Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Das ist das einzig Wahre an den Überbürdungsklagen, soweit sie begründet
sind. Nun hat man doch das sogenannte "Monopol" gestürzt; die Bahn ist
frei, auch das Gymnasium soll sich nach seinen eignen innern Gesetzen gestalten.
So hieß es überall! Was ist aus dem Worte, dem Königs-, dem Minister¬
worte, an dem man nicht drehen und deuteln soll, geworden? Bei uns lernt
man nun an den Realschulen Latein, an den Realgymnasien Griechisch, an
den Gymnasien nicht bloß Englisch, sondern unter der Firma der freiern
Gestaltung des Unterrichts wohl bald auch die höhere Mathematik. Dabei
hält man am alten fest; nur scheinbare Änderungen werden konzediert. Mit
Recht! Denn was man leistet und leisten kann, ist schon jetzt so gering, daß man
nicht bloß im wissenschaftlichen, sondern auch im sittlichen Interesse der innern
Wahrheit besser täte, auf das Ganze zu verzichten, als noch mehr abzuschlagen
nach dem Grundsatze "billig, aber schlecht". Dagegen bringt jeder neue Lehr¬
plan neue Fächer oder Verschiebungen in den alten zuungunsten der alten
Kernsächer, und die neuen Lehrpläne folgen einander mit solcher Promptheit,
daß man die alten kaum erproben kann. Da tagt irgendeine Versammlung
von Fachmännern und setzt eine "Unterrichtskommission" nieder -- nur wir
nicht, die wir doch die nächsten dazu sind --, die dann ihre Fachinteressen in
"wohlerwognen" -- so heißt es ja immer -- Beschlüssen formuliert. Diese
werden dem hohen Ministerium vorgelegt, und flugs schieben sich neue
Ringe in die unendliche Kette des Lernens. Daher auch das rastlose Jagen
nach neuen Methoden, die Überschätzung der Methodik gegenüber der Persön¬
lichkeit, die den unvermeidlichen Reibungskoeffizienten möglichst mindern sollen,
aber die ruhige, innere Durchdringung und Sättigung entfernt nicht zu ersetzen
vermögen. Wenn dann die Jünglinge ins Leben hinaustreten, so haben sie
schon "alles gehabt", das heißt von allem ein bißchen, von nichts etwas Rechtes.
Was brauchen sie dann noch selber von innen heraus an sich zu arbeiten?
Das sind die Früchte der Schulreform, wie sie sich seit einem halben Jahrhundert
allmählich entwickelt hat. So ist aus derNusa, urania, wie sie uns für das
Gymnasium vor dreißig und vierzig Jahren in den Anfängen unsers Lehr¬
amts noch als ein Ideal wenigstens vorschwebte, eine Vknus vulAivg^g, ge¬
worden, ein Mädchen für alles und leider auch für alle, für jegliche Laune
des Kitzels der Zeitungs- und Gassenbildung. Denn bald gibt es keine
Kunst und Wissenschaft mehr -- was rede ich von Kunst und Wissenschaft?
keinen Notizenkram und keine Handfertigkeit mehr, die unser Unterricht nicht
in sich aufnehmen soll; es gibt nichts mehr im Himmel und auf Erden, das
die Schüler nicht wissen sollen. Denn dann werden sie sein wie Gott! Nun
soll die Schule auch noch ein Kollegium über sexuelle Verhältnisse und
Fortpflanzungsvorgänge, das natürliche Ergebnis der individuellsten Ent¬
wicklung, das innerste Heiligtum der Familienerziehung, ein Geheimnis auch
noch der Wissenschaft, fast als ein neues Unterrichtsfach, jedenfalls als
ein Ingrediens der Gymnasialbildung, für das man der Schule wieder die


Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Das ist das einzig Wahre an den Überbürdungsklagen, soweit sie begründet
sind. Nun hat man doch das sogenannte „Monopol" gestürzt; die Bahn ist
frei, auch das Gymnasium soll sich nach seinen eignen innern Gesetzen gestalten.
So hieß es überall! Was ist aus dem Worte, dem Königs-, dem Minister¬
worte, an dem man nicht drehen und deuteln soll, geworden? Bei uns lernt
man nun an den Realschulen Latein, an den Realgymnasien Griechisch, an
den Gymnasien nicht bloß Englisch, sondern unter der Firma der freiern
Gestaltung des Unterrichts wohl bald auch die höhere Mathematik. Dabei
hält man am alten fest; nur scheinbare Änderungen werden konzediert. Mit
Recht! Denn was man leistet und leisten kann, ist schon jetzt so gering, daß man
nicht bloß im wissenschaftlichen, sondern auch im sittlichen Interesse der innern
Wahrheit besser täte, auf das Ganze zu verzichten, als noch mehr abzuschlagen
nach dem Grundsatze „billig, aber schlecht". Dagegen bringt jeder neue Lehr¬
plan neue Fächer oder Verschiebungen in den alten zuungunsten der alten
Kernsächer, und die neuen Lehrpläne folgen einander mit solcher Promptheit,
daß man die alten kaum erproben kann. Da tagt irgendeine Versammlung
von Fachmännern und setzt eine „Unterrichtskommission" nieder — nur wir
nicht, die wir doch die nächsten dazu sind —, die dann ihre Fachinteressen in
„wohlerwognen" — so heißt es ja immer — Beschlüssen formuliert. Diese
werden dem hohen Ministerium vorgelegt, und flugs schieben sich neue
Ringe in die unendliche Kette des Lernens. Daher auch das rastlose Jagen
nach neuen Methoden, die Überschätzung der Methodik gegenüber der Persön¬
lichkeit, die den unvermeidlichen Reibungskoeffizienten möglichst mindern sollen,
aber die ruhige, innere Durchdringung und Sättigung entfernt nicht zu ersetzen
vermögen. Wenn dann die Jünglinge ins Leben hinaustreten, so haben sie
schon „alles gehabt", das heißt von allem ein bißchen, von nichts etwas Rechtes.
Was brauchen sie dann noch selber von innen heraus an sich zu arbeiten?
Das sind die Früchte der Schulreform, wie sie sich seit einem halben Jahrhundert
allmählich entwickelt hat. So ist aus derNusa, urania, wie sie uns für das
Gymnasium vor dreißig und vierzig Jahren in den Anfängen unsers Lehr¬
amts noch als ein Ideal wenigstens vorschwebte, eine Vknus vulAivg^g, ge¬
worden, ein Mädchen für alles und leider auch für alle, für jegliche Laune
des Kitzels der Zeitungs- und Gassenbildung. Denn bald gibt es keine
Kunst und Wissenschaft mehr — was rede ich von Kunst und Wissenschaft?
keinen Notizenkram und keine Handfertigkeit mehr, die unser Unterricht nicht
in sich aufnehmen soll; es gibt nichts mehr im Himmel und auf Erden, das
die Schüler nicht wissen sollen. Denn dann werden sie sein wie Gott! Nun
soll die Schule auch noch ein Kollegium über sexuelle Verhältnisse und
Fortpflanzungsvorgänge, das natürliche Ergebnis der individuellsten Ent¬
wicklung, das innerste Heiligtum der Familienerziehung, ein Geheimnis auch
noch der Wissenschaft, fast als ein neues Unterrichtsfach, jedenfalls als
ein Ingrediens der Gymnasialbildung, für das man der Schule wieder die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0579" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303995"/>
          <fw type="header" place="top"> Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2551" prev="#ID_2550" next="#ID_2552"> Das ist das einzig Wahre an den Überbürdungsklagen, soweit sie begründet<lb/>
sind. Nun hat man doch das sogenannte &#x201E;Monopol" gestürzt; die Bahn ist<lb/>
frei, auch das Gymnasium soll sich nach seinen eignen innern Gesetzen gestalten.<lb/>
So hieß es überall! Was ist aus dem Worte, dem Königs-, dem Minister¬<lb/>
worte, an dem man nicht drehen und deuteln soll, geworden? Bei uns lernt<lb/>
man nun an den Realschulen Latein, an den Realgymnasien Griechisch, an<lb/>
den Gymnasien nicht bloß Englisch, sondern unter der Firma der freiern<lb/>
Gestaltung des Unterrichts wohl bald auch die höhere Mathematik. Dabei<lb/>
hält man am alten fest; nur scheinbare Änderungen werden konzediert. Mit<lb/>
Recht! Denn was man leistet und leisten kann, ist schon jetzt so gering, daß man<lb/>
nicht bloß im wissenschaftlichen, sondern auch im sittlichen Interesse der innern<lb/>
Wahrheit besser täte, auf das Ganze zu verzichten, als noch mehr abzuschlagen<lb/>
nach dem Grundsatze &#x201E;billig, aber schlecht". Dagegen bringt jeder neue Lehr¬<lb/>
plan neue Fächer oder Verschiebungen in den alten zuungunsten der alten<lb/>
Kernsächer, und die neuen Lehrpläne folgen einander mit solcher Promptheit,<lb/>
daß man die alten kaum erproben kann. Da tagt irgendeine Versammlung<lb/>
von Fachmännern und setzt eine &#x201E;Unterrichtskommission" nieder &#x2014; nur wir<lb/>
nicht, die wir doch die nächsten dazu sind &#x2014;, die dann ihre Fachinteressen in<lb/>
&#x201E;wohlerwognen" &#x2014; so heißt es ja immer &#x2014; Beschlüssen formuliert. Diese<lb/>
werden dem hohen Ministerium vorgelegt, und flugs schieben sich neue<lb/>
Ringe in die unendliche Kette des Lernens. Daher auch das rastlose Jagen<lb/>
nach neuen Methoden, die Überschätzung der Methodik gegenüber der Persön¬<lb/>
lichkeit, die den unvermeidlichen Reibungskoeffizienten möglichst mindern sollen,<lb/>
aber die ruhige, innere Durchdringung und Sättigung entfernt nicht zu ersetzen<lb/>
vermögen. Wenn dann die Jünglinge ins Leben hinaustreten, so haben sie<lb/>
schon &#x201E;alles gehabt", das heißt von allem ein bißchen, von nichts etwas Rechtes.<lb/>
Was brauchen sie dann noch selber von innen heraus an sich zu arbeiten?<lb/>
Das sind die Früchte der Schulreform, wie sie sich seit einem halben Jahrhundert<lb/>
allmählich entwickelt hat. So ist aus derNusa, urania, wie sie uns für das<lb/>
Gymnasium vor dreißig und vierzig Jahren in den Anfängen unsers Lehr¬<lb/>
amts noch als ein Ideal wenigstens vorschwebte, eine Vknus vulAivg^g, ge¬<lb/>
worden, ein Mädchen für alles und leider auch für alle, für jegliche Laune<lb/>
des Kitzels der Zeitungs- und Gassenbildung. Denn bald gibt es keine<lb/>
Kunst und Wissenschaft mehr &#x2014; was rede ich von Kunst und Wissenschaft?<lb/>
keinen Notizenkram und keine Handfertigkeit mehr, die unser Unterricht nicht<lb/>
in sich aufnehmen soll; es gibt nichts mehr im Himmel und auf Erden, das<lb/>
die Schüler nicht wissen sollen. Denn dann werden sie sein wie Gott! Nun<lb/>
soll die Schule auch noch ein Kollegium über sexuelle Verhältnisse und<lb/>
Fortpflanzungsvorgänge, das natürliche Ergebnis der individuellsten Ent¬<lb/>
wicklung, das innerste Heiligtum der Familienerziehung, ein Geheimnis auch<lb/>
noch der Wissenschaft, fast als ein neues Unterrichtsfach, jedenfalls als<lb/>
ein Ingrediens der Gymnasialbildung, für das man der Schule wieder die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0579] Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung Das ist das einzig Wahre an den Überbürdungsklagen, soweit sie begründet sind. Nun hat man doch das sogenannte „Monopol" gestürzt; die Bahn ist frei, auch das Gymnasium soll sich nach seinen eignen innern Gesetzen gestalten. So hieß es überall! Was ist aus dem Worte, dem Königs-, dem Minister¬ worte, an dem man nicht drehen und deuteln soll, geworden? Bei uns lernt man nun an den Realschulen Latein, an den Realgymnasien Griechisch, an den Gymnasien nicht bloß Englisch, sondern unter der Firma der freiern Gestaltung des Unterrichts wohl bald auch die höhere Mathematik. Dabei hält man am alten fest; nur scheinbare Änderungen werden konzediert. Mit Recht! Denn was man leistet und leisten kann, ist schon jetzt so gering, daß man nicht bloß im wissenschaftlichen, sondern auch im sittlichen Interesse der innern Wahrheit besser täte, auf das Ganze zu verzichten, als noch mehr abzuschlagen nach dem Grundsatze „billig, aber schlecht". Dagegen bringt jeder neue Lehr¬ plan neue Fächer oder Verschiebungen in den alten zuungunsten der alten Kernsächer, und die neuen Lehrpläne folgen einander mit solcher Promptheit, daß man die alten kaum erproben kann. Da tagt irgendeine Versammlung von Fachmännern und setzt eine „Unterrichtskommission" nieder — nur wir nicht, die wir doch die nächsten dazu sind —, die dann ihre Fachinteressen in „wohlerwognen" — so heißt es ja immer — Beschlüssen formuliert. Diese werden dem hohen Ministerium vorgelegt, und flugs schieben sich neue Ringe in die unendliche Kette des Lernens. Daher auch das rastlose Jagen nach neuen Methoden, die Überschätzung der Methodik gegenüber der Persön¬ lichkeit, die den unvermeidlichen Reibungskoeffizienten möglichst mindern sollen, aber die ruhige, innere Durchdringung und Sättigung entfernt nicht zu ersetzen vermögen. Wenn dann die Jünglinge ins Leben hinaustreten, so haben sie schon „alles gehabt", das heißt von allem ein bißchen, von nichts etwas Rechtes. Was brauchen sie dann noch selber von innen heraus an sich zu arbeiten? Das sind die Früchte der Schulreform, wie sie sich seit einem halben Jahrhundert allmählich entwickelt hat. So ist aus derNusa, urania, wie sie uns für das Gymnasium vor dreißig und vierzig Jahren in den Anfängen unsers Lehr¬ amts noch als ein Ideal wenigstens vorschwebte, eine Vknus vulAivg^g, ge¬ worden, ein Mädchen für alles und leider auch für alle, für jegliche Laune des Kitzels der Zeitungs- und Gassenbildung. Denn bald gibt es keine Kunst und Wissenschaft mehr — was rede ich von Kunst und Wissenschaft? keinen Notizenkram und keine Handfertigkeit mehr, die unser Unterricht nicht in sich aufnehmen soll; es gibt nichts mehr im Himmel und auf Erden, das die Schüler nicht wissen sollen. Denn dann werden sie sein wie Gott! Nun soll die Schule auch noch ein Kollegium über sexuelle Verhältnisse und Fortpflanzungsvorgänge, das natürliche Ergebnis der individuellsten Ent¬ wicklung, das innerste Heiligtum der Familienerziehung, ein Geheimnis auch noch der Wissenschaft, fast als ein neues Unterrichtsfach, jedenfalls als ein Ingrediens der Gymnasialbildung, für das man der Schule wieder die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/579
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/579>, abgerufen am 26.06.2024.