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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

Abgeordnetenhause spitzt sich sonach bei näherer Betrachtung auf die Frage zu, ob
der Vaterlandsfreund eine Verstärkung der Macht des Reichstags wünschen soll.

Diese Frage für sich zu beantworten ist überflüssig, da man, um zu dem
Preußischen Wahlrecht einen Standpunkt zu gewinnen, sich über die Berechtigung
des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts klar zu werden
versuchen muß und das Ergebnis dieser Untersuchung die Beantwortung jener
Frage in sich schließt.

Nach dem liberalen Parteiprogramm ist dies Wahlrecht nicht nur ein be¬
rechtigtes Prinzip, als das es Bismarck noch am Ende seiner Tage mit einer
Einschränkung bezüglich der Heimlichkeit der Wahl bezeichnet hat, sondern das
allein richtige Recht. Ja, für die Menge, die sich für liberal hält, ist es die
liberale Forderung x"r eKozc^- spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
Denn daß Liberalismus und Demokratie wesensverschieden sind, und daß der
Grundgedanke des allgemeinen gleichen Stimmrechts den demokratischen, nicht
den liberalen Überzeugungen entnommen ist, das ist eine ihr gänzlich ver¬
schleierte Wahrheit. Was der Standpunkt des unverfälschten Liberalismus war,
darüber kann uns die schon erwähnte Rede H. von Sybels im konstituierenden
Reichstag von 1867 belehren. "Soweit meine philosophische und politische
Meditation reicht, ist die Wendung der liberalen Theorie, die in dem allgemeinen
Stimmrecht den nötigen Ausdruck der vollkommensten Staatsform sieht, nichts
andres als eine sophistische und völlige Verbiegung der wahren liberalen Grund¬
sätze, eine Verwechslung der beiden für alle menschlichen Geschicke so tief ein¬
schneidenden Begriffe der Gleichheit und der Freiheit. ... Ich bin der Meinung,
daß für den modernen Liberalismus kein gefährlicherer Krankheitsstoff gedacht
werden kann, als diese Sorte von Individualismus, die sich in der Forderung
ausdrückt, daß das allgemeine Wahlrecht jedem vernünftigen und sittlichen
Menschen als vernünftiger und sittlicher Individualität zukommt. Das Wahl¬
recht ist der Besitz des Rechts, den Gesetzgeber zu ernennen. Es ist also im
eminenten Sinne des Worts ein politisches Herrschaftsrecht. Der einzelne
Mensch hat nach den Qualitäten seiner Vernünftigkeit und Moralität das
menschliche und persönliche und unveräußerliche Recht auf die Ausübung seiner
Arbeitskraft, er hat das Recht der Forderung unbedingten Rechtsschutzes, er
hat das Recht, frei zu gehn, zu wandern, zu verkehren, er hat das Recht, frei
M denken, er hat das Recht, frei zu beten; aber er kann unmöglich nach seiner
Vernunft und Sitte das Recht in Anspruch nehmen, für seine Mitmenschen den
Gesetzgeber zu ernennen. Dieses Recht kann ihm nur erwachsen, wenn er der
Gemeinschaft seiner Mitmenschen sich zu demselben qualifiziert erweist, wenn er
der Gemeinschaft nachweist, daß er die Leistungskraft und die Leistungsbereit¬
willigkeit hat, ohne welche im Staate und in der Gesellschaft niemand ein hervor¬
ragendes Recht der Herrschaft auszuüben befugt sein soll."

Die Gedankengünge weiter zu verfolgen, die die in der Wahlrechtssrage
so kraß zutage tretende Begriffsverwirrung des Liberalismus der Epigonen


Wahlrecht und Idealismus

Abgeordnetenhause spitzt sich sonach bei näherer Betrachtung auf die Frage zu, ob
der Vaterlandsfreund eine Verstärkung der Macht des Reichstags wünschen soll.

Diese Frage für sich zu beantworten ist überflüssig, da man, um zu dem
Preußischen Wahlrecht einen Standpunkt zu gewinnen, sich über die Berechtigung
des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts klar zu werden
versuchen muß und das Ergebnis dieser Untersuchung die Beantwortung jener
Frage in sich schließt.

Nach dem liberalen Parteiprogramm ist dies Wahlrecht nicht nur ein be¬
rechtigtes Prinzip, als das es Bismarck noch am Ende seiner Tage mit einer
Einschränkung bezüglich der Heimlichkeit der Wahl bezeichnet hat, sondern das
allein richtige Recht. Ja, für die Menge, die sich für liberal hält, ist es die
liberale Forderung x«r eKozc^- spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
Denn daß Liberalismus und Demokratie wesensverschieden sind, und daß der
Grundgedanke des allgemeinen gleichen Stimmrechts den demokratischen, nicht
den liberalen Überzeugungen entnommen ist, das ist eine ihr gänzlich ver¬
schleierte Wahrheit. Was der Standpunkt des unverfälschten Liberalismus war,
darüber kann uns die schon erwähnte Rede H. von Sybels im konstituierenden
Reichstag von 1867 belehren. „Soweit meine philosophische und politische
Meditation reicht, ist die Wendung der liberalen Theorie, die in dem allgemeinen
Stimmrecht den nötigen Ausdruck der vollkommensten Staatsform sieht, nichts
andres als eine sophistische und völlige Verbiegung der wahren liberalen Grund¬
sätze, eine Verwechslung der beiden für alle menschlichen Geschicke so tief ein¬
schneidenden Begriffe der Gleichheit und der Freiheit. ... Ich bin der Meinung,
daß für den modernen Liberalismus kein gefährlicherer Krankheitsstoff gedacht
werden kann, als diese Sorte von Individualismus, die sich in der Forderung
ausdrückt, daß das allgemeine Wahlrecht jedem vernünftigen und sittlichen
Menschen als vernünftiger und sittlicher Individualität zukommt. Das Wahl¬
recht ist der Besitz des Rechts, den Gesetzgeber zu ernennen. Es ist also im
eminenten Sinne des Worts ein politisches Herrschaftsrecht. Der einzelne
Mensch hat nach den Qualitäten seiner Vernünftigkeit und Moralität das
menschliche und persönliche und unveräußerliche Recht auf die Ausübung seiner
Arbeitskraft, er hat das Recht der Forderung unbedingten Rechtsschutzes, er
hat das Recht, frei zu gehn, zu wandern, zu verkehren, er hat das Recht, frei
M denken, er hat das Recht, frei zu beten; aber er kann unmöglich nach seiner
Vernunft und Sitte das Recht in Anspruch nehmen, für seine Mitmenschen den
Gesetzgeber zu ernennen. Dieses Recht kann ihm nur erwachsen, wenn er der
Gemeinschaft seiner Mitmenschen sich zu demselben qualifiziert erweist, wenn er
der Gemeinschaft nachweist, daß er die Leistungskraft und die Leistungsbereit¬
willigkeit hat, ohne welche im Staate und in der Gesellschaft niemand ein hervor¬
ragendes Recht der Herrschaft auszuüben befugt sein soll."

Die Gedankengünge weiter zu verfolgen, die die in der Wahlrechtssrage
so kraß zutage tretende Begriffsverwirrung des Liberalismus der Epigonen


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[0501] Wahlrecht und Idealismus Abgeordnetenhause spitzt sich sonach bei näherer Betrachtung auf die Frage zu, ob der Vaterlandsfreund eine Verstärkung der Macht des Reichstags wünschen soll. Diese Frage für sich zu beantworten ist überflüssig, da man, um zu dem Preußischen Wahlrecht einen Standpunkt zu gewinnen, sich über die Berechtigung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts klar zu werden versuchen muß und das Ergebnis dieser Untersuchung die Beantwortung jener Frage in sich schließt. Nach dem liberalen Parteiprogramm ist dies Wahlrecht nicht nur ein be¬ rechtigtes Prinzip, als das es Bismarck noch am Ende seiner Tage mit einer Einschränkung bezüglich der Heimlichkeit der Wahl bezeichnet hat, sondern das allein richtige Recht. Ja, für die Menge, die sich für liberal hält, ist es die liberale Forderung x«r eKozc^- spottet ihrer selbst und weiß nicht wie. Denn daß Liberalismus und Demokratie wesensverschieden sind, und daß der Grundgedanke des allgemeinen gleichen Stimmrechts den demokratischen, nicht den liberalen Überzeugungen entnommen ist, das ist eine ihr gänzlich ver¬ schleierte Wahrheit. Was der Standpunkt des unverfälschten Liberalismus war, darüber kann uns die schon erwähnte Rede H. von Sybels im konstituierenden Reichstag von 1867 belehren. „Soweit meine philosophische und politische Meditation reicht, ist die Wendung der liberalen Theorie, die in dem allgemeinen Stimmrecht den nötigen Ausdruck der vollkommensten Staatsform sieht, nichts andres als eine sophistische und völlige Verbiegung der wahren liberalen Grund¬ sätze, eine Verwechslung der beiden für alle menschlichen Geschicke so tief ein¬ schneidenden Begriffe der Gleichheit und der Freiheit. ... Ich bin der Meinung, daß für den modernen Liberalismus kein gefährlicherer Krankheitsstoff gedacht werden kann, als diese Sorte von Individualismus, die sich in der Forderung ausdrückt, daß das allgemeine Wahlrecht jedem vernünftigen und sittlichen Menschen als vernünftiger und sittlicher Individualität zukommt. Das Wahl¬ recht ist der Besitz des Rechts, den Gesetzgeber zu ernennen. Es ist also im eminenten Sinne des Worts ein politisches Herrschaftsrecht. Der einzelne Mensch hat nach den Qualitäten seiner Vernünftigkeit und Moralität das menschliche und persönliche und unveräußerliche Recht auf die Ausübung seiner Arbeitskraft, er hat das Recht der Forderung unbedingten Rechtsschutzes, er hat das Recht, frei zu gehn, zu wandern, zu verkehren, er hat das Recht, frei M denken, er hat das Recht, frei zu beten; aber er kann unmöglich nach seiner Vernunft und Sitte das Recht in Anspruch nehmen, für seine Mitmenschen den Gesetzgeber zu ernennen. Dieses Recht kann ihm nur erwachsen, wenn er der Gemeinschaft seiner Mitmenschen sich zu demselben qualifiziert erweist, wenn er der Gemeinschaft nachweist, daß er die Leistungskraft und die Leistungsbereit¬ willigkeit hat, ohne welche im Staate und in der Gesellschaft niemand ein hervor¬ ragendes Recht der Herrschaft auszuüben befugt sein soll." Die Gedankengünge weiter zu verfolgen, die die in der Wahlrechtssrage so kraß zutage tretende Begriffsverwirrung des Liberalismus der Epigonen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/501>, abgerufen am 22.07.2024.