Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

ehemals liberale Stimmen, die aus dem sozialdemokratischen Lager infolge der
nationalen Erregung zurückkehrten. In beiden Fällen handelt es sich aber
um einen nationalen Gewinn, der nur äußerlich in der liberalen Wahl¬
ziffer zum Ausdruck kam. So groß die Freude darüber ist, daß die Links¬
liberalen diesmal im Wahlkampf auf der nationalen Seite standen, so wenig
kann ihnen aus der Erfüllung der Pflicht gegenüber dem Vaterland ein be¬
sondres Verdienst erwachsen. Der ganze Wahlgang trug durchaus nicht den
Charakter eines Geschäfts, und man sollte darauf zu deutende Gesichtspunkte
auch nicht hinterher hineinzutragen versuchen. Jahre hindurch hat die liberale
Presse über die "klerikale" Haltung der Negierung gelärmt, weil sie auf das
ausschlaggebende Zentrum Rücksicht zu nehmen genötigt war, ein Vorwurf
gleicher Art wird ihr nicht erspart werden, wenn sie nun auch auf die Liberalen
rechnet und ihren Wünschen mehr entgegenkommt. Der Reichskanzler ist mit
guten Gründen so deutlich vom Zentrum abgerückt, daß die Liberalen damit
wohl zufrieden sein können; mehr ist in unsern konstitutionellen Verhältnissen
auch nicht zu erwarten und zu verlangen.

Es muß mit großer Befriedigung anerkannt werden, daß die angesehensten
liberalen Führer auch auf diesem Standpunkte stehn und alles weitere Drängen
abzuwehren verstanden haben. Wir haben in Deutschland kein parlamentarisches
System mit der "Verteilung der Beute" nach den Wahlen. Das sind aus
fremden Verhältnissen hereingetragne Ansichten, die man nach den Kämpfen,
die schon Bismarck mit Erfolg dagegen geführt hat, eigentlich für abgetan halten
sollte. Sie tauchen aber immer wieder auf. So schüttete erst vor wenig Jahren
der Berliner Korrespondent der deutschen Petersburger Zeitung sein Herz in
einem beweglichen Artikel darüber aus, und vor kurzem hat der Sozialpolitiker
Werner Sombart in einer deutschen Wochenschrift über "die Elemente des poli¬
tischen Lebens in Deutschland" gesprochen, wobei der Sinn seiner Ausführungen
in dem Satze gipfelte: "Es fehlt unsern Parlamentariern vollständig das Be¬
wußtsein, Machthaber zu sein oder je es werden zu können." Man kann daraus
ohne weiteres erkennen, daß auch er das Nichtvorhandensein des parlamentarischen
Systems in Deutschland für einen Mangel hält. Derselbe Grundgedanke ver¬
birgt sich auch hinter all den mehr oder weniger laut werdenden Stimmen
wegen einer liberalen Regierung im Reiche nach dem Erfolge des Liberalismus
bei den Wahlen. Ein nur oberflächlicher Blick in die Reichsverfassung läßt
allerdings die Stellung und die Aufgaben des Reichstags im Vergleich zu den
meisten andern europäischen Parlamenten bescheiden erscheinen. Er ist, wie
alle deutschen Kammern, nur eine beratende Körperschaft, und die ausübende
Gewalt geht nicht aus ihm hervor. Aber doch ist seine Zustimmung zu jedem
Gesetz nötig, und dazu gehört vor allem das jährliche Budget. Größere
Rechte sind in Deutschland nirgends hergebracht, die verschiednen ständischen
Vertretungen haben niemals die ausübende Gewalt besessen, auch keinen
Anteil daran gehabt. Es ist schon so vielfach nachgewiesen worden, daß das


ehemals liberale Stimmen, die aus dem sozialdemokratischen Lager infolge der
nationalen Erregung zurückkehrten. In beiden Fällen handelt es sich aber
um einen nationalen Gewinn, der nur äußerlich in der liberalen Wahl¬
ziffer zum Ausdruck kam. So groß die Freude darüber ist, daß die Links¬
liberalen diesmal im Wahlkampf auf der nationalen Seite standen, so wenig
kann ihnen aus der Erfüllung der Pflicht gegenüber dem Vaterland ein be¬
sondres Verdienst erwachsen. Der ganze Wahlgang trug durchaus nicht den
Charakter eines Geschäfts, und man sollte darauf zu deutende Gesichtspunkte
auch nicht hinterher hineinzutragen versuchen. Jahre hindurch hat die liberale
Presse über die „klerikale" Haltung der Negierung gelärmt, weil sie auf das
ausschlaggebende Zentrum Rücksicht zu nehmen genötigt war, ein Vorwurf
gleicher Art wird ihr nicht erspart werden, wenn sie nun auch auf die Liberalen
rechnet und ihren Wünschen mehr entgegenkommt. Der Reichskanzler ist mit
guten Gründen so deutlich vom Zentrum abgerückt, daß die Liberalen damit
wohl zufrieden sein können; mehr ist in unsern konstitutionellen Verhältnissen
auch nicht zu erwarten und zu verlangen.

Es muß mit großer Befriedigung anerkannt werden, daß die angesehensten
liberalen Führer auch auf diesem Standpunkte stehn und alles weitere Drängen
abzuwehren verstanden haben. Wir haben in Deutschland kein parlamentarisches
System mit der „Verteilung der Beute" nach den Wahlen. Das sind aus
fremden Verhältnissen hereingetragne Ansichten, die man nach den Kämpfen,
die schon Bismarck mit Erfolg dagegen geführt hat, eigentlich für abgetan halten
sollte. Sie tauchen aber immer wieder auf. So schüttete erst vor wenig Jahren
der Berliner Korrespondent der deutschen Petersburger Zeitung sein Herz in
einem beweglichen Artikel darüber aus, und vor kurzem hat der Sozialpolitiker
Werner Sombart in einer deutschen Wochenschrift über „die Elemente des poli¬
tischen Lebens in Deutschland" gesprochen, wobei der Sinn seiner Ausführungen
in dem Satze gipfelte: „Es fehlt unsern Parlamentariern vollständig das Be¬
wußtsein, Machthaber zu sein oder je es werden zu können." Man kann daraus
ohne weiteres erkennen, daß auch er das Nichtvorhandensein des parlamentarischen
Systems in Deutschland für einen Mangel hält. Derselbe Grundgedanke ver¬
birgt sich auch hinter all den mehr oder weniger laut werdenden Stimmen
wegen einer liberalen Regierung im Reiche nach dem Erfolge des Liberalismus
bei den Wahlen. Ein nur oberflächlicher Blick in die Reichsverfassung läßt
allerdings die Stellung und die Aufgaben des Reichstags im Vergleich zu den
meisten andern europäischen Parlamenten bescheiden erscheinen. Er ist, wie
alle deutschen Kammern, nur eine beratende Körperschaft, und die ausübende
Gewalt geht nicht aus ihm hervor. Aber doch ist seine Zustimmung zu jedem
Gesetz nötig, und dazu gehört vor allem das jährliche Budget. Größere
Rechte sind in Deutschland nirgends hergebracht, die verschiednen ständischen
Vertretungen haben niemals die ausübende Gewalt besessen, auch keinen
Anteil daran gehabt. Es ist schon so vielfach nachgewiesen worden, daß das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0451" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303867"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2028" prev="#ID_2027"> ehemals liberale Stimmen, die aus dem sozialdemokratischen Lager infolge der<lb/>
nationalen Erregung zurückkehrten. In beiden Fällen handelt es sich aber<lb/>
um einen nationalen Gewinn, der nur äußerlich in der liberalen Wahl¬<lb/>
ziffer zum Ausdruck kam. So groß die Freude darüber ist, daß die Links¬<lb/>
liberalen diesmal im Wahlkampf auf der nationalen Seite standen, so wenig<lb/>
kann ihnen aus der Erfüllung der Pflicht gegenüber dem Vaterland ein be¬<lb/>
sondres Verdienst erwachsen. Der ganze Wahlgang trug durchaus nicht den<lb/>
Charakter eines Geschäfts, und man sollte darauf zu deutende Gesichtspunkte<lb/>
auch nicht hinterher hineinzutragen versuchen. Jahre hindurch hat die liberale<lb/>
Presse über die &#x201E;klerikale" Haltung der Negierung gelärmt, weil sie auf das<lb/>
ausschlaggebende Zentrum Rücksicht zu nehmen genötigt war, ein Vorwurf<lb/>
gleicher Art wird ihr nicht erspart werden, wenn sie nun auch auf die Liberalen<lb/>
rechnet und ihren Wünschen mehr entgegenkommt. Der Reichskanzler ist mit<lb/>
guten Gründen so deutlich vom Zentrum abgerückt, daß die Liberalen damit<lb/>
wohl zufrieden sein können; mehr ist in unsern konstitutionellen Verhältnissen<lb/>
auch nicht zu erwarten und zu verlangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2029" next="#ID_2030"> Es muß mit großer Befriedigung anerkannt werden, daß die angesehensten<lb/>
liberalen Führer auch auf diesem Standpunkte stehn und alles weitere Drängen<lb/>
abzuwehren verstanden haben. Wir haben in Deutschland kein parlamentarisches<lb/>
System mit der &#x201E;Verteilung der Beute" nach den Wahlen. Das sind aus<lb/>
fremden Verhältnissen hereingetragne Ansichten, die man nach den Kämpfen,<lb/>
die schon Bismarck mit Erfolg dagegen geführt hat, eigentlich für abgetan halten<lb/>
sollte. Sie tauchen aber immer wieder auf. So schüttete erst vor wenig Jahren<lb/>
der Berliner Korrespondent der deutschen Petersburger Zeitung sein Herz in<lb/>
einem beweglichen Artikel darüber aus, und vor kurzem hat der Sozialpolitiker<lb/>
Werner Sombart in einer deutschen Wochenschrift über &#x201E;die Elemente des poli¬<lb/>
tischen Lebens in Deutschland" gesprochen, wobei der Sinn seiner Ausführungen<lb/>
in dem Satze gipfelte: &#x201E;Es fehlt unsern Parlamentariern vollständig das Be¬<lb/>
wußtsein, Machthaber zu sein oder je es werden zu können." Man kann daraus<lb/>
ohne weiteres erkennen, daß auch er das Nichtvorhandensein des parlamentarischen<lb/>
Systems in Deutschland für einen Mangel hält. Derselbe Grundgedanke ver¬<lb/>
birgt sich auch hinter all den mehr oder weniger laut werdenden Stimmen<lb/>
wegen einer liberalen Regierung im Reiche nach dem Erfolge des Liberalismus<lb/>
bei den Wahlen. Ein nur oberflächlicher Blick in die Reichsverfassung läßt<lb/>
allerdings die Stellung und die Aufgaben des Reichstags im Vergleich zu den<lb/>
meisten andern europäischen Parlamenten bescheiden erscheinen. Er ist, wie<lb/>
alle deutschen Kammern, nur eine beratende Körperschaft, und die ausübende<lb/>
Gewalt geht nicht aus ihm hervor. Aber doch ist seine Zustimmung zu jedem<lb/>
Gesetz nötig, und dazu gehört vor allem das jährliche Budget. Größere<lb/>
Rechte sind in Deutschland nirgends hergebracht, die verschiednen ständischen<lb/>
Vertretungen haben niemals die ausübende Gewalt besessen, auch keinen<lb/>
Anteil daran gehabt.  Es ist schon so vielfach nachgewiesen worden, daß das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0451] ehemals liberale Stimmen, die aus dem sozialdemokratischen Lager infolge der nationalen Erregung zurückkehrten. In beiden Fällen handelt es sich aber um einen nationalen Gewinn, der nur äußerlich in der liberalen Wahl¬ ziffer zum Ausdruck kam. So groß die Freude darüber ist, daß die Links¬ liberalen diesmal im Wahlkampf auf der nationalen Seite standen, so wenig kann ihnen aus der Erfüllung der Pflicht gegenüber dem Vaterland ein be¬ sondres Verdienst erwachsen. Der ganze Wahlgang trug durchaus nicht den Charakter eines Geschäfts, und man sollte darauf zu deutende Gesichtspunkte auch nicht hinterher hineinzutragen versuchen. Jahre hindurch hat die liberale Presse über die „klerikale" Haltung der Negierung gelärmt, weil sie auf das ausschlaggebende Zentrum Rücksicht zu nehmen genötigt war, ein Vorwurf gleicher Art wird ihr nicht erspart werden, wenn sie nun auch auf die Liberalen rechnet und ihren Wünschen mehr entgegenkommt. Der Reichskanzler ist mit guten Gründen so deutlich vom Zentrum abgerückt, daß die Liberalen damit wohl zufrieden sein können; mehr ist in unsern konstitutionellen Verhältnissen auch nicht zu erwarten und zu verlangen. Es muß mit großer Befriedigung anerkannt werden, daß die angesehensten liberalen Führer auch auf diesem Standpunkte stehn und alles weitere Drängen abzuwehren verstanden haben. Wir haben in Deutschland kein parlamentarisches System mit der „Verteilung der Beute" nach den Wahlen. Das sind aus fremden Verhältnissen hereingetragne Ansichten, die man nach den Kämpfen, die schon Bismarck mit Erfolg dagegen geführt hat, eigentlich für abgetan halten sollte. Sie tauchen aber immer wieder auf. So schüttete erst vor wenig Jahren der Berliner Korrespondent der deutschen Petersburger Zeitung sein Herz in einem beweglichen Artikel darüber aus, und vor kurzem hat der Sozialpolitiker Werner Sombart in einer deutschen Wochenschrift über „die Elemente des poli¬ tischen Lebens in Deutschland" gesprochen, wobei der Sinn seiner Ausführungen in dem Satze gipfelte: „Es fehlt unsern Parlamentariern vollständig das Be¬ wußtsein, Machthaber zu sein oder je es werden zu können." Man kann daraus ohne weiteres erkennen, daß auch er das Nichtvorhandensein des parlamentarischen Systems in Deutschland für einen Mangel hält. Derselbe Grundgedanke ver¬ birgt sich auch hinter all den mehr oder weniger laut werdenden Stimmen wegen einer liberalen Regierung im Reiche nach dem Erfolge des Liberalismus bei den Wahlen. Ein nur oberflächlicher Blick in die Reichsverfassung läßt allerdings die Stellung und die Aufgaben des Reichstags im Vergleich zu den meisten andern europäischen Parlamenten bescheiden erscheinen. Er ist, wie alle deutschen Kammern, nur eine beratende Körperschaft, und die ausübende Gewalt geht nicht aus ihm hervor. Aber doch ist seine Zustimmung zu jedem Gesetz nötig, und dazu gehört vor allem das jährliche Budget. Größere Rechte sind in Deutschland nirgends hergebracht, die verschiednen ständischen Vertretungen haben niemals die ausübende Gewalt besessen, auch keinen Anteil daran gehabt. Es ist schon so vielfach nachgewiesen worden, daß das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/451
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/451>, abgerufen am 29.06.2024.