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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

anregt, ist hier nicht der Platz. Denn der Idealist nimmt das Gute, wo er
es findet, und steht deswegen der Frage, ob der Gedanke des allgemeinen
gleichen Stimmrechts liberalen oder demokratischen Ursprungs ist, unbefangen
und gleichmütig gegenüber. Nur das zu wissen ist ihm wesentlich: gehört der
Anspruch, für seine Mitmenschen den Gesetzgeber zu ernennen, wie es Sybel
mit antiker Klarheit ausdrückt, zu dem Rechte, das mit uns geboren ist, sodaß
seine Schmälerung unsre Menschenwürde verletzt, und wir uns für diesen un¬
veräußerlichen Anspruch ohne Rücksicht auf die Konsequenzen einsetzen müssen,
und wenn nicht, ist das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht
doch nach Lage der Verhältnisse für den preußischen Staat gegenwärtig das
beste oder doch etwas besseres als das jetzige Klassenwahlrecht?

Der sokratische Gedanke, daß die richtige Fragestellung immer auf die Er¬
kenntnis der Wahrheit hinführt, erweist sich als zutreffend, wenn wir jene
grundsätzliche Frage so, wie es geschehen ist, formulieren. Die Antwort drängt
sich jedem Denkenden förmlich auf: solche politischen Befugnisse sind nicht der
Ausfluß eines dem Staatsbürger voraussetzungslos zustehenden Rechts, und
der Staat ist nicht eingerichtet, damit die Ausübung dieses Persönlichkeitsrechts
ermöglicht werde, sondern der Staat, das Allgemeinwohl ist der Endzweck, dem
die Teilnahme der Bürger an der Regierung des Staates zu dienen hat, und die
Frage, wie den Interessen des Staates am besten gedient wird, ist der Maßstab
für die Gestaltung und Begrenzung der politischen Herrschaftsrechte der Bürger.

Es ist also keine Rede davon, daß das allgemeine, gleiche, direkte und
geheime oder irgendein andres Wahlrecht als absolut richtig der Kritik ent¬
zogen und ohne Prüfung weiter zu empfehlen sei. Wahrer Idealismus wird
vielmehr zu aller Zeit in sich die Pflicht verspüren, nach dein jeweiligen Stande
der Entwicklung des Staates zu prüfen, ob der Einfluß der politischen Macht¬
mittel richtig bemessen ist oder das Staatswohl gefährdet. Wenn diese Kritik
zu dem Entschlüsse führt, eine Verteilung der politischen Rechte, die den Staat
dem Untergang entgegentreibt, auch gegen den Willen der Träger dieser Rechte
zu korrigieren, so wird der Idealist über solche Kämpfer für das wahre Recht
gegen den nur noch dem formalen Recht entsprechenden Zustand nicht mit der tugend¬
samen Entrüstung des Moralphilisters den Stab brechen, sondern das Tragische
solchen sittlichen Konflikts nachempfinden. Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Nicht nur zur Plage kann dir werden, was frühere Generationen als Wohltat
begrüßten, sondern die von ihnen eingeschlagnen Bahnen führen die ihnen nach¬
folgenden Geschlechter möglicherweise in einen Konflikt der Pflichten, der Pflicht
des Gehorsams gegen die bestehende Satzung und der Pflicht der Sorge für
das Wohl des Staates. Darum fort mit dem Gedanken, daß es "gute Revo¬
lutionäre" geben könne: keiner geht, ohne Schuld auf sich zu laden, aus diesem
Kampf hervor. Fluch und Verachtung aber für den feigen Sklavensinn, der
gestern jede Laune des absoluten Fürsten als unerforschlichen Ratschluß einer
höhern Gewalt kritiklos alleruntertänigst hinnahm, und heute, wo der Männer-


Wahlrecht und Idealismus

anregt, ist hier nicht der Platz. Denn der Idealist nimmt das Gute, wo er
es findet, und steht deswegen der Frage, ob der Gedanke des allgemeinen
gleichen Stimmrechts liberalen oder demokratischen Ursprungs ist, unbefangen
und gleichmütig gegenüber. Nur das zu wissen ist ihm wesentlich: gehört der
Anspruch, für seine Mitmenschen den Gesetzgeber zu ernennen, wie es Sybel
mit antiker Klarheit ausdrückt, zu dem Rechte, das mit uns geboren ist, sodaß
seine Schmälerung unsre Menschenwürde verletzt, und wir uns für diesen un¬
veräußerlichen Anspruch ohne Rücksicht auf die Konsequenzen einsetzen müssen,
und wenn nicht, ist das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht
doch nach Lage der Verhältnisse für den preußischen Staat gegenwärtig das
beste oder doch etwas besseres als das jetzige Klassenwahlrecht?

Der sokratische Gedanke, daß die richtige Fragestellung immer auf die Er¬
kenntnis der Wahrheit hinführt, erweist sich als zutreffend, wenn wir jene
grundsätzliche Frage so, wie es geschehen ist, formulieren. Die Antwort drängt
sich jedem Denkenden förmlich auf: solche politischen Befugnisse sind nicht der
Ausfluß eines dem Staatsbürger voraussetzungslos zustehenden Rechts, und
der Staat ist nicht eingerichtet, damit die Ausübung dieses Persönlichkeitsrechts
ermöglicht werde, sondern der Staat, das Allgemeinwohl ist der Endzweck, dem
die Teilnahme der Bürger an der Regierung des Staates zu dienen hat, und die
Frage, wie den Interessen des Staates am besten gedient wird, ist der Maßstab
für die Gestaltung und Begrenzung der politischen Herrschaftsrechte der Bürger.

Es ist also keine Rede davon, daß das allgemeine, gleiche, direkte und
geheime oder irgendein andres Wahlrecht als absolut richtig der Kritik ent¬
zogen und ohne Prüfung weiter zu empfehlen sei. Wahrer Idealismus wird
vielmehr zu aller Zeit in sich die Pflicht verspüren, nach dein jeweiligen Stande
der Entwicklung des Staates zu prüfen, ob der Einfluß der politischen Macht¬
mittel richtig bemessen ist oder das Staatswohl gefährdet. Wenn diese Kritik
zu dem Entschlüsse führt, eine Verteilung der politischen Rechte, die den Staat
dem Untergang entgegentreibt, auch gegen den Willen der Träger dieser Rechte
zu korrigieren, so wird der Idealist über solche Kämpfer für das wahre Recht
gegen den nur noch dem formalen Recht entsprechenden Zustand nicht mit der tugend¬
samen Entrüstung des Moralphilisters den Stab brechen, sondern das Tragische
solchen sittlichen Konflikts nachempfinden. Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Nicht nur zur Plage kann dir werden, was frühere Generationen als Wohltat
begrüßten, sondern die von ihnen eingeschlagnen Bahnen führen die ihnen nach¬
folgenden Geschlechter möglicherweise in einen Konflikt der Pflichten, der Pflicht
des Gehorsams gegen die bestehende Satzung und der Pflicht der Sorge für
das Wohl des Staates. Darum fort mit dem Gedanken, daß es „gute Revo¬
lutionäre" geben könne: keiner geht, ohne Schuld auf sich zu laden, aus diesem
Kampf hervor. Fluch und Verachtung aber für den feigen Sklavensinn, der
gestern jede Laune des absoluten Fürsten als unerforschlichen Ratschluß einer
höhern Gewalt kritiklos alleruntertänigst hinnahm, und heute, wo der Männer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/502>, abgerufen am 25.08.2024.