Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Recht und Sitte der Naturvölker

schon der Fall. Der Koran erlaubt dem Freien vier, dem Sklaven zwei recht¬
mäßige Gattinnen, aber da die meisten Türken nicht mehr als eine bekommen
können, begnügen sie sich mit einer, und schon Lothar Bucher hat, als er von
London aus Konstantinopel besuchte, gefunden, daß im Lande der strengsten
christlichen Sitte die Polygamie viel ärger sei als bei den Moslemin. Aller¬
dings ermöglicht es den Türken die Leichtigkeit der Scheidung, sich durch suc¬
cessive Polygamie einigermaßen zu entschädigen. Eine zweite Folgerung ergibt
sich für die Kolonialbeamten. In der Debatte über die Kolonialskandale ist
wiederholt geäußert worden: es sei lächerlich, kleinlich und unpolitisch, an Kon¬
quistadoren, die dem Reiche Tausende von Quadratmeilen erwerben, den Maßstab
der Philistermoral zu legen; korrekte Musterknaben taugten nicht zu Kon¬
quistadoren; außerdem möge man das Klima, die Gelegenheit und sonstige Um¬
stände erwägen, die wohl auch einen Musterknaben, der im übrigen nichts be¬
deutendes leiste, zu Falle bringen könnten. Das mag richtig sein, aber es folgt
daraus nicht, daß es in einer Kolonie den Beamten gestattet werden könne,
durch ungezügelte Ausbrüche des Tropenkollers in der angedeuteten oder einer
andern Richtung den schon erworbnen Besitz in Gefahr zu bringen. Sie haben
allermindestens auf die Sitten, Gewohnheiten, und die Denkungsart der Stämme
Rücksicht zu nehmen, mit denen sie zu tun haben. Diese Sitten sind sehr ver¬
schieden. Es gibt Stämme, bei denen die Männer ihre Frauen selbst den
Weißen anbieten -- um Bezahlung natürlich. Es gibt aber auch Stämme, bei
denen die Virginität der Braut hochgeschätzt wird, und wo der Mann, der einem
Mädchen die Jungfrauenehre raubt, es entweder heiraten oder den Vater mit
einer verhältnismüßig hohen Buße entschädigen muß; und es gibt Stämme,
deren Männer sehr eifersüchtig sind. Offenbar kann bei solchen ein rücksichts
loser Wüstling seiner Regierung ernsthafte Verlegenheiten bereiten.

Die Geburt eines Kindes wird bei den Negern, wie überall, wo man sich
noch eines weiten Nahrungsspielraums erfreut, mit Jubel begrüßt; sind doch
heranwachsende Kinder wertvolle Gehilfen in der Arbeit, und die Tochter ist
außerdem, wie bei den Griechen der Heroenzeit, alphesiboia, sie bringt dem Vater
Rinder ein. (Bekundet es wirklich eine höhere Schätzung des Weibes, wenn
bei uns der Vater, anstatt für seine Tochter etwas zu kriegen, noch eine
hohe Summe drauf zahlt, damit er sie los wird?) Deshalb werden auch die
Neugebornen nirgends umgebracht, ausgenommen die Mißgeburten und hie und
da die Zwillinge. Zwillingsgeburten gelten als etwas abnormes, und vor
allem abnormen hat man eine abergläubische Furcht. Schlimmer steht es in
Ozeanien, weil eine kleine Insel rasch übervölkert ist; hier hat sich entvölkernder
Kindermord eingenistet. Auch in andern Beziehungen stehen die Kannibalen der
Nissaninseln (im Bismarckarchipel) und die Bewohner der Marschallinseln, über
die Berichte vorliegen, weit niedriger als die Neger. Bei diesen werden die
Kinder "mit Affenliebe" behandelt, auch die schwächlichen sorgsam gepflegt.
Die väterliche Gewalt erstreckt sich nicht so weit wie bei den alten Römern,


Recht und Sitte der Naturvölker

schon der Fall. Der Koran erlaubt dem Freien vier, dem Sklaven zwei recht¬
mäßige Gattinnen, aber da die meisten Türken nicht mehr als eine bekommen
können, begnügen sie sich mit einer, und schon Lothar Bucher hat, als er von
London aus Konstantinopel besuchte, gefunden, daß im Lande der strengsten
christlichen Sitte die Polygamie viel ärger sei als bei den Moslemin. Aller¬
dings ermöglicht es den Türken die Leichtigkeit der Scheidung, sich durch suc¬
cessive Polygamie einigermaßen zu entschädigen. Eine zweite Folgerung ergibt
sich für die Kolonialbeamten. In der Debatte über die Kolonialskandale ist
wiederholt geäußert worden: es sei lächerlich, kleinlich und unpolitisch, an Kon¬
quistadoren, die dem Reiche Tausende von Quadratmeilen erwerben, den Maßstab
der Philistermoral zu legen; korrekte Musterknaben taugten nicht zu Kon¬
quistadoren; außerdem möge man das Klima, die Gelegenheit und sonstige Um¬
stände erwägen, die wohl auch einen Musterknaben, der im übrigen nichts be¬
deutendes leiste, zu Falle bringen könnten. Das mag richtig sein, aber es folgt
daraus nicht, daß es in einer Kolonie den Beamten gestattet werden könne,
durch ungezügelte Ausbrüche des Tropenkollers in der angedeuteten oder einer
andern Richtung den schon erworbnen Besitz in Gefahr zu bringen. Sie haben
allermindestens auf die Sitten, Gewohnheiten, und die Denkungsart der Stämme
Rücksicht zu nehmen, mit denen sie zu tun haben. Diese Sitten sind sehr ver¬
schieden. Es gibt Stämme, bei denen die Männer ihre Frauen selbst den
Weißen anbieten — um Bezahlung natürlich. Es gibt aber auch Stämme, bei
denen die Virginität der Braut hochgeschätzt wird, und wo der Mann, der einem
Mädchen die Jungfrauenehre raubt, es entweder heiraten oder den Vater mit
einer verhältnismüßig hohen Buße entschädigen muß; und es gibt Stämme,
deren Männer sehr eifersüchtig sind. Offenbar kann bei solchen ein rücksichts
loser Wüstling seiner Regierung ernsthafte Verlegenheiten bereiten.

Die Geburt eines Kindes wird bei den Negern, wie überall, wo man sich
noch eines weiten Nahrungsspielraums erfreut, mit Jubel begrüßt; sind doch
heranwachsende Kinder wertvolle Gehilfen in der Arbeit, und die Tochter ist
außerdem, wie bei den Griechen der Heroenzeit, alphesiboia, sie bringt dem Vater
Rinder ein. (Bekundet es wirklich eine höhere Schätzung des Weibes, wenn
bei uns der Vater, anstatt für seine Tochter etwas zu kriegen, noch eine
hohe Summe drauf zahlt, damit er sie los wird?) Deshalb werden auch die
Neugebornen nirgends umgebracht, ausgenommen die Mißgeburten und hie und
da die Zwillinge. Zwillingsgeburten gelten als etwas abnormes, und vor
allem abnormen hat man eine abergläubische Furcht. Schlimmer steht es in
Ozeanien, weil eine kleine Insel rasch übervölkert ist; hier hat sich entvölkernder
Kindermord eingenistet. Auch in andern Beziehungen stehen die Kannibalen der
Nissaninseln (im Bismarckarchipel) und die Bewohner der Marschallinseln, über
die Berichte vorliegen, weit niedriger als die Neger. Bei diesen werden die
Kinder „mit Affenliebe" behandelt, auch die schwächlichen sorgsam gepflegt.
Die väterliche Gewalt erstreckt sich nicht so weit wie bei den alten Römern,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0468" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303884"/>
          <fw type="header" place="top"> Recht und Sitte der Naturvölker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2064" prev="#ID_2063"> schon der Fall. Der Koran erlaubt dem Freien vier, dem Sklaven zwei recht¬<lb/>
mäßige Gattinnen, aber da die meisten Türken nicht mehr als eine bekommen<lb/>
können, begnügen sie sich mit einer, und schon Lothar Bucher hat, als er von<lb/>
London aus Konstantinopel besuchte, gefunden, daß im Lande der strengsten<lb/>
christlichen Sitte die Polygamie viel ärger sei als bei den Moslemin. Aller¬<lb/>
dings ermöglicht es den Türken die Leichtigkeit der Scheidung, sich durch suc¬<lb/>
cessive Polygamie einigermaßen zu entschädigen. Eine zweite Folgerung ergibt<lb/>
sich für die Kolonialbeamten. In der Debatte über die Kolonialskandale ist<lb/>
wiederholt geäußert worden: es sei lächerlich, kleinlich und unpolitisch, an Kon¬<lb/>
quistadoren, die dem Reiche Tausende von Quadratmeilen erwerben, den Maßstab<lb/>
der Philistermoral zu legen; korrekte Musterknaben taugten nicht zu Kon¬<lb/>
quistadoren; außerdem möge man das Klima, die Gelegenheit und sonstige Um¬<lb/>
stände erwägen, die wohl auch einen Musterknaben, der im übrigen nichts be¬<lb/>
deutendes leiste, zu Falle bringen könnten. Das mag richtig sein, aber es folgt<lb/>
daraus nicht, daß es in einer Kolonie den Beamten gestattet werden könne,<lb/>
durch ungezügelte Ausbrüche des Tropenkollers in der angedeuteten oder einer<lb/>
andern Richtung den schon erworbnen Besitz in Gefahr zu bringen. Sie haben<lb/>
allermindestens auf die Sitten, Gewohnheiten, und die Denkungsart der Stämme<lb/>
Rücksicht zu nehmen, mit denen sie zu tun haben. Diese Sitten sind sehr ver¬<lb/>
schieden. Es gibt Stämme, bei denen die Männer ihre Frauen selbst den<lb/>
Weißen anbieten &#x2014; um Bezahlung natürlich. Es gibt aber auch Stämme, bei<lb/>
denen die Virginität der Braut hochgeschätzt wird, und wo der Mann, der einem<lb/>
Mädchen die Jungfrauenehre raubt, es entweder heiraten oder den Vater mit<lb/>
einer verhältnismüßig hohen Buße entschädigen muß; und es gibt Stämme,<lb/>
deren Männer sehr eifersüchtig sind. Offenbar kann bei solchen ein rücksichts<lb/>
loser Wüstling seiner Regierung ernsthafte Verlegenheiten bereiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2065" next="#ID_2066"> Die Geburt eines Kindes wird bei den Negern, wie überall, wo man sich<lb/>
noch eines weiten Nahrungsspielraums erfreut, mit Jubel begrüßt; sind doch<lb/>
heranwachsende Kinder wertvolle Gehilfen in der Arbeit, und die Tochter ist<lb/>
außerdem, wie bei den Griechen der Heroenzeit, alphesiboia, sie bringt dem Vater<lb/>
Rinder ein. (Bekundet es wirklich eine höhere Schätzung des Weibes, wenn<lb/>
bei uns der Vater, anstatt für seine Tochter etwas zu kriegen, noch eine<lb/>
hohe Summe drauf zahlt, damit er sie los wird?) Deshalb werden auch die<lb/>
Neugebornen nirgends umgebracht, ausgenommen die Mißgeburten und hie und<lb/>
da die Zwillinge. Zwillingsgeburten gelten als etwas abnormes, und vor<lb/>
allem abnormen hat man eine abergläubische Furcht. Schlimmer steht es in<lb/>
Ozeanien, weil eine kleine Insel rasch übervölkert ist; hier hat sich entvölkernder<lb/>
Kindermord eingenistet. Auch in andern Beziehungen stehen die Kannibalen der<lb/>
Nissaninseln (im Bismarckarchipel) und die Bewohner der Marschallinseln, über<lb/>
die Berichte vorliegen, weit niedriger als die Neger. Bei diesen werden die<lb/>
Kinder &#x201E;mit Affenliebe" behandelt, auch die schwächlichen sorgsam gepflegt.<lb/>
Die väterliche Gewalt erstreckt sich nicht so weit wie bei den alten Römern,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0468] Recht und Sitte der Naturvölker schon der Fall. Der Koran erlaubt dem Freien vier, dem Sklaven zwei recht¬ mäßige Gattinnen, aber da die meisten Türken nicht mehr als eine bekommen können, begnügen sie sich mit einer, und schon Lothar Bucher hat, als er von London aus Konstantinopel besuchte, gefunden, daß im Lande der strengsten christlichen Sitte die Polygamie viel ärger sei als bei den Moslemin. Aller¬ dings ermöglicht es den Türken die Leichtigkeit der Scheidung, sich durch suc¬ cessive Polygamie einigermaßen zu entschädigen. Eine zweite Folgerung ergibt sich für die Kolonialbeamten. In der Debatte über die Kolonialskandale ist wiederholt geäußert worden: es sei lächerlich, kleinlich und unpolitisch, an Kon¬ quistadoren, die dem Reiche Tausende von Quadratmeilen erwerben, den Maßstab der Philistermoral zu legen; korrekte Musterknaben taugten nicht zu Kon¬ quistadoren; außerdem möge man das Klima, die Gelegenheit und sonstige Um¬ stände erwägen, die wohl auch einen Musterknaben, der im übrigen nichts be¬ deutendes leiste, zu Falle bringen könnten. Das mag richtig sein, aber es folgt daraus nicht, daß es in einer Kolonie den Beamten gestattet werden könne, durch ungezügelte Ausbrüche des Tropenkollers in der angedeuteten oder einer andern Richtung den schon erworbnen Besitz in Gefahr zu bringen. Sie haben allermindestens auf die Sitten, Gewohnheiten, und die Denkungsart der Stämme Rücksicht zu nehmen, mit denen sie zu tun haben. Diese Sitten sind sehr ver¬ schieden. Es gibt Stämme, bei denen die Männer ihre Frauen selbst den Weißen anbieten — um Bezahlung natürlich. Es gibt aber auch Stämme, bei denen die Virginität der Braut hochgeschätzt wird, und wo der Mann, der einem Mädchen die Jungfrauenehre raubt, es entweder heiraten oder den Vater mit einer verhältnismüßig hohen Buße entschädigen muß; und es gibt Stämme, deren Männer sehr eifersüchtig sind. Offenbar kann bei solchen ein rücksichts loser Wüstling seiner Regierung ernsthafte Verlegenheiten bereiten. Die Geburt eines Kindes wird bei den Negern, wie überall, wo man sich noch eines weiten Nahrungsspielraums erfreut, mit Jubel begrüßt; sind doch heranwachsende Kinder wertvolle Gehilfen in der Arbeit, und die Tochter ist außerdem, wie bei den Griechen der Heroenzeit, alphesiboia, sie bringt dem Vater Rinder ein. (Bekundet es wirklich eine höhere Schätzung des Weibes, wenn bei uns der Vater, anstatt für seine Tochter etwas zu kriegen, noch eine hohe Summe drauf zahlt, damit er sie los wird?) Deshalb werden auch die Neugebornen nirgends umgebracht, ausgenommen die Mißgeburten und hie und da die Zwillinge. Zwillingsgeburten gelten als etwas abnormes, und vor allem abnormen hat man eine abergläubische Furcht. Schlimmer steht es in Ozeanien, weil eine kleine Insel rasch übervölkert ist; hier hat sich entvölkernder Kindermord eingenistet. Auch in andern Beziehungen stehen die Kannibalen der Nissaninseln (im Bismarckarchipel) und die Bewohner der Marschallinseln, über die Berichte vorliegen, weit niedriger als die Neger. Bei diesen werden die Kinder „mit Affenliebe" behandelt, auch die schwächlichen sorgsam gepflegt. Die väterliche Gewalt erstreckt sich nicht so weit wie bei den alten Römern,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/468
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/468>, abgerufen am 23.07.2024.