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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Recht und Sitte der Naturvölker

allem das Erzeugnis, die Frucht seiner eignen Arbeit oder Anstrengung. Das
gilt nicht bloß von den Kunsterzeugnissen, sondern auch von der Jagdbeute und
in der Landwirtschaft. Zwar mit Wildbret ist der glückliche Jäger freigebig,
weil es ja im heißen Klima rasch verdirbt. Aber wenn einige Häuptlinge der
Waganda zusammen auf die Elefantenjagd ausziehen, versieht jeder seine Jäger
mit markierter Kugeln; nur der, dessen Kugel getroffen hat, bekommt das Elfen¬
bein. Der Honig gehört dem Besitzer des Bienenkorbes; verläßt diesen der
Schwarm, so hat jener kein Anrecht mehr auf ihn. Baut sich jemand ein Wehr
und legt damit einen Teich an, so hat er allein das Recht, in diesem zu fischen.
Bei einigen Stämmen gibt es ein gesondertes Besitzrecht auf Fruchtbäume; der
Baum gehört dem, der ihn gepflanzt hat, auch wenn der Boden nicht
sein Eigentum ist. Das Bodenbesitzrecht steht auf der Stufe, die die Römer
bei den Germanen vorfanden, und die überall dort natürlich erscheint, wo man
Land im Überfluß hat. Der Boden gehört dem Dorfe, oder dem Bezirke, oder
dem "Könige". Wald und Weide bleibett der gemeinsamen Benutzung frei¬
gegeben, das Ackerland wird verteilt oder nach Belieben okkupiert. Was ein
jeder urbar gemacht und angebaut hat, davon gebührt ihm die Sondernutzung.
Ist der Boden erschöpft, so sucht er sich ein andres Ackerstück. Auch ganze
Dörfer wandern so. Wie weit sich das Recht der Sondernutzung der Zeit
nach erstreckt, und wie es im einzelnen Falle mit dem Eigentumsrecht der Ge¬
samtheit in Einklang gebracht wird, geht aus den Berichten nicht hervor.
Überall besteht ein geregeltes Erbrecht. Bei manchen Stämmen hat der Erblasser
das Recht, Verfügungen zu treffen, die natürlich nur mündlich kundgegeben,
nicht in einem geschriebnen Testament niedergelegt werden können. Die San-
scmdingstaaten im französischen Sudan haben ein so fein ausgearbeitetes Erb¬
recht, daß die Aufzählung der von der Masse zu machenden Abzüge und der
Pflichtanteile der Verwandten verschiednen Grades bei Steinmetz fünfeinhalb
Seiten füllt. Es mag bei dieser Gelegenheit noch bemerkt werden, daß die
nächsten Verwandtschaftsgrade überall Ehehindernisse sind, und daß bei vielen
Stämmen die Familie für Vergehungen oder Schulden eines Mitglieds solidarisch
haftet. Alle Stämme kennen Verträge. Geldzins ist unbekannt, aber das Kalb
gehört dem, der die Kuh geliehen hat. Der Handel war allgemein Tausch¬
handel, ehe die Europäer das Kaufgeschäft einführten. Die Herero hatten für
"kaufen" kein Wort und hielten es für unrecht, wenn jemand beim Tausch
einen Gewinn machte. Die Kaufleute wurden, als sie sie kennen lernten, als
Betrüger gehaßt und verachtet. Sie hatten genau den Standpunkt der mittel¬
alterlichen Kirche und Luthers inne.

Wir sehen, nicht bloß die Anfänge einer Rechtsordnung, sondern ziemlich
hochentwickelte Rechtsordnungen sind überall vorhanden, sodaß es nirgends an
Anknüpfungspunkten fehlt, von denen aus diese Rechtsordnungen fortentwickelt
und mit unserm Recht in Einklang gebracht oder wenigstens so umgestaltet
werden können, daß zwischen unsern Ansiedlern und den Eingebornen ein gesetzlich


Recht und Sitte der Naturvölker

allem das Erzeugnis, die Frucht seiner eignen Arbeit oder Anstrengung. Das
gilt nicht bloß von den Kunsterzeugnissen, sondern auch von der Jagdbeute und
in der Landwirtschaft. Zwar mit Wildbret ist der glückliche Jäger freigebig,
weil es ja im heißen Klima rasch verdirbt. Aber wenn einige Häuptlinge der
Waganda zusammen auf die Elefantenjagd ausziehen, versieht jeder seine Jäger
mit markierter Kugeln; nur der, dessen Kugel getroffen hat, bekommt das Elfen¬
bein. Der Honig gehört dem Besitzer des Bienenkorbes; verläßt diesen der
Schwarm, so hat jener kein Anrecht mehr auf ihn. Baut sich jemand ein Wehr
und legt damit einen Teich an, so hat er allein das Recht, in diesem zu fischen.
Bei einigen Stämmen gibt es ein gesondertes Besitzrecht auf Fruchtbäume; der
Baum gehört dem, der ihn gepflanzt hat, auch wenn der Boden nicht
sein Eigentum ist. Das Bodenbesitzrecht steht auf der Stufe, die die Römer
bei den Germanen vorfanden, und die überall dort natürlich erscheint, wo man
Land im Überfluß hat. Der Boden gehört dem Dorfe, oder dem Bezirke, oder
dem „Könige". Wald und Weide bleibett der gemeinsamen Benutzung frei¬
gegeben, das Ackerland wird verteilt oder nach Belieben okkupiert. Was ein
jeder urbar gemacht und angebaut hat, davon gebührt ihm die Sondernutzung.
Ist der Boden erschöpft, so sucht er sich ein andres Ackerstück. Auch ganze
Dörfer wandern so. Wie weit sich das Recht der Sondernutzung der Zeit
nach erstreckt, und wie es im einzelnen Falle mit dem Eigentumsrecht der Ge¬
samtheit in Einklang gebracht wird, geht aus den Berichten nicht hervor.
Überall besteht ein geregeltes Erbrecht. Bei manchen Stämmen hat der Erblasser
das Recht, Verfügungen zu treffen, die natürlich nur mündlich kundgegeben,
nicht in einem geschriebnen Testament niedergelegt werden können. Die San-
scmdingstaaten im französischen Sudan haben ein so fein ausgearbeitetes Erb¬
recht, daß die Aufzählung der von der Masse zu machenden Abzüge und der
Pflichtanteile der Verwandten verschiednen Grades bei Steinmetz fünfeinhalb
Seiten füllt. Es mag bei dieser Gelegenheit noch bemerkt werden, daß die
nächsten Verwandtschaftsgrade überall Ehehindernisse sind, und daß bei vielen
Stämmen die Familie für Vergehungen oder Schulden eines Mitglieds solidarisch
haftet. Alle Stämme kennen Verträge. Geldzins ist unbekannt, aber das Kalb
gehört dem, der die Kuh geliehen hat. Der Handel war allgemein Tausch¬
handel, ehe die Europäer das Kaufgeschäft einführten. Die Herero hatten für
„kaufen" kein Wort und hielten es für unrecht, wenn jemand beim Tausch
einen Gewinn machte. Die Kaufleute wurden, als sie sie kennen lernten, als
Betrüger gehaßt und verachtet. Sie hatten genau den Standpunkt der mittel¬
alterlichen Kirche und Luthers inne.

Wir sehen, nicht bloß die Anfänge einer Rechtsordnung, sondern ziemlich
hochentwickelte Rechtsordnungen sind überall vorhanden, sodaß es nirgends an
Anknüpfungspunkten fehlt, von denen aus diese Rechtsordnungen fortentwickelt
und mit unserm Recht in Einklang gebracht oder wenigstens so umgestaltet
werden können, daß zwischen unsern Ansiedlern und den Eingebornen ein gesetzlich


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[0471] Recht und Sitte der Naturvölker allem das Erzeugnis, die Frucht seiner eignen Arbeit oder Anstrengung. Das gilt nicht bloß von den Kunsterzeugnissen, sondern auch von der Jagdbeute und in der Landwirtschaft. Zwar mit Wildbret ist der glückliche Jäger freigebig, weil es ja im heißen Klima rasch verdirbt. Aber wenn einige Häuptlinge der Waganda zusammen auf die Elefantenjagd ausziehen, versieht jeder seine Jäger mit markierter Kugeln; nur der, dessen Kugel getroffen hat, bekommt das Elfen¬ bein. Der Honig gehört dem Besitzer des Bienenkorbes; verläßt diesen der Schwarm, so hat jener kein Anrecht mehr auf ihn. Baut sich jemand ein Wehr und legt damit einen Teich an, so hat er allein das Recht, in diesem zu fischen. Bei einigen Stämmen gibt es ein gesondertes Besitzrecht auf Fruchtbäume; der Baum gehört dem, der ihn gepflanzt hat, auch wenn der Boden nicht sein Eigentum ist. Das Bodenbesitzrecht steht auf der Stufe, die die Römer bei den Germanen vorfanden, und die überall dort natürlich erscheint, wo man Land im Überfluß hat. Der Boden gehört dem Dorfe, oder dem Bezirke, oder dem „Könige". Wald und Weide bleibett der gemeinsamen Benutzung frei¬ gegeben, das Ackerland wird verteilt oder nach Belieben okkupiert. Was ein jeder urbar gemacht und angebaut hat, davon gebührt ihm die Sondernutzung. Ist der Boden erschöpft, so sucht er sich ein andres Ackerstück. Auch ganze Dörfer wandern so. Wie weit sich das Recht der Sondernutzung der Zeit nach erstreckt, und wie es im einzelnen Falle mit dem Eigentumsrecht der Ge¬ samtheit in Einklang gebracht wird, geht aus den Berichten nicht hervor. Überall besteht ein geregeltes Erbrecht. Bei manchen Stämmen hat der Erblasser das Recht, Verfügungen zu treffen, die natürlich nur mündlich kundgegeben, nicht in einem geschriebnen Testament niedergelegt werden können. Die San- scmdingstaaten im französischen Sudan haben ein so fein ausgearbeitetes Erb¬ recht, daß die Aufzählung der von der Masse zu machenden Abzüge und der Pflichtanteile der Verwandten verschiednen Grades bei Steinmetz fünfeinhalb Seiten füllt. Es mag bei dieser Gelegenheit noch bemerkt werden, daß die nächsten Verwandtschaftsgrade überall Ehehindernisse sind, und daß bei vielen Stämmen die Familie für Vergehungen oder Schulden eines Mitglieds solidarisch haftet. Alle Stämme kennen Verträge. Geldzins ist unbekannt, aber das Kalb gehört dem, der die Kuh geliehen hat. Der Handel war allgemein Tausch¬ handel, ehe die Europäer das Kaufgeschäft einführten. Die Herero hatten für „kaufen" kein Wort und hielten es für unrecht, wenn jemand beim Tausch einen Gewinn machte. Die Kaufleute wurden, als sie sie kennen lernten, als Betrüger gehaßt und verachtet. Sie hatten genau den Standpunkt der mittel¬ alterlichen Kirche und Luthers inne. Wir sehen, nicht bloß die Anfänge einer Rechtsordnung, sondern ziemlich hochentwickelte Rechtsordnungen sind überall vorhanden, sodaß es nirgends an Anknüpfungspunkten fehlt, von denen aus diese Rechtsordnungen fortentwickelt und mit unserm Recht in Einklang gebracht oder wenigstens so umgestaltet werden können, daß zwischen unsern Ansiedlern und den Eingebornen ein gesetzlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/471>, abgerufen am 23.07.2024.