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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Auflösung der Familie, weil er nicht lange dauert, denn es wird ja sehr jung
geheiratet. Daß Prostitution den meisten Stämmen unbekannt ist (in Sene-
gambien, wird bemerkt, hätten sie die Franzosen eingeschleppt), begründet keinen
besondern Ehrentitel, denn wo freie Liebe vor der Ehe herrscht, der Bursche
jung heiratet, der Manu mehrere Frauen und, wo es Sklaven gibt, auch noch
ein paar Sklavinnen zur Verfügung hat, da ist für diese viclbeklagte Begleit¬
erscheinung aller höhern Kulturentwicklung kein Bedürfnis vorhanden. Die Poly¬
gamie herrscht ziemlich allgemein, doch auch die polygame Ehe bleibt immer
noch eine Ehe. Es wird sogar (allerdings bei mohammedanischen Mischungen)
streng unterschieden zwischen ehelichen und unehelichen Kindern. Gegen diese
hat der Vater keine Verpflichtung. Steinmetz bemerkt dazu: "Grausam hart!
Aber vielleicht nützlich für die Hochhaltung der Familie und der Ehe. Ist die
humane Auffassung hier wie in der religiösen Toleranz nicht oft ein Ausfluß
der Erschlaffung, Symptom der Dekadenz? Die Frauen mußten die Märtyrer
der Mutterchre wie die Männer die der Wasfenehre werden. Das Leben ist
nun einmal tragisch und fordert viele Opfer." Bei manchen Stämmen erscheint
die Polygamie sehr entschuldbar, weil die Mutter das Kind lange sängt, und
der Mann ihr in dieser Periode nicht nahen darf. Aus alledem scheinen zwei
praktische Folgerungen gezogen werden zu müssen. Die Missionare sollten es
nicht allzu eilig mit der Bekehrung und der Taufe haben. Völker, die sich in die
Polygamie eingelebt haben, können nicht plötzlich monogam werden, ihr Leben
kann nicht binnen wenigen Jahren die äußere Gestalt annehmen, die das
Christentum unbedingt fordert. Bei den arischen Völkern war eine solche Um¬
gestaltung gar nicht notwendig, denn sie haben, wie wir aus Homer wissen,
schon tausend Jahre vor Christus monogam gelebt. Es sind nicht einmal die
Männer allein, die sich der Durchführung der christlichen Familienordnung wider¬
setzen. Der katholische Missionar, der über zwei zu Madagaskar gehörende kleine
Inseln berichtet, klagt, daß alle Mühe der Schulen, den Mädchen Zucht beizu¬
bringen, vergebens sei; sie hielten es für eine Schande, unberührt zu bleiben.
Die Missionare sollten sich also darauf beschränken, aus den ethisch tüchtigsten
der vou ihnen erzognen Kinder Gemeinden zu bilden, mit der Aufnahme der
Erwachsnen aber noch ein paar Generationen warten. Die (offiziell anerkannte)
Polygamie wird ja dann von selbst verschwunden sein. Steinmetz erwähnt, daß
der König der Waganda, Mensa (das Land heißt Uganda), 7000 Frauen ge¬
habt haben soll (was offenbar ungeheuerlich aufgeschnitten ist), und fragt: wo
kommen diese Frauen wohl alle her? Darauf geben ja seine Berichte die Ant¬
wort. In den ewigen Fehden der Negervöiter untereinander werden die Männer
erschlagen, die Weiber und die Kinder geraubt, und wo ein Despot einen ganzen
Harem einlegt, müssen viele seiner Untertanen unbeweibt bleiben. Da nun die
Europäer sowohl den Fehden als auch der Despotenwirtschaft ein Ende machen,
wird nach einigen Jahrzehnten das natürliche Gleichgewicht der Geschlechter
hergestellt und die Polygamie unmöglich sein. In der Türkei ist das heute


Auflösung der Familie, weil er nicht lange dauert, denn es wird ja sehr jung
geheiratet. Daß Prostitution den meisten Stämmen unbekannt ist (in Sene-
gambien, wird bemerkt, hätten sie die Franzosen eingeschleppt), begründet keinen
besondern Ehrentitel, denn wo freie Liebe vor der Ehe herrscht, der Bursche
jung heiratet, der Manu mehrere Frauen und, wo es Sklaven gibt, auch noch
ein paar Sklavinnen zur Verfügung hat, da ist für diese viclbeklagte Begleit¬
erscheinung aller höhern Kulturentwicklung kein Bedürfnis vorhanden. Die Poly¬
gamie herrscht ziemlich allgemein, doch auch die polygame Ehe bleibt immer
noch eine Ehe. Es wird sogar (allerdings bei mohammedanischen Mischungen)
streng unterschieden zwischen ehelichen und unehelichen Kindern. Gegen diese
hat der Vater keine Verpflichtung. Steinmetz bemerkt dazu: „Grausam hart!
Aber vielleicht nützlich für die Hochhaltung der Familie und der Ehe. Ist die
humane Auffassung hier wie in der religiösen Toleranz nicht oft ein Ausfluß
der Erschlaffung, Symptom der Dekadenz? Die Frauen mußten die Märtyrer
der Mutterchre wie die Männer die der Wasfenehre werden. Das Leben ist
nun einmal tragisch und fordert viele Opfer." Bei manchen Stämmen erscheint
die Polygamie sehr entschuldbar, weil die Mutter das Kind lange sängt, und
der Mann ihr in dieser Periode nicht nahen darf. Aus alledem scheinen zwei
praktische Folgerungen gezogen werden zu müssen. Die Missionare sollten es
nicht allzu eilig mit der Bekehrung und der Taufe haben. Völker, die sich in die
Polygamie eingelebt haben, können nicht plötzlich monogam werden, ihr Leben
kann nicht binnen wenigen Jahren die äußere Gestalt annehmen, die das
Christentum unbedingt fordert. Bei den arischen Völkern war eine solche Um¬
gestaltung gar nicht notwendig, denn sie haben, wie wir aus Homer wissen,
schon tausend Jahre vor Christus monogam gelebt. Es sind nicht einmal die
Männer allein, die sich der Durchführung der christlichen Familienordnung wider¬
setzen. Der katholische Missionar, der über zwei zu Madagaskar gehörende kleine
Inseln berichtet, klagt, daß alle Mühe der Schulen, den Mädchen Zucht beizu¬
bringen, vergebens sei; sie hielten es für eine Schande, unberührt zu bleiben.
Die Missionare sollten sich also darauf beschränken, aus den ethisch tüchtigsten
der vou ihnen erzognen Kinder Gemeinden zu bilden, mit der Aufnahme der
Erwachsnen aber noch ein paar Generationen warten. Die (offiziell anerkannte)
Polygamie wird ja dann von selbst verschwunden sein. Steinmetz erwähnt, daß
der König der Waganda, Mensa (das Land heißt Uganda), 7000 Frauen ge¬
habt haben soll (was offenbar ungeheuerlich aufgeschnitten ist), und fragt: wo
kommen diese Frauen wohl alle her? Darauf geben ja seine Berichte die Ant¬
wort. In den ewigen Fehden der Negervöiter untereinander werden die Männer
erschlagen, die Weiber und die Kinder geraubt, und wo ein Despot einen ganzen
Harem einlegt, müssen viele seiner Untertanen unbeweibt bleiben. Da nun die
Europäer sowohl den Fehden als auch der Despotenwirtschaft ein Ende machen,
wird nach einigen Jahrzehnten das natürliche Gleichgewicht der Geschlechter
hergestellt und die Polygamie unmöglich sein. In der Türkei ist das heute


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/467>, abgerufen am 23.07.2024.