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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Roche und Sitte der Naturvölker

Wo der Vater nicht bloß die neugebornen Kinder aussetzen, sondern auch die
erwachsnen verkaufen durfte. Die Abhängigkeitsverhältnisse, die auch hier mit
dem Worte Sklaverei zusammengefaßt werden, zeigen sehr große Verschiedenheit
und alle Abstufungen von der mildesten Hörigkeit bis zur wirklichen grau¬
samen Sklaverei. Die Haussklaven werden meist als Familienglieder behandelt,
dürfen Eigentum und selbst Sklaven erwerben. Manche Stämme haben gar
keine Sklaven. Der Freie kann sich selbst verkaufen (aber nicht Glieder seiner
Familie) oder vorübergehend in Schuldsklaverei geraten. Es herrscht vielfach
die sehr vernünftige Sitte, daß Schulden, auch für Vergehen auferlegte Bußen,
abgearbeitet werden können oder müssen. In den Erörterungen über eine Re¬
form unsrer Strafjustiz wird mitunter ähnliches vorgeschlagen.

Über das Stadium "der Zyklopen, der ungesetzlichen Frevler", die "weder
Gesetz noch Natsversammlung des Volkes kennen", sind die heutigen Natur¬
völker alle hinaus. Sie haben alle ihre politische Verfassung, wenn es erlaubt
ist, das Wort Politik auf so einfache Verhältnisse anzuwenden. Aber eine
Polis, ein Verband auf einem begrenzten Raume zusammenwohnender Menschen,
die Rechte an die Gemeinschaft und Pflichten gegen sie haben, ist eben doch
auch schon das Negerdorf. Die Dörfer eines Stammes stehn in einem lockern
Verbände miteinander. Die Macht der Dorfschulzen und der Bezirkshäuptlinge
ist durch Herkommen und durch die Teilnahme der Gemeinden an der Re¬
gierung beschränkt, sodaß Kolonialbeamte irren, wenn sie glauben, bei den
Negern verstünde sich die Willkürherrschaft von selbst. Es gibt erbliche und
gewählte Häuptlinge; auch der Erb "könig" muß sich noch manchmal einem
Wahlverfahren unterziehen und eine "Wahlkapitulation" anerkennen, die er
freilich nicht unterschreiben kann. Der Krieg schafft festere und größere Ver¬
bände und verleiht dem Anführer, der, wie bei den Germanen, nicht notwendig
der Friedensfürst ist, größere Gewalt. Erobert er ein Reich zusammen, so wird
er natürlicherweise Despot, weil ja ein großer politischer Verband, der nicht
durch das Bedürfnis der Bürger: Nationalitätsbewußtsein, Schutzbedürfnis, Ver¬
kehrsbedürfnis, sondern durch die Raublust eines Eroberers und seines Gefolges
geschaffen worden ist, nur durch Gewalttaten zusammengehalten werden kann;
und die Gewalt entfesselt dann im Despoten die bestialischer Triebe. In unserm
Buche kommt nur eine solche Despotie vor, die von Uganda, und von den
Ondonga, die, wie Steinmetz vermutet, mit den Ovambo identisch sind, wird
gesagt, ihre Häuptlinge seien unumschränkt und regierten despotisch. Im all¬
gemeinen ist der politische Zustand ein Gemisch von Patriarchalismus und
Republikanismus. Recht wird nach festem und anerkannten Herkommen vom
Häuptling unter Mitwirkung der Gemeinde, im Palawer, gesprochen. Es wird
Zwischen Mord und Totschlag unterschieden und jener mit dem Tode bestraft,
soweit nicht noch Blutrache besteht, die sich bei manchen Stämmen ungezügelt
fortwälzt und viele Opfer fordert, bei andern in verschiednen Graden sozusagen
verstaatlicht ist. Wo der Mörder von der Obrigkeit gerichtet wird, wird meist


Grenzboten IV 1907 60
Roche und Sitte der Naturvölker

Wo der Vater nicht bloß die neugebornen Kinder aussetzen, sondern auch die
erwachsnen verkaufen durfte. Die Abhängigkeitsverhältnisse, die auch hier mit
dem Worte Sklaverei zusammengefaßt werden, zeigen sehr große Verschiedenheit
und alle Abstufungen von der mildesten Hörigkeit bis zur wirklichen grau¬
samen Sklaverei. Die Haussklaven werden meist als Familienglieder behandelt,
dürfen Eigentum und selbst Sklaven erwerben. Manche Stämme haben gar
keine Sklaven. Der Freie kann sich selbst verkaufen (aber nicht Glieder seiner
Familie) oder vorübergehend in Schuldsklaverei geraten. Es herrscht vielfach
die sehr vernünftige Sitte, daß Schulden, auch für Vergehen auferlegte Bußen,
abgearbeitet werden können oder müssen. In den Erörterungen über eine Re¬
form unsrer Strafjustiz wird mitunter ähnliches vorgeschlagen.

Über das Stadium „der Zyklopen, der ungesetzlichen Frevler", die „weder
Gesetz noch Natsversammlung des Volkes kennen", sind die heutigen Natur¬
völker alle hinaus. Sie haben alle ihre politische Verfassung, wenn es erlaubt
ist, das Wort Politik auf so einfache Verhältnisse anzuwenden. Aber eine
Polis, ein Verband auf einem begrenzten Raume zusammenwohnender Menschen,
die Rechte an die Gemeinschaft und Pflichten gegen sie haben, ist eben doch
auch schon das Negerdorf. Die Dörfer eines Stammes stehn in einem lockern
Verbände miteinander. Die Macht der Dorfschulzen und der Bezirkshäuptlinge
ist durch Herkommen und durch die Teilnahme der Gemeinden an der Re¬
gierung beschränkt, sodaß Kolonialbeamte irren, wenn sie glauben, bei den
Negern verstünde sich die Willkürherrschaft von selbst. Es gibt erbliche und
gewählte Häuptlinge; auch der Erb „könig" muß sich noch manchmal einem
Wahlverfahren unterziehen und eine „Wahlkapitulation" anerkennen, die er
freilich nicht unterschreiben kann. Der Krieg schafft festere und größere Ver¬
bände und verleiht dem Anführer, der, wie bei den Germanen, nicht notwendig
der Friedensfürst ist, größere Gewalt. Erobert er ein Reich zusammen, so wird
er natürlicherweise Despot, weil ja ein großer politischer Verband, der nicht
durch das Bedürfnis der Bürger: Nationalitätsbewußtsein, Schutzbedürfnis, Ver¬
kehrsbedürfnis, sondern durch die Raublust eines Eroberers und seines Gefolges
geschaffen worden ist, nur durch Gewalttaten zusammengehalten werden kann;
und die Gewalt entfesselt dann im Despoten die bestialischer Triebe. In unserm
Buche kommt nur eine solche Despotie vor, die von Uganda, und von den
Ondonga, die, wie Steinmetz vermutet, mit den Ovambo identisch sind, wird
gesagt, ihre Häuptlinge seien unumschränkt und regierten despotisch. Im all¬
gemeinen ist der politische Zustand ein Gemisch von Patriarchalismus und
Republikanismus. Recht wird nach festem und anerkannten Herkommen vom
Häuptling unter Mitwirkung der Gemeinde, im Palawer, gesprochen. Es wird
Zwischen Mord und Totschlag unterschieden und jener mit dem Tode bestraft,
soweit nicht noch Blutrache besteht, die sich bei manchen Stämmen ungezügelt
fortwälzt und viele Opfer fordert, bei andern in verschiednen Graden sozusagen
verstaatlicht ist. Wo der Mörder von der Obrigkeit gerichtet wird, wird meist


Grenzboten IV 1907 60
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[0469] Roche und Sitte der Naturvölker Wo der Vater nicht bloß die neugebornen Kinder aussetzen, sondern auch die erwachsnen verkaufen durfte. Die Abhängigkeitsverhältnisse, die auch hier mit dem Worte Sklaverei zusammengefaßt werden, zeigen sehr große Verschiedenheit und alle Abstufungen von der mildesten Hörigkeit bis zur wirklichen grau¬ samen Sklaverei. Die Haussklaven werden meist als Familienglieder behandelt, dürfen Eigentum und selbst Sklaven erwerben. Manche Stämme haben gar keine Sklaven. Der Freie kann sich selbst verkaufen (aber nicht Glieder seiner Familie) oder vorübergehend in Schuldsklaverei geraten. Es herrscht vielfach die sehr vernünftige Sitte, daß Schulden, auch für Vergehen auferlegte Bußen, abgearbeitet werden können oder müssen. In den Erörterungen über eine Re¬ form unsrer Strafjustiz wird mitunter ähnliches vorgeschlagen. Über das Stadium „der Zyklopen, der ungesetzlichen Frevler", die „weder Gesetz noch Natsversammlung des Volkes kennen", sind die heutigen Natur¬ völker alle hinaus. Sie haben alle ihre politische Verfassung, wenn es erlaubt ist, das Wort Politik auf so einfache Verhältnisse anzuwenden. Aber eine Polis, ein Verband auf einem begrenzten Raume zusammenwohnender Menschen, die Rechte an die Gemeinschaft und Pflichten gegen sie haben, ist eben doch auch schon das Negerdorf. Die Dörfer eines Stammes stehn in einem lockern Verbände miteinander. Die Macht der Dorfschulzen und der Bezirkshäuptlinge ist durch Herkommen und durch die Teilnahme der Gemeinden an der Re¬ gierung beschränkt, sodaß Kolonialbeamte irren, wenn sie glauben, bei den Negern verstünde sich die Willkürherrschaft von selbst. Es gibt erbliche und gewählte Häuptlinge; auch der Erb „könig" muß sich noch manchmal einem Wahlverfahren unterziehen und eine „Wahlkapitulation" anerkennen, die er freilich nicht unterschreiben kann. Der Krieg schafft festere und größere Ver¬ bände und verleiht dem Anführer, der, wie bei den Germanen, nicht notwendig der Friedensfürst ist, größere Gewalt. Erobert er ein Reich zusammen, so wird er natürlicherweise Despot, weil ja ein großer politischer Verband, der nicht durch das Bedürfnis der Bürger: Nationalitätsbewußtsein, Schutzbedürfnis, Ver¬ kehrsbedürfnis, sondern durch die Raublust eines Eroberers und seines Gefolges geschaffen worden ist, nur durch Gewalttaten zusammengehalten werden kann; und die Gewalt entfesselt dann im Despoten die bestialischer Triebe. In unserm Buche kommt nur eine solche Despotie vor, die von Uganda, und von den Ondonga, die, wie Steinmetz vermutet, mit den Ovambo identisch sind, wird gesagt, ihre Häuptlinge seien unumschränkt und regierten despotisch. Im all¬ gemeinen ist der politische Zustand ein Gemisch von Patriarchalismus und Republikanismus. Recht wird nach festem und anerkannten Herkommen vom Häuptling unter Mitwirkung der Gemeinde, im Palawer, gesprochen. Es wird Zwischen Mord und Totschlag unterschieden und jener mit dem Tode bestraft, soweit nicht noch Blutrache besteht, die sich bei manchen Stämmen ungezügelt fortwälzt und viele Opfer fordert, bei andern in verschiednen Graden sozusagen verstaatlicht ist. Wo der Mörder von der Obrigkeit gerichtet wird, wird meist Grenzboten IV 1907 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/469>, abgerufen am 23.07.2024.