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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briese

ein Manifest die Einberufung der Sjemski Ssobor befehlen würde, sah sich
Jgnatjew am 3. Mai genötigt, seinen Abschied zu nehmen. Tolstoj wurde
Minister des Innern. Er konnte in seiner Stellung um so freier wirken, als
er sich durchaus einig mit Pobjedonostzew wußte. Die unter Jgnatjew milder
gewordne Behandlung der Altgläubigen wich einer rücksichtslosen Verfolgung,
und auf allen Gebieten begann eine Zentralisation der Staatsgewalt, deren
Anforderungen sich jede Regung des menschlichen Geistes unterordnen mußte.




Die größte Sorge der zur Macht gekommnen Partei lag nun darin, die
nach ihrer Auffassung zu weit gegangnen Reformen von 1861 bis 1864 zu
beschränken. Vor allen Dingen galt es, Bresche zu legen in die Bestimmungen
der Gerichtsstatute, deren Kulturzweck war, das Volk durch eine unantastbare
Gerichtsbarkeit allmählich zu einem gewissen Rechtsbewußtsein zu erziehen.
Freilich haben die vorwiegend liberal gesinnten Richter viel dazu beigetragen,
die Autorität des Gerichts bei den Vertretern der Regierung zu erschüttern,
durch häufige Freisprechung von politischen Mördern. Die Negierung griff zu
dem Mittel der Kriegsgerichte und Ausnahmezustände und vermehrte die Zahl
der Aufsichtsorgane im Lande. Eins dieser Organe war das der Landhaupt¬
leute oder Sjemski Natschalniki. Es hat aus zwei Gründen böses Blut gemacht.
Zunächst schuf es eine Gerichtsbehörde für den Bauernstand, die nicht vom
Justizminister, sondern vom Minister des Innern abhängig war, und zweitens
wählte es seine Vertreter ausschließlich aus dem grundbesitzenden Adel. Damit
aber keine oppositionellen Elemente in das Organ hineinkommen, wird jeder
Landhauptmann durch den Adelsmarschall und den Gouverneur gemeinsam
ausgewählt und durch den Minister des Innern bestätigt. Jedes der 34 nach
dem allgemeinen Reglement verwalteten Gouvernements hat etwa vierzig bis
fünfzig Landhauptleute, sodaß im ganzen Gebiet etwa 1350 bis 1450 vorhanden
sind. Sie haben sowohl richterliche wie polizeiliche Funktionen. Sie sind Schieds¬
richter und Strafrichter bei allen Streitigkeiten zwischen Gutsbesitzern und
Bauern sowie der Bauern unter sich; sie beaufsichtigen die bäuerlichen Ge¬
meinde- und Wolostverwaltungen wie auch die Wahlen für die Gemeinde-,
Sjemstwo- und nun auch für die Reichsdumavertretung. Schließlich erstattet
der Sjemski Natschalnik fortgesetzt Bericht an den Gouverneur über die
Stimmung der Bevölkerung in seinem Kreise. Ein tüchtiger Landhauptmann
konnte bisher Kreis- und Gouvernementsadelsmarschall werden, aber auch
Gouverneur und Minister. Schulbildung hinderte ihn an seinem Fortkommen
nicht, doch genügte die auf einer Militärschule gewonnene Quartanerbildung
und das Offizierspatent, um einen erblichen Edelmann für die Stellung eines
Landhauptmanns zu qualifizieren, vorausgesetzt, daß er zuverlässig war.

Die zweite Maßregel zur Beschränkung der Reform von 1864 war das
1890 eingeführte neue Wahlgesetz für die Sjemstwo. Durch starke Erhöhung


Russische Briese

ein Manifest die Einberufung der Sjemski Ssobor befehlen würde, sah sich
Jgnatjew am 3. Mai genötigt, seinen Abschied zu nehmen. Tolstoj wurde
Minister des Innern. Er konnte in seiner Stellung um so freier wirken, als
er sich durchaus einig mit Pobjedonostzew wußte. Die unter Jgnatjew milder
gewordne Behandlung der Altgläubigen wich einer rücksichtslosen Verfolgung,
und auf allen Gebieten begann eine Zentralisation der Staatsgewalt, deren
Anforderungen sich jede Regung des menschlichen Geistes unterordnen mußte.




Die größte Sorge der zur Macht gekommnen Partei lag nun darin, die
nach ihrer Auffassung zu weit gegangnen Reformen von 1861 bis 1864 zu
beschränken. Vor allen Dingen galt es, Bresche zu legen in die Bestimmungen
der Gerichtsstatute, deren Kulturzweck war, das Volk durch eine unantastbare
Gerichtsbarkeit allmählich zu einem gewissen Rechtsbewußtsein zu erziehen.
Freilich haben die vorwiegend liberal gesinnten Richter viel dazu beigetragen,
die Autorität des Gerichts bei den Vertretern der Regierung zu erschüttern,
durch häufige Freisprechung von politischen Mördern. Die Negierung griff zu
dem Mittel der Kriegsgerichte und Ausnahmezustände und vermehrte die Zahl
der Aufsichtsorgane im Lande. Eins dieser Organe war das der Landhaupt¬
leute oder Sjemski Natschalniki. Es hat aus zwei Gründen böses Blut gemacht.
Zunächst schuf es eine Gerichtsbehörde für den Bauernstand, die nicht vom
Justizminister, sondern vom Minister des Innern abhängig war, und zweitens
wählte es seine Vertreter ausschließlich aus dem grundbesitzenden Adel. Damit
aber keine oppositionellen Elemente in das Organ hineinkommen, wird jeder
Landhauptmann durch den Adelsmarschall und den Gouverneur gemeinsam
ausgewählt und durch den Minister des Innern bestätigt. Jedes der 34 nach
dem allgemeinen Reglement verwalteten Gouvernements hat etwa vierzig bis
fünfzig Landhauptleute, sodaß im ganzen Gebiet etwa 1350 bis 1450 vorhanden
sind. Sie haben sowohl richterliche wie polizeiliche Funktionen. Sie sind Schieds¬
richter und Strafrichter bei allen Streitigkeiten zwischen Gutsbesitzern und
Bauern sowie der Bauern unter sich; sie beaufsichtigen die bäuerlichen Ge¬
meinde- und Wolostverwaltungen wie auch die Wahlen für die Gemeinde-,
Sjemstwo- und nun auch für die Reichsdumavertretung. Schließlich erstattet
der Sjemski Natschalnik fortgesetzt Bericht an den Gouverneur über die
Stimmung der Bevölkerung in seinem Kreise. Ein tüchtiger Landhauptmann
konnte bisher Kreis- und Gouvernementsadelsmarschall werden, aber auch
Gouverneur und Minister. Schulbildung hinderte ihn an seinem Fortkommen
nicht, doch genügte die auf einer Militärschule gewonnene Quartanerbildung
und das Offizierspatent, um einen erblichen Edelmann für die Stellung eines
Landhauptmanns zu qualifizieren, vorausgesetzt, daß er zuverlässig war.

Die zweite Maßregel zur Beschränkung der Reform von 1864 war das
1890 eingeführte neue Wahlgesetz für die Sjemstwo. Durch starke Erhöhung


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[0396] Russische Briese ein Manifest die Einberufung der Sjemski Ssobor befehlen würde, sah sich Jgnatjew am 3. Mai genötigt, seinen Abschied zu nehmen. Tolstoj wurde Minister des Innern. Er konnte in seiner Stellung um so freier wirken, als er sich durchaus einig mit Pobjedonostzew wußte. Die unter Jgnatjew milder gewordne Behandlung der Altgläubigen wich einer rücksichtslosen Verfolgung, und auf allen Gebieten begann eine Zentralisation der Staatsgewalt, deren Anforderungen sich jede Regung des menschlichen Geistes unterordnen mußte. Die größte Sorge der zur Macht gekommnen Partei lag nun darin, die nach ihrer Auffassung zu weit gegangnen Reformen von 1861 bis 1864 zu beschränken. Vor allen Dingen galt es, Bresche zu legen in die Bestimmungen der Gerichtsstatute, deren Kulturzweck war, das Volk durch eine unantastbare Gerichtsbarkeit allmählich zu einem gewissen Rechtsbewußtsein zu erziehen. Freilich haben die vorwiegend liberal gesinnten Richter viel dazu beigetragen, die Autorität des Gerichts bei den Vertretern der Regierung zu erschüttern, durch häufige Freisprechung von politischen Mördern. Die Negierung griff zu dem Mittel der Kriegsgerichte und Ausnahmezustände und vermehrte die Zahl der Aufsichtsorgane im Lande. Eins dieser Organe war das der Landhaupt¬ leute oder Sjemski Natschalniki. Es hat aus zwei Gründen böses Blut gemacht. Zunächst schuf es eine Gerichtsbehörde für den Bauernstand, die nicht vom Justizminister, sondern vom Minister des Innern abhängig war, und zweitens wählte es seine Vertreter ausschließlich aus dem grundbesitzenden Adel. Damit aber keine oppositionellen Elemente in das Organ hineinkommen, wird jeder Landhauptmann durch den Adelsmarschall und den Gouverneur gemeinsam ausgewählt und durch den Minister des Innern bestätigt. Jedes der 34 nach dem allgemeinen Reglement verwalteten Gouvernements hat etwa vierzig bis fünfzig Landhauptleute, sodaß im ganzen Gebiet etwa 1350 bis 1450 vorhanden sind. Sie haben sowohl richterliche wie polizeiliche Funktionen. Sie sind Schieds¬ richter und Strafrichter bei allen Streitigkeiten zwischen Gutsbesitzern und Bauern sowie der Bauern unter sich; sie beaufsichtigen die bäuerlichen Ge¬ meinde- und Wolostverwaltungen wie auch die Wahlen für die Gemeinde-, Sjemstwo- und nun auch für die Reichsdumavertretung. Schließlich erstattet der Sjemski Natschalnik fortgesetzt Bericht an den Gouverneur über die Stimmung der Bevölkerung in seinem Kreise. Ein tüchtiger Landhauptmann konnte bisher Kreis- und Gouvernementsadelsmarschall werden, aber auch Gouverneur und Minister. Schulbildung hinderte ihn an seinem Fortkommen nicht, doch genügte die auf einer Militärschule gewonnene Quartanerbildung und das Offizierspatent, um einen erblichen Edelmann für die Stellung eines Landhauptmanns zu qualifizieren, vorausgesetzt, daß er zuverlässig war. Die zweite Maßregel zur Beschränkung der Reform von 1864 war das 1890 eingeführte neue Wahlgesetz für die Sjemstwo. Durch starke Erhöhung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/396>, abgerufen am 01.07.2024.