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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Zur Psychologie der Mode

Nadeln, Geduld und Geschicklichkeit aufwenden mußten, wie die heutigen Frauen,
die auch dann nur mit großer Vorsicht das schwankende Phantasiegebilde auf
ihren Haaren erhalten. Dekoration und kein Ende! Hundert Gaukeleien, die in
andrer Form schon da waren und immer wieder aufs neue durchschlüpfen,
Maschen, die nichts knüpfen, Bunter, die nicht binden, Schließen, die nichts
schließen, Knöpfe, die nichts knöpfen, und andrer Kram! Wozu? Weil
es etwa schön ist? Nun ja! Die neue Mode für 1907 verheißt der er¬
wartungsfreudigen Weiblichkeit als neuen Reiz den japanischen Ärmel. Der
Ärmel ist weit und reicht nur bis zum Ellbogen. Er hat in der Tat eine
vage Ähnlichkeit mit dem japanischen Ärmel und geht in einem Stück ohne
Naht über die Achsel. Während diese Form beim japanischen Kleid organisch
notwendig ist und sich aus dem sackartigen Kleiderschnitt ergibt, ist er in der
europäischen Form nur eine dekorative Zutat, die keine sachliche Bestimmung
erfüllt. Hier liegt der wurzelhafte Unterschied, der das Wesen des Männer¬
kleides vor der Frauenmode auszeichnet. Das Maurerkleid ergibt sich bis auf
kleine Extravaganzen aus der Zweckmäßigkeit, die keine allzugroßen Bocksprünge
erlaubt. Die Frauenmode geht den praktischen, struktiven und funktionellen
Forderungen geflissentlich aus dem Wege und überbietet sich nur in der Ab¬
wandlung und Häufung rein ornamentaler Einfälle. Was hat doch die Mode
beispielsweise aus der Bluse gemacht? Die Bluse hat sich aus dem Hemd
entwickelt, ihre Bestimmung weist sie auf sachgerechte Schlichtheit, die sich mit
stofflicher Qualität und mit dem Schmuck edler Handarbeit wohl vertrüge, was
uns die kunstvoll bestickten, gebauschten und reichgefältelten Oberhemden der alt¬
bäurischen Kostümpracht der slawischen Landbevölkerung deutlich zeigen. Aber
was für ein Schaustück abenteuerlicher Phantastik ist die Modebluse mit dem
an sich ziemlich wertlosen Aufputz geworden? Das Bedürfnis nach einer low
struktiven Reform zugunsten der Sachlichkeit und der Hygiene hat seit einigen
Jahren viele Frauen und Künstler beschäftigt, aber die Mode ist nicht mit¬
gegangen. Und weil die Mode versagte, hat auch die Masse versagt. Kurz,
die Frauen haben es nicht vermocht, eine vernünftige Reform ihres Kleides
durchzuführen. Dafür liegt noch ein andrer, sehr triftiger Grund vor: die
Schundmäßigkeit. Sie ist zwar ein allgemeines Gebrechen unsrer Zeit und
liegt in verhüllter Form auch in der Mode vor. Aber an dem nüchternen
Reformkleid kam sie in Reinkultur zum Ausdruck. Die schlechten Stoffe und
die häßlichen Farben erschienen in der nüchternen Kleiderform natürlich noch
schlechter und noch häßlicher. Das mußte abschreckend wirken. Gerade die
schlichte sachliche Form verlangt gediegnes Material, die solideste Arbeit und
schöne Farbe. Die schöne Farbe als Labsal für die Augen ist nicht zu ent¬
behren. Das Neformkleid ist Mode geworden, seit es aus Paris als der
Zwitter Reformempire kam. Aber es ist so wenig Reformkleid, wie der japanische
Ärmel japanische Form ist; die Mode hat aus dem einigen Guten des Reform-


Zur Psychologie der Mode

Nadeln, Geduld und Geschicklichkeit aufwenden mußten, wie die heutigen Frauen,
die auch dann nur mit großer Vorsicht das schwankende Phantasiegebilde auf
ihren Haaren erhalten. Dekoration und kein Ende! Hundert Gaukeleien, die in
andrer Form schon da waren und immer wieder aufs neue durchschlüpfen,
Maschen, die nichts knüpfen, Bunter, die nicht binden, Schließen, die nichts
schließen, Knöpfe, die nichts knöpfen, und andrer Kram! Wozu? Weil
es etwa schön ist? Nun ja! Die neue Mode für 1907 verheißt der er¬
wartungsfreudigen Weiblichkeit als neuen Reiz den japanischen Ärmel. Der
Ärmel ist weit und reicht nur bis zum Ellbogen. Er hat in der Tat eine
vage Ähnlichkeit mit dem japanischen Ärmel und geht in einem Stück ohne
Naht über die Achsel. Während diese Form beim japanischen Kleid organisch
notwendig ist und sich aus dem sackartigen Kleiderschnitt ergibt, ist er in der
europäischen Form nur eine dekorative Zutat, die keine sachliche Bestimmung
erfüllt. Hier liegt der wurzelhafte Unterschied, der das Wesen des Männer¬
kleides vor der Frauenmode auszeichnet. Das Maurerkleid ergibt sich bis auf
kleine Extravaganzen aus der Zweckmäßigkeit, die keine allzugroßen Bocksprünge
erlaubt. Die Frauenmode geht den praktischen, struktiven und funktionellen
Forderungen geflissentlich aus dem Wege und überbietet sich nur in der Ab¬
wandlung und Häufung rein ornamentaler Einfälle. Was hat doch die Mode
beispielsweise aus der Bluse gemacht? Die Bluse hat sich aus dem Hemd
entwickelt, ihre Bestimmung weist sie auf sachgerechte Schlichtheit, die sich mit
stofflicher Qualität und mit dem Schmuck edler Handarbeit wohl vertrüge, was
uns die kunstvoll bestickten, gebauschten und reichgefältelten Oberhemden der alt¬
bäurischen Kostümpracht der slawischen Landbevölkerung deutlich zeigen. Aber
was für ein Schaustück abenteuerlicher Phantastik ist die Modebluse mit dem
an sich ziemlich wertlosen Aufputz geworden? Das Bedürfnis nach einer low
struktiven Reform zugunsten der Sachlichkeit und der Hygiene hat seit einigen
Jahren viele Frauen und Künstler beschäftigt, aber die Mode ist nicht mit¬
gegangen. Und weil die Mode versagte, hat auch die Masse versagt. Kurz,
die Frauen haben es nicht vermocht, eine vernünftige Reform ihres Kleides
durchzuführen. Dafür liegt noch ein andrer, sehr triftiger Grund vor: die
Schundmäßigkeit. Sie ist zwar ein allgemeines Gebrechen unsrer Zeit und
liegt in verhüllter Form auch in der Mode vor. Aber an dem nüchternen
Reformkleid kam sie in Reinkultur zum Ausdruck. Die schlechten Stoffe und
die häßlichen Farben erschienen in der nüchternen Kleiderform natürlich noch
schlechter und noch häßlicher. Das mußte abschreckend wirken. Gerade die
schlichte sachliche Form verlangt gediegnes Material, die solideste Arbeit und
schöne Farbe. Die schöne Farbe als Labsal für die Augen ist nicht zu ent¬
behren. Das Neformkleid ist Mode geworden, seit es aus Paris als der
Zwitter Reformempire kam. Aber es ist so wenig Reformkleid, wie der japanische
Ärmel japanische Form ist; die Mode hat aus dem einigen Guten des Reform-


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[0311] Zur Psychologie der Mode Nadeln, Geduld und Geschicklichkeit aufwenden mußten, wie die heutigen Frauen, die auch dann nur mit großer Vorsicht das schwankende Phantasiegebilde auf ihren Haaren erhalten. Dekoration und kein Ende! Hundert Gaukeleien, die in andrer Form schon da waren und immer wieder aufs neue durchschlüpfen, Maschen, die nichts knüpfen, Bunter, die nicht binden, Schließen, die nichts schließen, Knöpfe, die nichts knöpfen, und andrer Kram! Wozu? Weil es etwa schön ist? Nun ja! Die neue Mode für 1907 verheißt der er¬ wartungsfreudigen Weiblichkeit als neuen Reiz den japanischen Ärmel. Der Ärmel ist weit und reicht nur bis zum Ellbogen. Er hat in der Tat eine vage Ähnlichkeit mit dem japanischen Ärmel und geht in einem Stück ohne Naht über die Achsel. Während diese Form beim japanischen Kleid organisch notwendig ist und sich aus dem sackartigen Kleiderschnitt ergibt, ist er in der europäischen Form nur eine dekorative Zutat, die keine sachliche Bestimmung erfüllt. Hier liegt der wurzelhafte Unterschied, der das Wesen des Männer¬ kleides vor der Frauenmode auszeichnet. Das Maurerkleid ergibt sich bis auf kleine Extravaganzen aus der Zweckmäßigkeit, die keine allzugroßen Bocksprünge erlaubt. Die Frauenmode geht den praktischen, struktiven und funktionellen Forderungen geflissentlich aus dem Wege und überbietet sich nur in der Ab¬ wandlung und Häufung rein ornamentaler Einfälle. Was hat doch die Mode beispielsweise aus der Bluse gemacht? Die Bluse hat sich aus dem Hemd entwickelt, ihre Bestimmung weist sie auf sachgerechte Schlichtheit, die sich mit stofflicher Qualität und mit dem Schmuck edler Handarbeit wohl vertrüge, was uns die kunstvoll bestickten, gebauschten und reichgefältelten Oberhemden der alt¬ bäurischen Kostümpracht der slawischen Landbevölkerung deutlich zeigen. Aber was für ein Schaustück abenteuerlicher Phantastik ist die Modebluse mit dem an sich ziemlich wertlosen Aufputz geworden? Das Bedürfnis nach einer low struktiven Reform zugunsten der Sachlichkeit und der Hygiene hat seit einigen Jahren viele Frauen und Künstler beschäftigt, aber die Mode ist nicht mit¬ gegangen. Und weil die Mode versagte, hat auch die Masse versagt. Kurz, die Frauen haben es nicht vermocht, eine vernünftige Reform ihres Kleides durchzuführen. Dafür liegt noch ein andrer, sehr triftiger Grund vor: die Schundmäßigkeit. Sie ist zwar ein allgemeines Gebrechen unsrer Zeit und liegt in verhüllter Form auch in der Mode vor. Aber an dem nüchternen Reformkleid kam sie in Reinkultur zum Ausdruck. Die schlechten Stoffe und die häßlichen Farben erschienen in der nüchternen Kleiderform natürlich noch schlechter und noch häßlicher. Das mußte abschreckend wirken. Gerade die schlichte sachliche Form verlangt gediegnes Material, die solideste Arbeit und schöne Farbe. Die schöne Farbe als Labsal für die Augen ist nicht zu ent¬ behren. Das Neformkleid ist Mode geworden, seit es aus Paris als der Zwitter Reformempire kam. Aber es ist so wenig Reformkleid, wie der japanische Ärmel japanische Form ist; die Mode hat aus dem einigen Guten des Reform-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/311>, abgerufen am 03.07.2024.