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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Zur Psychologie der Mode

schöpferischen Kräfte, die diesen Ruhm im siebzehnten und im achtzehnten Jahr¬
hundert begründet haben, versiegt sind. o'öLt moi galt auch für die
Domäne des hochkultivierten Geschmacks. An Stelle der persönlichen Herrschaft
ist die unpersönliche getreten, und Paris denkt in seiner Mode nicht mehr an
sich, sondern an die ganze Welt außerhalb, nicht an eigne, sondern an fremde
Bedürfnisse. Wer fortwährend neue Moden für andre nur der Neuheit wegen
erfinden muß, verfüllt unfehlbar in Torheiten. Aber an die Torheiten der
Schneidererfindungen ist eine weitausgreifende weise Organisation geknüpft, die
viel kaufmännisches Talent, geistige Arbeit und Tüchtigkeit und zahllose ge¬
schäftige Arbeitshände in Bewegung setzt. Reisen werden gemacht, der Zeichen¬
stift und der Telegraph sind fieberhaft tätig, Berichte gehn in alle Welt,
Textilienfabrikanten sorgen für neue Muster und Stoffe, ganze Fabrikationszweige
kommen durch eine Modelaune zum Fall, andre zum Aufblühen, Vermögen
stehn auf dem Spiele, Niederlagen werden erlitten und Siege erkämpft, und bis
in den kleinsten Haushalt, bis in die geistigsten Regionen der menschlichen Ge¬
schlechterbeziehungen werden Erschütterungen durch diese Kraftwelle verspürt.
Mancher wirtschaftliche Ruin, manche sittliche Entgleisung, mancher Aufstieg zu
Glück oder Ansehen, manches gelungne Heiratsprojekt ist mittelbar oder un¬
mittelbar Ergebnis des Modebetriebs. Helden und Märtyrer gibt es auf der
ganzen Linie. So arbeiten Torheit und Weisheit einträchtig Hand in Hand,
und es wird nicht immer klar, daß in diesem anstrengenden und aufregenden
Spiel eigentlich um Scheinwerte gespielt worden ist. Denn schon nach einem
halben Jahr oder nach einem Jahr, sicherlich aber in wenigen Jahren ist der
Zauber gebrochen und nichts geblieben als ein paar armselige, wertlose Fetzen,
um die so leidenschaftlich gearbeitet, gekämpft und mitunter gelitten worden ist,
und die, entgeistert und des Trngs entkleidet, nur ein verächtliches Lächeln selbst
von denen empfangen, die am heißesten gestritten haben. Aber zum Nachdenken
ist keine Zeit. Schon längst ist die neue Mode da und hat Sinn und Ver¬
stand in Beschlag gelegt. Besessenheit! Das schwindelerregende Spiel, wo
Torheit und Weisheit ineinander verschlungen sind, hat von neuem begonnen,
und der Neuheitstaumel verstrickt die Menschheit wieder in wirre Kreise.

Aber das ists ja eben! Je größer der Plunder war, der in der vorigen
Saison die Menschen am Narrenseil führte, um so heftiger ist das Verlangen,
es sobald wie möglich mit einem andern, womöglich einem gegenteiligen Unsinn
zu versuchen. Wenn also die Leute meinen, sie müssen mit der Mode gehn,
um nicht aufzufallen, so irren sie sich. Die Mode sucht immer aufzufallen.
Sie sucht sich stets abzusondern, sich ganz ausdrücklich zu unterscheiden, um
womöglich die zu blamieren und bloßzustellen, die bei der vorigjährigen Mode
stehn geblieben sind. Das tut sie aus Selbsterhaltungstrieb, nach dem
spinozistischen Grundsatz, daß nichts beständiger ist als der Wechsel. Der Reiz
der Abwechslung schmeichelt auch dem Masseninstinkt. Wie kommt es aber,


Grenzboten IV 1907 39
Zur Psychologie der Mode

schöpferischen Kräfte, die diesen Ruhm im siebzehnten und im achtzehnten Jahr¬
hundert begründet haben, versiegt sind. o'öLt moi galt auch für die
Domäne des hochkultivierten Geschmacks. An Stelle der persönlichen Herrschaft
ist die unpersönliche getreten, und Paris denkt in seiner Mode nicht mehr an
sich, sondern an die ganze Welt außerhalb, nicht an eigne, sondern an fremde
Bedürfnisse. Wer fortwährend neue Moden für andre nur der Neuheit wegen
erfinden muß, verfüllt unfehlbar in Torheiten. Aber an die Torheiten der
Schneidererfindungen ist eine weitausgreifende weise Organisation geknüpft, die
viel kaufmännisches Talent, geistige Arbeit und Tüchtigkeit und zahllose ge¬
schäftige Arbeitshände in Bewegung setzt. Reisen werden gemacht, der Zeichen¬
stift und der Telegraph sind fieberhaft tätig, Berichte gehn in alle Welt,
Textilienfabrikanten sorgen für neue Muster und Stoffe, ganze Fabrikationszweige
kommen durch eine Modelaune zum Fall, andre zum Aufblühen, Vermögen
stehn auf dem Spiele, Niederlagen werden erlitten und Siege erkämpft, und bis
in den kleinsten Haushalt, bis in die geistigsten Regionen der menschlichen Ge¬
schlechterbeziehungen werden Erschütterungen durch diese Kraftwelle verspürt.
Mancher wirtschaftliche Ruin, manche sittliche Entgleisung, mancher Aufstieg zu
Glück oder Ansehen, manches gelungne Heiratsprojekt ist mittelbar oder un¬
mittelbar Ergebnis des Modebetriebs. Helden und Märtyrer gibt es auf der
ganzen Linie. So arbeiten Torheit und Weisheit einträchtig Hand in Hand,
und es wird nicht immer klar, daß in diesem anstrengenden und aufregenden
Spiel eigentlich um Scheinwerte gespielt worden ist. Denn schon nach einem
halben Jahr oder nach einem Jahr, sicherlich aber in wenigen Jahren ist der
Zauber gebrochen und nichts geblieben als ein paar armselige, wertlose Fetzen,
um die so leidenschaftlich gearbeitet, gekämpft und mitunter gelitten worden ist,
und die, entgeistert und des Trngs entkleidet, nur ein verächtliches Lächeln selbst
von denen empfangen, die am heißesten gestritten haben. Aber zum Nachdenken
ist keine Zeit. Schon längst ist die neue Mode da und hat Sinn und Ver¬
stand in Beschlag gelegt. Besessenheit! Das schwindelerregende Spiel, wo
Torheit und Weisheit ineinander verschlungen sind, hat von neuem begonnen,
und der Neuheitstaumel verstrickt die Menschheit wieder in wirre Kreise.

Aber das ists ja eben! Je größer der Plunder war, der in der vorigen
Saison die Menschen am Narrenseil führte, um so heftiger ist das Verlangen,
es sobald wie möglich mit einem andern, womöglich einem gegenteiligen Unsinn
zu versuchen. Wenn also die Leute meinen, sie müssen mit der Mode gehn,
um nicht aufzufallen, so irren sie sich. Die Mode sucht immer aufzufallen.
Sie sucht sich stets abzusondern, sich ganz ausdrücklich zu unterscheiden, um
womöglich die zu blamieren und bloßzustellen, die bei der vorigjährigen Mode
stehn geblieben sind. Das tut sie aus Selbsterhaltungstrieb, nach dem
spinozistischen Grundsatz, daß nichts beständiger ist als der Wechsel. Der Reiz
der Abwechslung schmeichelt auch dem Masseninstinkt. Wie kommt es aber,


Grenzboten IV 1907 39
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[0309] Zur Psychologie der Mode schöpferischen Kräfte, die diesen Ruhm im siebzehnten und im achtzehnten Jahr¬ hundert begründet haben, versiegt sind. o'öLt moi galt auch für die Domäne des hochkultivierten Geschmacks. An Stelle der persönlichen Herrschaft ist die unpersönliche getreten, und Paris denkt in seiner Mode nicht mehr an sich, sondern an die ganze Welt außerhalb, nicht an eigne, sondern an fremde Bedürfnisse. Wer fortwährend neue Moden für andre nur der Neuheit wegen erfinden muß, verfüllt unfehlbar in Torheiten. Aber an die Torheiten der Schneidererfindungen ist eine weitausgreifende weise Organisation geknüpft, die viel kaufmännisches Talent, geistige Arbeit und Tüchtigkeit und zahllose ge¬ schäftige Arbeitshände in Bewegung setzt. Reisen werden gemacht, der Zeichen¬ stift und der Telegraph sind fieberhaft tätig, Berichte gehn in alle Welt, Textilienfabrikanten sorgen für neue Muster und Stoffe, ganze Fabrikationszweige kommen durch eine Modelaune zum Fall, andre zum Aufblühen, Vermögen stehn auf dem Spiele, Niederlagen werden erlitten und Siege erkämpft, und bis in den kleinsten Haushalt, bis in die geistigsten Regionen der menschlichen Ge¬ schlechterbeziehungen werden Erschütterungen durch diese Kraftwelle verspürt. Mancher wirtschaftliche Ruin, manche sittliche Entgleisung, mancher Aufstieg zu Glück oder Ansehen, manches gelungne Heiratsprojekt ist mittelbar oder un¬ mittelbar Ergebnis des Modebetriebs. Helden und Märtyrer gibt es auf der ganzen Linie. So arbeiten Torheit und Weisheit einträchtig Hand in Hand, und es wird nicht immer klar, daß in diesem anstrengenden und aufregenden Spiel eigentlich um Scheinwerte gespielt worden ist. Denn schon nach einem halben Jahr oder nach einem Jahr, sicherlich aber in wenigen Jahren ist der Zauber gebrochen und nichts geblieben als ein paar armselige, wertlose Fetzen, um die so leidenschaftlich gearbeitet, gekämpft und mitunter gelitten worden ist, und die, entgeistert und des Trngs entkleidet, nur ein verächtliches Lächeln selbst von denen empfangen, die am heißesten gestritten haben. Aber zum Nachdenken ist keine Zeit. Schon längst ist die neue Mode da und hat Sinn und Ver¬ stand in Beschlag gelegt. Besessenheit! Das schwindelerregende Spiel, wo Torheit und Weisheit ineinander verschlungen sind, hat von neuem begonnen, und der Neuheitstaumel verstrickt die Menschheit wieder in wirre Kreise. Aber das ists ja eben! Je größer der Plunder war, der in der vorigen Saison die Menschen am Narrenseil führte, um so heftiger ist das Verlangen, es sobald wie möglich mit einem andern, womöglich einem gegenteiligen Unsinn zu versuchen. Wenn also die Leute meinen, sie müssen mit der Mode gehn, um nicht aufzufallen, so irren sie sich. Die Mode sucht immer aufzufallen. Sie sucht sich stets abzusondern, sich ganz ausdrücklich zu unterscheiden, um womöglich die zu blamieren und bloßzustellen, die bei der vorigjährigen Mode stehn geblieben sind. Das tut sie aus Selbsterhaltungstrieb, nach dem spinozistischen Grundsatz, daß nichts beständiger ist als der Wechsel. Der Reiz der Abwechslung schmeichelt auch dem Masseninstinkt. Wie kommt es aber, Grenzboten IV 1907 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/309>, abgerufen am 01.10.2024.