutige Genetiv sehr oft einer ganz un¬
klaren Auffassung. Also gerade umgekehrt ist es: nicht zu viel Grammatik
treiben wir, sondern zu wenig, und eine gesunde Reaktion gegen diesen ober¬
flächlichen Dilettantismus muß das ernste Ziel eines jeden Freundes des
Gymnasiums sein. Die Grammatik ist für das Gymnasium -- um ein Bild
zu gebrauchen --, was der Mantel im Fiesko für den Herzog von Genua.
Fällt der Mantel, so muß der Herzog auch nach. Das wissen die klugem von
unsern Gegnern ganz wohl; daher das Schimpfen über die Grammatik. Ver¬
gessen es also auch wir nicht; hören wir auf den Ruf: Hilf, Genua, hilf!
hilf deinem Herzog!

6. Endlich -- last, not lsast, sagen die Zeitungschreiber gern, namentlich
die, die kein Englisch gelernt haben. So sage auch ich nach diesen berühmten
Mustern: die Hauptsache kommt zuletzt! Diese sehe ich in dem wachsenden
Stoffhunger, der sich auf allen Gebieten unsers Bildungslebens -- auch in
unserm Zeitungswesen --, insbesondre aber in der Jugendbildung breit macht
und eine freie und tiefe Gestaltung von Geist und Charakter immer mehr er¬
schwert. Ganz vergessen ist des mit Worten freilich vielgepriesnen Schillers
Spruch: "Wer etwas Treffliches leisten will, hätt gern was Großes geboren,
der sammle still und unerschlafft im kleinsten Punkte die höchste Kraft." Seit
einem Menschenalter und noch länger wird der Grundsatz sogar vom Throne
herab gepredigt: mrütg., sea raultuiri; seit einem Menschenalter und noch
länger sehn wir die Tatsache verwirklicht: 11011 Nirütum, ssÄ nirütg,. Der
kindliche Geist erscheint da gleichsam als ein Koffer, in den man alles einzu¬
packen sucht, was als nötig für die Lebensreise gilt, aber schon hübsch fertig,
wie es der Handwerksmann zu liefern versteht. Sein Umfang ist fest begrenzt,
aber des Krames, den er aufnehmen soll, wird immer mehr. So stopft und
stopft man denn immer mehr hinein. Die technischen Fortschritte in der Methode
des Stopfens reichen entfernt nicht aus, den Widerspruch zwischen Umfang
und Inhalt auszugleichen; denn das bekannte logische Gesetz vom umgekehrten
Verhältnis dieser beiden findet hier keine Anwendung. So wird der Koffer
rissig, zuletzt, wenn er schwach gebaut ist, gesprengt und geht aus den Fugen-


Über die Einseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Unterrichtsziel immer ein gefährlicher Übelstand ist. Um so zäher müssen wir
am lateinischen Stile festhalten. Fürs Griechische aber ist nun in Württemberg
das Skriptum — wir sagen Komposition — schon beim Abschluß von Unter¬
sekunda gestrichen und hat die Einübung der Grammatik schon im dritten Jahre
des Lernens „im wesentlichen bei der Lektüre zu geschehn", die damit wieder
zum oorxu8 vns der Grammatik erniedrigt wird. Das Komponieren ist „nicht
ausgeschlossen", also nur nebenbei gestattet. Wenn man nun jetzt schon wahr¬
nimmt, daß zum Beispiel die Bedeutung des Modus, eines der wichtigsten
sprachlichen Mittel für den feinern und meinem Ausdruck des Gedankens, von
den Schülern überwiegend nur noch tastend und ratend, unsicher und unklar
erfaßt wird, wie soll das vollends künftig werden? Auch in der Kasusbehand¬
lung begegnet der wichtige und vieldeutige Genetiv sehr oft einer ganz un¬
klaren Auffassung. Also gerade umgekehrt ist es: nicht zu viel Grammatik
treiben wir, sondern zu wenig, und eine gesunde Reaktion gegen diesen ober¬
flächlichen Dilettantismus muß das ernste Ziel eines jeden Freundes des
Gymnasiums sein. Die Grammatik ist für das Gymnasium — um ein Bild
zu gebrauchen —, was der Mantel im Fiesko für den Herzog von Genua.
Fällt der Mantel, so muß der Herzog auch nach. Das wissen die klugem von
unsern Gegnern ganz wohl; daher das Schimpfen über die Grammatik. Ver¬
gessen es also auch wir nicht; hören wir auf den Ruf: Hilf, Genua, hilf!
hilf deinem Herzog!

6. Endlich — last, not lsast, sagen die Zeitungschreiber gern, namentlich
die, die kein Englisch gelernt haben. So sage auch ich nach diesen berühmten
Mustern: die Hauptsache kommt zuletzt! Diese sehe ich in dem wachsenden
Stoffhunger, der sich auf allen Gebieten unsers Bildungslebens — auch in
unserm Zeitungswesen —, insbesondre aber in der Jugendbildung breit macht
und eine freie und tiefe Gestaltung von Geist und Charakter immer mehr er¬
schwert. Ganz vergessen ist des mit Worten freilich vielgepriesnen Schillers
Spruch: „Wer etwas Treffliches leisten will, hätt gern was Großes geboren,
der sammle still und unerschlafft im kleinsten Punkte die höchste Kraft." Seit
einem Menschenalter und noch länger wird der Grundsatz sogar vom Throne
herab gepredigt: mrütg., sea raultuiri; seit einem Menschenalter und noch
länger sehn wir die Tatsache verwirklicht: 11011 Nirütum, ssÄ nirütg,. Der
kindliche Geist erscheint da gleichsam als ein Koffer, in den man alles einzu¬
packen sucht, was als nötig für die Lebensreise gilt, aber schon hübsch fertig,
wie es der Handwerksmann zu liefern versteht. Sein Umfang ist fest begrenzt,
aber des Krames, den er aufnehmen soll, wird immer mehr. So stopft und
stopft man denn immer mehr hinein. Die technischen Fortschritte in der Methode
des Stopfens reichen entfernt nicht aus, den Widerspruch zwischen Umfang
und Inhalt auszugleichen; denn das bekannte logische Gesetz vom umgekehrten
Verhältnis dieser beiden findet hier keine Anwendung. So wird der Koffer
rissig, zuletzt, wenn er schwach gebaut ist, gesprengt und geht aus den Fugen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/578>, abgerufen am 29.06.2024.