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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

des Vermögenszensus sollte eine große Zahl von Städtern, die einigen Land¬
besitz hatten, aus den Sjemstwoversammlungen ausgeschlossen werden, und durch
Überlassung einer ganzen Anzahl von Plätzen an Regierungsvertreter, wie
Adelsmarschälle, Landhauptleute und Geistliche, sollte dem nicht-oppositionellen
Element das Übergewicht über das oppositionelle gesichert werden. Der Plan
gelang nur teilweise und auch nur für wenige Jahre. Schon zur Thronbesteigung
Nikolaus des Zweiten war in mehr als der Hälfte aller Sjemstwo die Opposition
in der Überzahl. Der Minister des Innern und spätere zweite Ministerpräsident
Goremykin gab den Kampf gegen die Opposition verloren und reichte im
Jahre 1898 seine berühmte Denkschrift an den Zaren ein, in der er eine er¬
weiterte Reform der Sjemstwoorganisation im Sinne der Slawjanophilen forderte.
Wie bekannt ist, stellte sich damals S. I. Witte auf die Seite der Reaktion
und erklärte dem Zaren, daß eine Erweiterung der Sjemstwo zur Abschaffung
der Selbstherrschaft führen müsse. Witte übernahm somit 1898 dieselbe Rolle,
die im Jahre 1881 Pobjedonostzew Alexander dem Dritten gegenüber gespielt
hatte. Goremykins Nachfolger wurde Ssipjagin, Rußlands elegantester Edel¬
mann. Sein wichtigstes Werk war die Schaffung eines besondern Adels¬
departements beim Ministerium des Innern. Was dies Departement eigentlich
für einen Zweck haben sollte, ist aus dem amtlichen Material nicht recht er¬
kennbar. Es heißt darin, der Regierung sollte damit die Möglichkeit gegeben
werden, die Nöte des Adels dauernd zu kennen. Ich glaube nicht fehl zu gehn,
wenn ich annehme, daß damit eine Art Personalienabteilung geschaffen werden
sollte, die die sich immer schwieriger gestaltende Ergänzung der Beamtenschaft
im Sinne der adlichen Bureaukratie gewährleisten sollte. Ssipjagin wurde im
April 1902 ermordet, sein Nachfolger Plehwe hatte das Adelsdepartement eben
eingerichtet, als er selbst von Mörderhand im Juli 1904 fiel. Im Sommer 1907
wurde es wieder aufgehoben, ohne jemals in Tätigkeit getreten zu sein. Als
dann die Revolution über das Land hereinbrach, war der wohlgeborne Stand,
den die Regierung als eine festgefügte Organisation der Bureaukratie ins
Treffen führen zu können glaubte, vollständig desorganisiert, ohne innern Zu?
sammenhang, ohne gemeinsame soziale oder wirtschaftliche Interessen, eine un¬
selbständige Masse, in der kein gemeinsamer Geist die Richtung für gemeinsame
Tätigkeit angab. Die bevormundende Gesetzgebung hat gerade das Gegenteil
von dem geschaffen, was die Regierung geglaubt hatte schaffen zu können. Und
während die russische Armee auf den Schlachtfeldern der Mandschurei verblutete,
barsten auch die Stützen des Staats im Innern. Infolgedessen gab es auch
keine konservative Partei in Rußland. Wie aber die sogenannte konservative
Partei im Sommer 1905 aussah, das habe ich an dieser Stelle eingehend im
Zusammenhang mit einer Darstellung aller russischen Parteien geschildert.*)
Damals fehlten sogar in der Regierung Männer, die den Ansturm von links



*) Grenzboten 1905, Heft 35 und 36.
Russische Briefe

des Vermögenszensus sollte eine große Zahl von Städtern, die einigen Land¬
besitz hatten, aus den Sjemstwoversammlungen ausgeschlossen werden, und durch
Überlassung einer ganzen Anzahl von Plätzen an Regierungsvertreter, wie
Adelsmarschälle, Landhauptleute und Geistliche, sollte dem nicht-oppositionellen
Element das Übergewicht über das oppositionelle gesichert werden. Der Plan
gelang nur teilweise und auch nur für wenige Jahre. Schon zur Thronbesteigung
Nikolaus des Zweiten war in mehr als der Hälfte aller Sjemstwo die Opposition
in der Überzahl. Der Minister des Innern und spätere zweite Ministerpräsident
Goremykin gab den Kampf gegen die Opposition verloren und reichte im
Jahre 1898 seine berühmte Denkschrift an den Zaren ein, in der er eine er¬
weiterte Reform der Sjemstwoorganisation im Sinne der Slawjanophilen forderte.
Wie bekannt ist, stellte sich damals S. I. Witte auf die Seite der Reaktion
und erklärte dem Zaren, daß eine Erweiterung der Sjemstwo zur Abschaffung
der Selbstherrschaft führen müsse. Witte übernahm somit 1898 dieselbe Rolle,
die im Jahre 1881 Pobjedonostzew Alexander dem Dritten gegenüber gespielt
hatte. Goremykins Nachfolger wurde Ssipjagin, Rußlands elegantester Edel¬
mann. Sein wichtigstes Werk war die Schaffung eines besondern Adels¬
departements beim Ministerium des Innern. Was dies Departement eigentlich
für einen Zweck haben sollte, ist aus dem amtlichen Material nicht recht er¬
kennbar. Es heißt darin, der Regierung sollte damit die Möglichkeit gegeben
werden, die Nöte des Adels dauernd zu kennen. Ich glaube nicht fehl zu gehn,
wenn ich annehme, daß damit eine Art Personalienabteilung geschaffen werden
sollte, die die sich immer schwieriger gestaltende Ergänzung der Beamtenschaft
im Sinne der adlichen Bureaukratie gewährleisten sollte. Ssipjagin wurde im
April 1902 ermordet, sein Nachfolger Plehwe hatte das Adelsdepartement eben
eingerichtet, als er selbst von Mörderhand im Juli 1904 fiel. Im Sommer 1907
wurde es wieder aufgehoben, ohne jemals in Tätigkeit getreten zu sein. Als
dann die Revolution über das Land hereinbrach, war der wohlgeborne Stand,
den die Regierung als eine festgefügte Organisation der Bureaukratie ins
Treffen führen zu können glaubte, vollständig desorganisiert, ohne innern Zu?
sammenhang, ohne gemeinsame soziale oder wirtschaftliche Interessen, eine un¬
selbständige Masse, in der kein gemeinsamer Geist die Richtung für gemeinsame
Tätigkeit angab. Die bevormundende Gesetzgebung hat gerade das Gegenteil
von dem geschaffen, was die Regierung geglaubt hatte schaffen zu können. Und
während die russische Armee auf den Schlachtfeldern der Mandschurei verblutete,
barsten auch die Stützen des Staats im Innern. Infolgedessen gab es auch
keine konservative Partei in Rußland. Wie aber die sogenannte konservative
Partei im Sommer 1905 aussah, das habe ich an dieser Stelle eingehend im
Zusammenhang mit einer Darstellung aller russischen Parteien geschildert.*)
Damals fehlten sogar in der Regierung Männer, die den Ansturm von links



*) Grenzboten 1905, Heft 35 und 36.
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[0397] Russische Briefe des Vermögenszensus sollte eine große Zahl von Städtern, die einigen Land¬ besitz hatten, aus den Sjemstwoversammlungen ausgeschlossen werden, und durch Überlassung einer ganzen Anzahl von Plätzen an Regierungsvertreter, wie Adelsmarschälle, Landhauptleute und Geistliche, sollte dem nicht-oppositionellen Element das Übergewicht über das oppositionelle gesichert werden. Der Plan gelang nur teilweise und auch nur für wenige Jahre. Schon zur Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten war in mehr als der Hälfte aller Sjemstwo die Opposition in der Überzahl. Der Minister des Innern und spätere zweite Ministerpräsident Goremykin gab den Kampf gegen die Opposition verloren und reichte im Jahre 1898 seine berühmte Denkschrift an den Zaren ein, in der er eine er¬ weiterte Reform der Sjemstwoorganisation im Sinne der Slawjanophilen forderte. Wie bekannt ist, stellte sich damals S. I. Witte auf die Seite der Reaktion und erklärte dem Zaren, daß eine Erweiterung der Sjemstwo zur Abschaffung der Selbstherrschaft führen müsse. Witte übernahm somit 1898 dieselbe Rolle, die im Jahre 1881 Pobjedonostzew Alexander dem Dritten gegenüber gespielt hatte. Goremykins Nachfolger wurde Ssipjagin, Rußlands elegantester Edel¬ mann. Sein wichtigstes Werk war die Schaffung eines besondern Adels¬ departements beim Ministerium des Innern. Was dies Departement eigentlich für einen Zweck haben sollte, ist aus dem amtlichen Material nicht recht er¬ kennbar. Es heißt darin, der Regierung sollte damit die Möglichkeit gegeben werden, die Nöte des Adels dauernd zu kennen. Ich glaube nicht fehl zu gehn, wenn ich annehme, daß damit eine Art Personalienabteilung geschaffen werden sollte, die die sich immer schwieriger gestaltende Ergänzung der Beamtenschaft im Sinne der adlichen Bureaukratie gewährleisten sollte. Ssipjagin wurde im April 1902 ermordet, sein Nachfolger Plehwe hatte das Adelsdepartement eben eingerichtet, als er selbst von Mörderhand im Juli 1904 fiel. Im Sommer 1907 wurde es wieder aufgehoben, ohne jemals in Tätigkeit getreten zu sein. Als dann die Revolution über das Land hereinbrach, war der wohlgeborne Stand, den die Regierung als eine festgefügte Organisation der Bureaukratie ins Treffen führen zu können glaubte, vollständig desorganisiert, ohne innern Zu? sammenhang, ohne gemeinsame soziale oder wirtschaftliche Interessen, eine un¬ selbständige Masse, in der kein gemeinsamer Geist die Richtung für gemeinsame Tätigkeit angab. Die bevormundende Gesetzgebung hat gerade das Gegenteil von dem geschaffen, was die Regierung geglaubt hatte schaffen zu können. Und während die russische Armee auf den Schlachtfeldern der Mandschurei verblutete, barsten auch die Stützen des Staats im Innern. Infolgedessen gab es auch keine konservative Partei in Rußland. Wie aber die sogenannte konservative Partei im Sommer 1905 aussah, das habe ich an dieser Stelle eingehend im Zusammenhang mit einer Darstellung aller russischen Parteien geschildert.*) Damals fehlten sogar in der Regierung Männer, die den Ansturm von links *) Grenzboten 1905, Heft 35 und 36.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/397>, abgerufen am 29.06.2024.