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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Zur Psychologie der Mode

kleides einen dekorativen Aufputz gemacht; im wesentlichen aber ist alles beim
alten geblieben.

Das also ist die Frage, ob Schönheit und Geschmack Bestand haben, wenn
die sachliche Rechtfertigung fehlt. Ferner, ob es nicht richtiger ist, der Mode
gegenüber selbständig zu verfahren und das Kleid auf eine individuelle Grund¬
lage zu stellen, das heißt dem Mvdekleid das Eigenkleid entgegenzusetzen. Das
setzt freilich persönliche Betätigung und einen hochgebildeten Geschmack voraus.
Aber gerade das ist ein erstrebenswertes Ziel. Dann wird möglicherweise das
individualisierte Kleid Mode werden. Die Mode wird herrschen, weil sie die
Geschmacksbildung verkörpert, die in der Masse ruht, gleichviel, ob dieser Mode¬
geschmack gut oder schlecht ist. Die Mode wird sich ändern, wenn sich die in
der Masse ruhenden Voraussetzungen ändern. Sie wird sich veredeln, wenn die
edeln Geschmacksbegriffe von vollendeter Sachlichkeit und Materialschönheit
allgemein werden. Wenn in einem Volke klares und praktisches Denken ist, so
wird es sich auch in der Tracht ausdrücken. Die Überlegenheit der englischen
Frau wird ganz unzweideutig in dem gediegnen englischen Kostüm offenbar. Da
und dort, wie zum Beispiel in Wien, machen sich lokale Einflüsse geltend, um den
Überschwang der Pariser Mode zu brechen. Das Wiener Schneiderkleid bewegt
sich auf dem von England vorgezeichneten Wege. In der feinen englischen Gesell¬
schaft wird es immer mehr Sitte, dem reichen Gesellschaftskleid den Adel edler
Stoffe, kunstgewerblicher Handarbeit, echte Farben, kurz innere Gediegenheit und
Kostbarkeit bei vornehm einfacher Gestaltung zurück zu erobern. Zahlreiche kunst¬
gewerbliche Hausindustrien, deren Wiedererweckung auf den Einfluß von Ruskin
zurückgeht, Handwebereien für Seide und Leinen, handgearbeitete Spitzen und die
prachtvollen lichtechten Libertyseiden im langen schönen Wurf, zahllose künstlerische
Arbeiten am Webstuhl und mit der Nadel, als Ergebnisse des wiedererwachten
Kunstfleißes im Volke, bilden die gesuchten und gutbezahlter Mittel für eine
veredelte Modetracht. Schließlich ist eine Regung zur Selbständigkeit in gewissen
Frauenberufsklassen nicht zu verkennen, die ihre Tracht aus dem Arbeitsgewande
entwickelt und sich von Modelaunen unabhängig gemacht haben. Englische Kinder¬
wärterinnen, holländische und russische Studentinnen, Krankenpflegerinnen haben
eine Tracht entwickelt, die durchaus kleidsam, praktisch und eigenartig ist. Sie
wechselt nicht mehr in der Form, sondern kann höchstens eine Veränderung in
der Qualität vertragen. Dieses Zivil in Uniform übt der unterjochenden Mode
gegenüber wenigstens als Berufsklasfe Persönlichkeitsrechte und macht sich da¬
durch frei.

Die Mode kann sich ebensowenig wie die Masse aus einem Tiefstand
erheben und Kultur bekommen, wenn der Anstoß und das Vorbild nicht von der
Persönlichkeit ausgehn. Was an Bildungswerten und Geschmacksbegriffen in der
Allgemeinheit lebt, sind hervorgebrachte Werte der Persönlichkeit, die Gemeingut
geworden sind. Was sich in der Dichtung, in der Kunst und in der Wissenschaft


Zur Psychologie der Mode

kleides einen dekorativen Aufputz gemacht; im wesentlichen aber ist alles beim
alten geblieben.

Das also ist die Frage, ob Schönheit und Geschmack Bestand haben, wenn
die sachliche Rechtfertigung fehlt. Ferner, ob es nicht richtiger ist, der Mode
gegenüber selbständig zu verfahren und das Kleid auf eine individuelle Grund¬
lage zu stellen, das heißt dem Mvdekleid das Eigenkleid entgegenzusetzen. Das
setzt freilich persönliche Betätigung und einen hochgebildeten Geschmack voraus.
Aber gerade das ist ein erstrebenswertes Ziel. Dann wird möglicherweise das
individualisierte Kleid Mode werden. Die Mode wird herrschen, weil sie die
Geschmacksbildung verkörpert, die in der Masse ruht, gleichviel, ob dieser Mode¬
geschmack gut oder schlecht ist. Die Mode wird sich ändern, wenn sich die in
der Masse ruhenden Voraussetzungen ändern. Sie wird sich veredeln, wenn die
edeln Geschmacksbegriffe von vollendeter Sachlichkeit und Materialschönheit
allgemein werden. Wenn in einem Volke klares und praktisches Denken ist, so
wird es sich auch in der Tracht ausdrücken. Die Überlegenheit der englischen
Frau wird ganz unzweideutig in dem gediegnen englischen Kostüm offenbar. Da
und dort, wie zum Beispiel in Wien, machen sich lokale Einflüsse geltend, um den
Überschwang der Pariser Mode zu brechen. Das Wiener Schneiderkleid bewegt
sich auf dem von England vorgezeichneten Wege. In der feinen englischen Gesell¬
schaft wird es immer mehr Sitte, dem reichen Gesellschaftskleid den Adel edler
Stoffe, kunstgewerblicher Handarbeit, echte Farben, kurz innere Gediegenheit und
Kostbarkeit bei vornehm einfacher Gestaltung zurück zu erobern. Zahlreiche kunst¬
gewerbliche Hausindustrien, deren Wiedererweckung auf den Einfluß von Ruskin
zurückgeht, Handwebereien für Seide und Leinen, handgearbeitete Spitzen und die
prachtvollen lichtechten Libertyseiden im langen schönen Wurf, zahllose künstlerische
Arbeiten am Webstuhl und mit der Nadel, als Ergebnisse des wiedererwachten
Kunstfleißes im Volke, bilden die gesuchten und gutbezahlter Mittel für eine
veredelte Modetracht. Schließlich ist eine Regung zur Selbständigkeit in gewissen
Frauenberufsklassen nicht zu verkennen, die ihre Tracht aus dem Arbeitsgewande
entwickelt und sich von Modelaunen unabhängig gemacht haben. Englische Kinder¬
wärterinnen, holländische und russische Studentinnen, Krankenpflegerinnen haben
eine Tracht entwickelt, die durchaus kleidsam, praktisch und eigenartig ist. Sie
wechselt nicht mehr in der Form, sondern kann höchstens eine Veränderung in
der Qualität vertragen. Dieses Zivil in Uniform übt der unterjochenden Mode
gegenüber wenigstens als Berufsklasfe Persönlichkeitsrechte und macht sich da¬
durch frei.

Die Mode kann sich ebensowenig wie die Masse aus einem Tiefstand
erheben und Kultur bekommen, wenn der Anstoß und das Vorbild nicht von der
Persönlichkeit ausgehn. Was an Bildungswerten und Geschmacksbegriffen in der
Allgemeinheit lebt, sind hervorgebrachte Werte der Persönlichkeit, die Gemeingut
geworden sind. Was sich in der Dichtung, in der Kunst und in der Wissenschaft


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[0312] Zur Psychologie der Mode kleides einen dekorativen Aufputz gemacht; im wesentlichen aber ist alles beim alten geblieben. Das also ist die Frage, ob Schönheit und Geschmack Bestand haben, wenn die sachliche Rechtfertigung fehlt. Ferner, ob es nicht richtiger ist, der Mode gegenüber selbständig zu verfahren und das Kleid auf eine individuelle Grund¬ lage zu stellen, das heißt dem Mvdekleid das Eigenkleid entgegenzusetzen. Das setzt freilich persönliche Betätigung und einen hochgebildeten Geschmack voraus. Aber gerade das ist ein erstrebenswertes Ziel. Dann wird möglicherweise das individualisierte Kleid Mode werden. Die Mode wird herrschen, weil sie die Geschmacksbildung verkörpert, die in der Masse ruht, gleichviel, ob dieser Mode¬ geschmack gut oder schlecht ist. Die Mode wird sich ändern, wenn sich die in der Masse ruhenden Voraussetzungen ändern. Sie wird sich veredeln, wenn die edeln Geschmacksbegriffe von vollendeter Sachlichkeit und Materialschönheit allgemein werden. Wenn in einem Volke klares und praktisches Denken ist, so wird es sich auch in der Tracht ausdrücken. Die Überlegenheit der englischen Frau wird ganz unzweideutig in dem gediegnen englischen Kostüm offenbar. Da und dort, wie zum Beispiel in Wien, machen sich lokale Einflüsse geltend, um den Überschwang der Pariser Mode zu brechen. Das Wiener Schneiderkleid bewegt sich auf dem von England vorgezeichneten Wege. In der feinen englischen Gesell¬ schaft wird es immer mehr Sitte, dem reichen Gesellschaftskleid den Adel edler Stoffe, kunstgewerblicher Handarbeit, echte Farben, kurz innere Gediegenheit und Kostbarkeit bei vornehm einfacher Gestaltung zurück zu erobern. Zahlreiche kunst¬ gewerbliche Hausindustrien, deren Wiedererweckung auf den Einfluß von Ruskin zurückgeht, Handwebereien für Seide und Leinen, handgearbeitete Spitzen und die prachtvollen lichtechten Libertyseiden im langen schönen Wurf, zahllose künstlerische Arbeiten am Webstuhl und mit der Nadel, als Ergebnisse des wiedererwachten Kunstfleißes im Volke, bilden die gesuchten und gutbezahlter Mittel für eine veredelte Modetracht. Schließlich ist eine Regung zur Selbständigkeit in gewissen Frauenberufsklassen nicht zu verkennen, die ihre Tracht aus dem Arbeitsgewande entwickelt und sich von Modelaunen unabhängig gemacht haben. Englische Kinder¬ wärterinnen, holländische und russische Studentinnen, Krankenpflegerinnen haben eine Tracht entwickelt, die durchaus kleidsam, praktisch und eigenartig ist. Sie wechselt nicht mehr in der Form, sondern kann höchstens eine Veränderung in der Qualität vertragen. Dieses Zivil in Uniform übt der unterjochenden Mode gegenüber wenigstens als Berufsklasfe Persönlichkeitsrechte und macht sich da¬ durch frei. Die Mode kann sich ebensowenig wie die Masse aus einem Tiefstand erheben und Kultur bekommen, wenn der Anstoß und das Vorbild nicht von der Persönlichkeit ausgehn. Was an Bildungswerten und Geschmacksbegriffen in der Allgemeinheit lebt, sind hervorgebrachte Werte der Persönlichkeit, die Gemeingut geworden sind. Was sich in der Dichtung, in der Kunst und in der Wissenschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/312>, abgerufen am 01.07.2024.