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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

stolz vor Königsthronen billig geworden ist, seine Bücklinge dem süßen Pöbel
widmet und den Willen der Massen, auch wenn er sich in neronischem Wüten
gegen das Staatsgebäude äußert, mit der Ergebung des Eunuchen als unab¬
änderliches Fatum verehrt. Das saoriöoiuiu inde1Jovem3 ist dem Idealisten die
Sünde wider den heiligen Geist, ob es nun kirchliche Gewalten oder Partei¬
bonzen heischen, und er spricht mit dem Dichter:

Ein Gefühl tiefster Beschämung mußte ihn ergreifen, als in der Zeitschrift,
in der einst in den großen Jahren deutscher Kämpfe Treitschkes hoher Sinn
zu dem deutschen Volke sprach, vor der letzten Reichstagswahl die Krämer¬
weisheit verkündet wurde: "Sollte die Regierung bei der Wahlentscheidung
wirklich unterliegen, so müssen wir eben in die Bahnen, von denen wir uns
jetzt abzuwenden suchen, wieder zurück, vielleicht das Steuer sogar noch um
einen Grad weiter nach schwarz legen." Solcher bedingungslosen Unterwerfung
der Staatsgeschicke unter den als staatsschädlich erkannten Willen eines vom
Staate für seine Zwecke geschaffnen Organs wird wahrer Idealismus immer
entgegentreten und sich durch die Erwartung, daß es ja noch nicht so schlimm
kommen werde, nicht zu dem politischen Jesuitismus verleiten lassen, das
Dogma von der Souveränität des Volkswillens zu proklamieren und dabei
den Vorbehalt nur im stillen zuzufügen, daß auch für das staatschädigende
Wirken eines Parlaments eine Grenze bestehe, deren Überschreitung die Änderung
dieser Staatseinrichtung ebenso notwendig mache wie der Mißbrauch jeder andern
verliehenen Befugnis deren Beschränkung. Auch hier weht uns Bismarcks
Sturmfahne voran: "Die parlamentarische Tätigkeit ist bei Stiftung des be¬
stehenden Bundes der Fürsten und Städte als ein Mittel zur Erreichung des
Bundeszweckes, aber nicht als Selbstzweck aufgefaßt worden. Ich hoffe, daß
das Verhalten des Reichstags die verbündeten Regierungen der Notwendigkeit
überheben wird, die Konsequenzen dieser Rechtslage jemals praktisch zu ziehen."
(Schreiben an Ludwig den Zweiten von Bayern vom 12. August 1878.)

Ist das als Ersatz für das preußische Zensuswahlrecht gepriesne und ge¬
forderte allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht, wie es für die
Reichstagswahlen und in einzelnen deutschen Staaten gilt, als das absolut
richtige Wahlsystem nicht anzuerkennen, so fragt es sich allein, ob es Vorzüge
vor jenem aufweist, die es rechtfertigen, von dem vernünftigen politischen Grund¬
satz "Möw uoii movMö bezüglich des preußischen Wahlrechts abzuweichen. Da
dieser Aufsatz nicht mit Worten ein System bereiten will, so sollen die nach¬
folgenden Betrachtungen nur zu eignem Nachdenken anregen. Der oft gehörte
Einwand, daß über die Wahlrechtsfrage schon ganze Bibliotheken geschrieben
seien, und daß sich jedermann seine feste Ansicht darüber gebildet habe, ist


Wahlrecht und Idealismus

stolz vor Königsthronen billig geworden ist, seine Bücklinge dem süßen Pöbel
widmet und den Willen der Massen, auch wenn er sich in neronischem Wüten
gegen das Staatsgebäude äußert, mit der Ergebung des Eunuchen als unab¬
änderliches Fatum verehrt. Das saoriöoiuiu inde1Jovem3 ist dem Idealisten die
Sünde wider den heiligen Geist, ob es nun kirchliche Gewalten oder Partei¬
bonzen heischen, und er spricht mit dem Dichter:

Ein Gefühl tiefster Beschämung mußte ihn ergreifen, als in der Zeitschrift,
in der einst in den großen Jahren deutscher Kämpfe Treitschkes hoher Sinn
zu dem deutschen Volke sprach, vor der letzten Reichstagswahl die Krämer¬
weisheit verkündet wurde: „Sollte die Regierung bei der Wahlentscheidung
wirklich unterliegen, so müssen wir eben in die Bahnen, von denen wir uns
jetzt abzuwenden suchen, wieder zurück, vielleicht das Steuer sogar noch um
einen Grad weiter nach schwarz legen." Solcher bedingungslosen Unterwerfung
der Staatsgeschicke unter den als staatsschädlich erkannten Willen eines vom
Staate für seine Zwecke geschaffnen Organs wird wahrer Idealismus immer
entgegentreten und sich durch die Erwartung, daß es ja noch nicht so schlimm
kommen werde, nicht zu dem politischen Jesuitismus verleiten lassen, das
Dogma von der Souveränität des Volkswillens zu proklamieren und dabei
den Vorbehalt nur im stillen zuzufügen, daß auch für das staatschädigende
Wirken eines Parlaments eine Grenze bestehe, deren Überschreitung die Änderung
dieser Staatseinrichtung ebenso notwendig mache wie der Mißbrauch jeder andern
verliehenen Befugnis deren Beschränkung. Auch hier weht uns Bismarcks
Sturmfahne voran: „Die parlamentarische Tätigkeit ist bei Stiftung des be¬
stehenden Bundes der Fürsten und Städte als ein Mittel zur Erreichung des
Bundeszweckes, aber nicht als Selbstzweck aufgefaßt worden. Ich hoffe, daß
das Verhalten des Reichstags die verbündeten Regierungen der Notwendigkeit
überheben wird, die Konsequenzen dieser Rechtslage jemals praktisch zu ziehen."
(Schreiben an Ludwig den Zweiten von Bayern vom 12. August 1878.)

Ist das als Ersatz für das preußische Zensuswahlrecht gepriesne und ge¬
forderte allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht, wie es für die
Reichstagswahlen und in einzelnen deutschen Staaten gilt, als das absolut
richtige Wahlsystem nicht anzuerkennen, so fragt es sich allein, ob es Vorzüge
vor jenem aufweist, die es rechtfertigen, von dem vernünftigen politischen Grund¬
satz «Möw uoii movMö bezüglich des preußischen Wahlrechts abzuweichen. Da
dieser Aufsatz nicht mit Worten ein System bereiten will, so sollen die nach¬
folgenden Betrachtungen nur zu eignem Nachdenken anregen. Der oft gehörte
Einwand, daß über die Wahlrechtsfrage schon ganze Bibliotheken geschrieben
seien, und daß sich jedermann seine feste Ansicht darüber gebildet habe, ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/503>, abgerufen am 23.07.2024.