Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Recht und Sitte der Naturvölker

die Hinrichtung vermieden, indem die Komposition zugelassen wird, die ja auch
bei den Germanen üblich war; einzelne Fälle sind in Deutschland noch im
sechzehnten Jahrhundert vorgekommen. Alle andern Vergehungen werden mit
Geldbußen, das heißt meist mit Vieh, gesühnt, hie und da wird auch ge¬
prügelt. Die Zahl der Delikte ist nicht groß, außer Totschlag Diebstahl, Ehe¬
bruch, Unzucht, Verleumdung. (Man halte daneben die frühere englische Straf¬
justiz. Um 1300 wurden sieben Verbrechen mit dem Tode bestraft; in der
nachfolgenden Zeit schwoll die Zahl dieser Kriminaldelikte auf mehr als zwei¬
hundert an. 1837 wurde die Todesstrafe bei zweihundert Verbrechen, zu denen
der Diebstahl gehörte, abgeschafft, doch wurden Rotznase noch bis 1841, ge¬
waltsamer Raub. Brandstiftung und Sodomiterei bis 1861 mit dem Tode be¬
straft. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe I, 160.) Das
Verfahren ist öffentlich und durchs Herkommen geordnet. Zur Ermittlung der
Schuld werden vielfach Ordalien angewandt, bei einzelnen Stämmen auch
Torturen. Wenn man die hier beschriebnen Völker als den Typus der
schwarzen Nasse ansehen dürfte, so müßte man sagen, daß sie weniger grausam
ist als die mongolische, als die Semiten und als die Europäer zeitweise ge¬
wesen sind. Bei den schwarzen Despoten sind bekanntlich vor der Besitznahme
ihrer Länder durch die Europäer Massenabschlachtungen üblich gewesen, aber so
scheußliche Prozeduren, wie sie in Deutschland von der Soldateska und von der
sogenannten Justiz noch im siebzehnten Jahrhundert verübt wurden, werden in
den Berichten nirgends erwähnt; nur in einem Falle wird annähernd schreck¬
liches mitgeteilt. Die Namaqua sind arge Viehräuber und begeyn auf ihren
Raubzügen auch fürchterliche Grausamkeiten. Meyer erzählt nun, daß die Herero
an den Räubern nicht weniger grausame Wiedervergeltung üben: sie schneiden
dem Erwischten die Ohren ab mit den Worten: du sollst keinen Damaraochsen
mehr brüllen hören; mit entsprechenden Worten begleiten sie das Ausstechen
der Augen, das Abschneiden der Nase, der Lippen; zuletzt schneiden sie ihm die
Kehle ab. Daß sie der Rinderraub wütend macht, ist erklärlich, weil das Rind
ihr ein und alles ist. Rinder sind ihr Reichtum -- wirklicher Reichtum, ein¬
zelne haben vor der Besitznahme des Landes durch die Deutschen Herden von
40000 Stück besessen --, ihr Stolz; sie schlachten Rinder nur bei religiösen und
Familienfesten; das Rind ist der Gegenstand ihrer Poesie. Man braucht sich
deswegen nicht darüber zu wundern, daß sie ähnliche Grausamkeiten im Kriege
an Deutschen verübt haben, die ihnen ja als die großen Räuber nicht allein
ihres Viehs, sondern auch ihres Landes galten.

Daß der Eigentumsbegriff bei den Schwarzen deutlich ausgebildet ist, be¬
weist die überall übliche Bestrafung des Diebstahls. Freilich stehlen sie gern
und oft. Sie sind eben, auch bei gut entwickelter Intelligenz, dem Charakter
nach Kinder, die alles haben möchten, was ihnen gefällt, und deren ungefestigter
Wille wenig Widerstandskraft hat gegen Gelüste. Aber der Eigentumsbegriff
ist nicht bloß vorhanden, sondern auch gesund. Eigentum eines jeden ist vor


Recht und Sitte der Naturvölker

die Hinrichtung vermieden, indem die Komposition zugelassen wird, die ja auch
bei den Germanen üblich war; einzelne Fälle sind in Deutschland noch im
sechzehnten Jahrhundert vorgekommen. Alle andern Vergehungen werden mit
Geldbußen, das heißt meist mit Vieh, gesühnt, hie und da wird auch ge¬
prügelt. Die Zahl der Delikte ist nicht groß, außer Totschlag Diebstahl, Ehe¬
bruch, Unzucht, Verleumdung. (Man halte daneben die frühere englische Straf¬
justiz. Um 1300 wurden sieben Verbrechen mit dem Tode bestraft; in der
nachfolgenden Zeit schwoll die Zahl dieser Kriminaldelikte auf mehr als zwei¬
hundert an. 1837 wurde die Todesstrafe bei zweihundert Verbrechen, zu denen
der Diebstahl gehörte, abgeschafft, doch wurden Rotznase noch bis 1841, ge¬
waltsamer Raub. Brandstiftung und Sodomiterei bis 1861 mit dem Tode be¬
straft. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe I, 160.) Das
Verfahren ist öffentlich und durchs Herkommen geordnet. Zur Ermittlung der
Schuld werden vielfach Ordalien angewandt, bei einzelnen Stämmen auch
Torturen. Wenn man die hier beschriebnen Völker als den Typus der
schwarzen Nasse ansehen dürfte, so müßte man sagen, daß sie weniger grausam
ist als die mongolische, als die Semiten und als die Europäer zeitweise ge¬
wesen sind. Bei den schwarzen Despoten sind bekanntlich vor der Besitznahme
ihrer Länder durch die Europäer Massenabschlachtungen üblich gewesen, aber so
scheußliche Prozeduren, wie sie in Deutschland von der Soldateska und von der
sogenannten Justiz noch im siebzehnten Jahrhundert verübt wurden, werden in
den Berichten nirgends erwähnt; nur in einem Falle wird annähernd schreck¬
liches mitgeteilt. Die Namaqua sind arge Viehräuber und begeyn auf ihren
Raubzügen auch fürchterliche Grausamkeiten. Meyer erzählt nun, daß die Herero
an den Räubern nicht weniger grausame Wiedervergeltung üben: sie schneiden
dem Erwischten die Ohren ab mit den Worten: du sollst keinen Damaraochsen
mehr brüllen hören; mit entsprechenden Worten begleiten sie das Ausstechen
der Augen, das Abschneiden der Nase, der Lippen; zuletzt schneiden sie ihm die
Kehle ab. Daß sie der Rinderraub wütend macht, ist erklärlich, weil das Rind
ihr ein und alles ist. Rinder sind ihr Reichtum — wirklicher Reichtum, ein¬
zelne haben vor der Besitznahme des Landes durch die Deutschen Herden von
40000 Stück besessen —, ihr Stolz; sie schlachten Rinder nur bei religiösen und
Familienfesten; das Rind ist der Gegenstand ihrer Poesie. Man braucht sich
deswegen nicht darüber zu wundern, daß sie ähnliche Grausamkeiten im Kriege
an Deutschen verübt haben, die ihnen ja als die großen Räuber nicht allein
ihres Viehs, sondern auch ihres Landes galten.

Daß der Eigentumsbegriff bei den Schwarzen deutlich ausgebildet ist, be¬
weist die überall übliche Bestrafung des Diebstahls. Freilich stehlen sie gern
und oft. Sie sind eben, auch bei gut entwickelter Intelligenz, dem Charakter
nach Kinder, die alles haben möchten, was ihnen gefällt, und deren ungefestigter
Wille wenig Widerstandskraft hat gegen Gelüste. Aber der Eigentumsbegriff
ist nicht bloß vorhanden, sondern auch gesund. Eigentum eines jeden ist vor


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303886"/>
          <fw type="header" place="top"> Recht und Sitte der Naturvölker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2068" prev="#ID_2067"> die Hinrichtung vermieden, indem die Komposition zugelassen wird, die ja auch<lb/>
bei den Germanen üblich war; einzelne Fälle sind in Deutschland noch im<lb/>
sechzehnten Jahrhundert vorgekommen. Alle andern Vergehungen werden mit<lb/>
Geldbußen, das heißt meist mit Vieh, gesühnt, hie und da wird auch ge¬<lb/>
prügelt. Die Zahl der Delikte ist nicht groß, außer Totschlag Diebstahl, Ehe¬<lb/>
bruch, Unzucht, Verleumdung. (Man halte daneben die frühere englische Straf¬<lb/>
justiz. Um 1300 wurden sieben Verbrechen mit dem Tode bestraft; in der<lb/>
nachfolgenden Zeit schwoll die Zahl dieser Kriminaldelikte auf mehr als zwei¬<lb/>
hundert an. 1837 wurde die Todesstrafe bei zweihundert Verbrechen, zu denen<lb/>
der Diebstahl gehörte, abgeschafft, doch wurden Rotznase noch bis 1841, ge¬<lb/>
waltsamer Raub. Brandstiftung und Sodomiterei bis 1861 mit dem Tode be¬<lb/>
straft. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe I, 160.) Das<lb/>
Verfahren ist öffentlich und durchs Herkommen geordnet. Zur Ermittlung der<lb/>
Schuld werden vielfach Ordalien angewandt, bei einzelnen Stämmen auch<lb/>
Torturen. Wenn man die hier beschriebnen Völker als den Typus der<lb/>
schwarzen Nasse ansehen dürfte, so müßte man sagen, daß sie weniger grausam<lb/>
ist als die mongolische, als die Semiten und als die Europäer zeitweise ge¬<lb/>
wesen sind. Bei den schwarzen Despoten sind bekanntlich vor der Besitznahme<lb/>
ihrer Länder durch die Europäer Massenabschlachtungen üblich gewesen, aber so<lb/>
scheußliche Prozeduren, wie sie in Deutschland von der Soldateska und von der<lb/>
sogenannten Justiz noch im siebzehnten Jahrhundert verübt wurden, werden in<lb/>
den Berichten nirgends erwähnt; nur in einem Falle wird annähernd schreck¬<lb/>
liches mitgeteilt. Die Namaqua sind arge Viehräuber und begeyn auf ihren<lb/>
Raubzügen auch fürchterliche Grausamkeiten. Meyer erzählt nun, daß die Herero<lb/>
an den Räubern nicht weniger grausame Wiedervergeltung üben: sie schneiden<lb/>
dem Erwischten die Ohren ab mit den Worten: du sollst keinen Damaraochsen<lb/>
mehr brüllen hören; mit entsprechenden Worten begleiten sie das Ausstechen<lb/>
der Augen, das Abschneiden der Nase, der Lippen; zuletzt schneiden sie ihm die<lb/>
Kehle ab. Daß sie der Rinderraub wütend macht, ist erklärlich, weil das Rind<lb/>
ihr ein und alles ist. Rinder sind ihr Reichtum &#x2014; wirklicher Reichtum, ein¬<lb/>
zelne haben vor der Besitznahme des Landes durch die Deutschen Herden von<lb/>
40000 Stück besessen &#x2014;, ihr Stolz; sie schlachten Rinder nur bei religiösen und<lb/>
Familienfesten; das Rind ist der Gegenstand ihrer Poesie. Man braucht sich<lb/>
deswegen nicht darüber zu wundern, daß sie ähnliche Grausamkeiten im Kriege<lb/>
an Deutschen verübt haben, die ihnen ja als die großen Räuber nicht allein<lb/>
ihres Viehs, sondern auch ihres Landes galten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2069" next="#ID_2070"> Daß der Eigentumsbegriff bei den Schwarzen deutlich ausgebildet ist, be¬<lb/>
weist die überall übliche Bestrafung des Diebstahls. Freilich stehlen sie gern<lb/>
und oft. Sie sind eben, auch bei gut entwickelter Intelligenz, dem Charakter<lb/>
nach Kinder, die alles haben möchten, was ihnen gefällt, und deren ungefestigter<lb/>
Wille wenig Widerstandskraft hat gegen Gelüste. Aber der Eigentumsbegriff<lb/>
ist nicht bloß vorhanden, sondern auch gesund.  Eigentum eines jeden ist vor</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Recht und Sitte der Naturvölker die Hinrichtung vermieden, indem die Komposition zugelassen wird, die ja auch bei den Germanen üblich war; einzelne Fälle sind in Deutschland noch im sechzehnten Jahrhundert vorgekommen. Alle andern Vergehungen werden mit Geldbußen, das heißt meist mit Vieh, gesühnt, hie und da wird auch ge¬ prügelt. Die Zahl der Delikte ist nicht groß, außer Totschlag Diebstahl, Ehe¬ bruch, Unzucht, Verleumdung. (Man halte daneben die frühere englische Straf¬ justiz. Um 1300 wurden sieben Verbrechen mit dem Tode bestraft; in der nachfolgenden Zeit schwoll die Zahl dieser Kriminaldelikte auf mehr als zwei¬ hundert an. 1837 wurde die Todesstrafe bei zweihundert Verbrechen, zu denen der Diebstahl gehörte, abgeschafft, doch wurden Rotznase noch bis 1841, ge¬ waltsamer Raub. Brandstiftung und Sodomiterei bis 1861 mit dem Tode be¬ straft. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe I, 160.) Das Verfahren ist öffentlich und durchs Herkommen geordnet. Zur Ermittlung der Schuld werden vielfach Ordalien angewandt, bei einzelnen Stämmen auch Torturen. Wenn man die hier beschriebnen Völker als den Typus der schwarzen Nasse ansehen dürfte, so müßte man sagen, daß sie weniger grausam ist als die mongolische, als die Semiten und als die Europäer zeitweise ge¬ wesen sind. Bei den schwarzen Despoten sind bekanntlich vor der Besitznahme ihrer Länder durch die Europäer Massenabschlachtungen üblich gewesen, aber so scheußliche Prozeduren, wie sie in Deutschland von der Soldateska und von der sogenannten Justiz noch im siebzehnten Jahrhundert verübt wurden, werden in den Berichten nirgends erwähnt; nur in einem Falle wird annähernd schreck¬ liches mitgeteilt. Die Namaqua sind arge Viehräuber und begeyn auf ihren Raubzügen auch fürchterliche Grausamkeiten. Meyer erzählt nun, daß die Herero an den Räubern nicht weniger grausame Wiedervergeltung üben: sie schneiden dem Erwischten die Ohren ab mit den Worten: du sollst keinen Damaraochsen mehr brüllen hören; mit entsprechenden Worten begleiten sie das Ausstechen der Augen, das Abschneiden der Nase, der Lippen; zuletzt schneiden sie ihm die Kehle ab. Daß sie der Rinderraub wütend macht, ist erklärlich, weil das Rind ihr ein und alles ist. Rinder sind ihr Reichtum — wirklicher Reichtum, ein¬ zelne haben vor der Besitznahme des Landes durch die Deutschen Herden von 40000 Stück besessen —, ihr Stolz; sie schlachten Rinder nur bei religiösen und Familienfesten; das Rind ist der Gegenstand ihrer Poesie. Man braucht sich deswegen nicht darüber zu wundern, daß sie ähnliche Grausamkeiten im Kriege an Deutschen verübt haben, die ihnen ja als die großen Räuber nicht allein ihres Viehs, sondern auch ihres Landes galten. Daß der Eigentumsbegriff bei den Schwarzen deutlich ausgebildet ist, be¬ weist die überall übliche Bestrafung des Diebstahls. Freilich stehlen sie gern und oft. Sie sind eben, auch bei gut entwickelter Intelligenz, dem Charakter nach Kinder, die alles haben möchten, was ihnen gefällt, und deren ungefestigter Wille wenig Widerstandskraft hat gegen Gelüste. Aber der Eigentumsbegriff ist nicht bloß vorhanden, sondern auch gesund. Eigentum eines jeden ist vor

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/470>, abgerufen am 23.07.2024.