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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Zur Psychologie der Mode

trefflich, es ist auch schön, höchst geschmackvoll. Aber eben nur für ihre eigne
Person! Sie haben so getan, wie jede selbständige Natur, die klar erkennt, was
sie nötig hat, tun würde. Aber in einigen Tagen hat die neue Weste, der
neue Hut, der neue Schlips die Weltherrschaft angetreten und Tausende und
aber Tausende seiner Willkür unterworfen. Natürlich ist nicht jeder König Eduard,
Lord Byron oder Girardi. Viele sehen in der neuen Mode greulich aus. Aber
was tuts! Alle sind hypnotisiert. Was modern ist, sieht immer gut aus! Woran
es jedem fehlt, sieht zunächst keiner. Erst wenn neue Moden gekommen sind,
und man probiert die alten verjährten Formen, kann man es nicht begreifen,
wie man jemals ein solches lächerliches, geschmackloses und unpassendes Zeug
hat am Leibe haben können. Wie doch das närrisch, auffallend und absonderlich
aussieht! Dagegen ist doch die neue Mode sehr vernünftig und geschmackvoll!
Also schafft man sich geschwind die neue Mode an. Es wird uns zwar mit
der neuen genau so ergehn wie mit der alten, wenn die Zeit um ist, und eine neue
Neuheit die Herrschaft an sich reißt. Diese Despotien wechseln rasch, denn nicht
immer hat eine geschmackvolle oder auch nur originelle Persönlichkeit durch ihre
persönlichen Bedürfnisse eine Mode vorgebildet. Weitaus in den häufigsten Fällen
entscheiden geschäftliche Gründe, den Modewechsel zu beschleunigen. Da wird die
Sache noch bedenklicher. Sie hat nicht mehr unter der Kontrolle einer Persönlich¬
keit gestanden, die die Sache am eignen Leibe erprobt und wenigstens für sich ent¬
wickelt hat. Sie ist eine Angelegenheit des modernen Großbetriebs geworden, indem
findige Schneider mit einem ganz gewaltigen Apparat von Zeichnern, Modeblättern,
Modellen, vielgesehenen Personen der Öffentlichkeit und andern Helfershelfern
die neue Mode schaffen. Berühmte Namen treten in Verbindung mit der Mode¬
neuheit auf, aber die Träger dieser Namen sind gewöhnlich auch nur die Trüger
der neuen Mode, nicht die Erfinder oder Anreger. Erfinden tut der Schneider.
Er erfindet Formen an sich, Formen, die um jeden Preis anders sein müssen
als die der vorigen Saison, Formen, die das Publikum noch nicht hat, sondern
die es erst haben wird. Es liegt bloß eine geschäftliche Notwendigkeit vor; die
Neuheit wird gesucht, weil sie neu ist, nicht weil sie schöner, praktischer oder
geschmackvoller ist. Der große Apparat braucht Nahrung, er muß in Schwung
gehalten bleiben, das Riesenrad muß sich umdrehen, und es dreht sich um so
schneller, je mehr Wasser auf die Mühle kommt. Die Neuheiten sind der An¬
trieb, und das Publikum arbeitet kräftig mit. Denn wer ein halbes Jahr lang
enge Ärmel getragen hat, sehnt sich nach weiten Ärmeln, nicht weil sie besser
sind, sondern weil sie einmal was andres sind. Nun sind jeder Torheit die
Tore offen. Ins Gigantische wächst sie sich in der Frauenmode aus; bei uns
Männern siehts zuweilen auch schlimm aus, aber doch niemals gar so schlimm.
Das Beharrungsvermögen, eine von den physikalischen Eigenschaften des
Publikums, bringt es mit sich, daß Paris in der Frauenmode noch immer als
die Bezugsquelle des feinen Geschmacks gilt, obwohl die persönlichen und die


Zur Psychologie der Mode

trefflich, es ist auch schön, höchst geschmackvoll. Aber eben nur für ihre eigne
Person! Sie haben so getan, wie jede selbständige Natur, die klar erkennt, was
sie nötig hat, tun würde. Aber in einigen Tagen hat die neue Weste, der
neue Hut, der neue Schlips die Weltherrschaft angetreten und Tausende und
aber Tausende seiner Willkür unterworfen. Natürlich ist nicht jeder König Eduard,
Lord Byron oder Girardi. Viele sehen in der neuen Mode greulich aus. Aber
was tuts! Alle sind hypnotisiert. Was modern ist, sieht immer gut aus! Woran
es jedem fehlt, sieht zunächst keiner. Erst wenn neue Moden gekommen sind,
und man probiert die alten verjährten Formen, kann man es nicht begreifen,
wie man jemals ein solches lächerliches, geschmackloses und unpassendes Zeug
hat am Leibe haben können. Wie doch das närrisch, auffallend und absonderlich
aussieht! Dagegen ist doch die neue Mode sehr vernünftig und geschmackvoll!
Also schafft man sich geschwind die neue Mode an. Es wird uns zwar mit
der neuen genau so ergehn wie mit der alten, wenn die Zeit um ist, und eine neue
Neuheit die Herrschaft an sich reißt. Diese Despotien wechseln rasch, denn nicht
immer hat eine geschmackvolle oder auch nur originelle Persönlichkeit durch ihre
persönlichen Bedürfnisse eine Mode vorgebildet. Weitaus in den häufigsten Fällen
entscheiden geschäftliche Gründe, den Modewechsel zu beschleunigen. Da wird die
Sache noch bedenklicher. Sie hat nicht mehr unter der Kontrolle einer Persönlich¬
keit gestanden, die die Sache am eignen Leibe erprobt und wenigstens für sich ent¬
wickelt hat. Sie ist eine Angelegenheit des modernen Großbetriebs geworden, indem
findige Schneider mit einem ganz gewaltigen Apparat von Zeichnern, Modeblättern,
Modellen, vielgesehenen Personen der Öffentlichkeit und andern Helfershelfern
die neue Mode schaffen. Berühmte Namen treten in Verbindung mit der Mode¬
neuheit auf, aber die Träger dieser Namen sind gewöhnlich auch nur die Trüger
der neuen Mode, nicht die Erfinder oder Anreger. Erfinden tut der Schneider.
Er erfindet Formen an sich, Formen, die um jeden Preis anders sein müssen
als die der vorigen Saison, Formen, die das Publikum noch nicht hat, sondern
die es erst haben wird. Es liegt bloß eine geschäftliche Notwendigkeit vor; die
Neuheit wird gesucht, weil sie neu ist, nicht weil sie schöner, praktischer oder
geschmackvoller ist. Der große Apparat braucht Nahrung, er muß in Schwung
gehalten bleiben, das Riesenrad muß sich umdrehen, und es dreht sich um so
schneller, je mehr Wasser auf die Mühle kommt. Die Neuheiten sind der An¬
trieb, und das Publikum arbeitet kräftig mit. Denn wer ein halbes Jahr lang
enge Ärmel getragen hat, sehnt sich nach weiten Ärmeln, nicht weil sie besser
sind, sondern weil sie einmal was andres sind. Nun sind jeder Torheit die
Tore offen. Ins Gigantische wächst sie sich in der Frauenmode aus; bei uns
Männern siehts zuweilen auch schlimm aus, aber doch niemals gar so schlimm.
Das Beharrungsvermögen, eine von den physikalischen Eigenschaften des
Publikums, bringt es mit sich, daß Paris in der Frauenmode noch immer als
die Bezugsquelle des feinen Geschmacks gilt, obwohl die persönlichen und die


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[0308] Zur Psychologie der Mode trefflich, es ist auch schön, höchst geschmackvoll. Aber eben nur für ihre eigne Person! Sie haben so getan, wie jede selbständige Natur, die klar erkennt, was sie nötig hat, tun würde. Aber in einigen Tagen hat die neue Weste, der neue Hut, der neue Schlips die Weltherrschaft angetreten und Tausende und aber Tausende seiner Willkür unterworfen. Natürlich ist nicht jeder König Eduard, Lord Byron oder Girardi. Viele sehen in der neuen Mode greulich aus. Aber was tuts! Alle sind hypnotisiert. Was modern ist, sieht immer gut aus! Woran es jedem fehlt, sieht zunächst keiner. Erst wenn neue Moden gekommen sind, und man probiert die alten verjährten Formen, kann man es nicht begreifen, wie man jemals ein solches lächerliches, geschmackloses und unpassendes Zeug hat am Leibe haben können. Wie doch das närrisch, auffallend und absonderlich aussieht! Dagegen ist doch die neue Mode sehr vernünftig und geschmackvoll! Also schafft man sich geschwind die neue Mode an. Es wird uns zwar mit der neuen genau so ergehn wie mit der alten, wenn die Zeit um ist, und eine neue Neuheit die Herrschaft an sich reißt. Diese Despotien wechseln rasch, denn nicht immer hat eine geschmackvolle oder auch nur originelle Persönlichkeit durch ihre persönlichen Bedürfnisse eine Mode vorgebildet. Weitaus in den häufigsten Fällen entscheiden geschäftliche Gründe, den Modewechsel zu beschleunigen. Da wird die Sache noch bedenklicher. Sie hat nicht mehr unter der Kontrolle einer Persönlich¬ keit gestanden, die die Sache am eignen Leibe erprobt und wenigstens für sich ent¬ wickelt hat. Sie ist eine Angelegenheit des modernen Großbetriebs geworden, indem findige Schneider mit einem ganz gewaltigen Apparat von Zeichnern, Modeblättern, Modellen, vielgesehenen Personen der Öffentlichkeit und andern Helfershelfern die neue Mode schaffen. Berühmte Namen treten in Verbindung mit der Mode¬ neuheit auf, aber die Träger dieser Namen sind gewöhnlich auch nur die Trüger der neuen Mode, nicht die Erfinder oder Anreger. Erfinden tut der Schneider. Er erfindet Formen an sich, Formen, die um jeden Preis anders sein müssen als die der vorigen Saison, Formen, die das Publikum noch nicht hat, sondern die es erst haben wird. Es liegt bloß eine geschäftliche Notwendigkeit vor; die Neuheit wird gesucht, weil sie neu ist, nicht weil sie schöner, praktischer oder geschmackvoller ist. Der große Apparat braucht Nahrung, er muß in Schwung gehalten bleiben, das Riesenrad muß sich umdrehen, und es dreht sich um so schneller, je mehr Wasser auf die Mühle kommt. Die Neuheiten sind der An¬ trieb, und das Publikum arbeitet kräftig mit. Denn wer ein halbes Jahr lang enge Ärmel getragen hat, sehnt sich nach weiten Ärmeln, nicht weil sie besser sind, sondern weil sie einmal was andres sind. Nun sind jeder Torheit die Tore offen. Ins Gigantische wächst sie sich in der Frauenmode aus; bei uns Männern siehts zuweilen auch schlimm aus, aber doch niemals gar so schlimm. Das Beharrungsvermögen, eine von den physikalischen Eigenschaften des Publikums, bringt es mit sich, daß Paris in der Frauenmode noch immer als die Bezugsquelle des feinen Geschmacks gilt, obwohl die persönlichen und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/308>, abgerufen am 01.07.2024.