Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten Bezeichnend hierfür sind zwei Äußerungen Goethes. In der einen, in einem Es entspricht den großen Traditionen Leipzigs und seiner Pietät gegen die Großen seiner Kinder und Pflegekinder, wenn man jetzt begonnen hat, an den Straßenecken unter den blauen Schildern mit der Straßenbezeichnung die weißen Schilder mit der Erklärung der Namen anzubringen, z. B,- Ignaz Moscheles, geb. 1794, geht. 1870, Pianist, Lehrer am Konser¬ vatorium. Heinrich Marschner. geb. 1795, geht. 1861, Opernkomponist. "*) Es stellt dem Kunstgeschmack des Leipzigers ein schönes Zeugnis aus, daß sich in
seiner Stadt kein Zirkus halten konnte, und daß die zu einem solchen bestimmte "Alberthalle" jetzt fast nur noch sür musikalische Ausführungen dient. sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten Bezeichnend hierfür sind zwei Äußerungen Goethes. In der einen, in einem Es entspricht den großen Traditionen Leipzigs und seiner Pietät gegen die Großen seiner Kinder und Pflegekinder, wenn man jetzt begonnen hat, an den Straßenecken unter den blauen Schildern mit der Straßenbezeichnung die weißen Schilder mit der Erklärung der Namen anzubringen, z. B,- Ignaz Moscheles, geb. 1794, geht. 1870, Pianist, Lehrer am Konser¬ vatorium. Heinrich Marschner. geb. 1795, geht. 1861, Opernkomponist. »*) Es stellt dem Kunstgeschmack des Leipzigers ein schönes Zeugnis aus, daß sich in
seiner Stadt kein Zirkus halten konnte, und daß die zu einem solchen bestimmte „Alberthalle" jetzt fast nur noch sür musikalische Ausführungen dient. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0262" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303678"/> <fw type="header" place="top"> sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten</fw><lb/> <p xml:id="ID_1069" prev="#ID_1068"> Bezeichnend hierfür sind zwei Äußerungen Goethes. In der einen, in einem<lb/> Briefe an Frau von Stein, heißt es: „Die Leipziger sind als eine kleine<lb/> moralische Republik anzusehen. Jeder steht für sich, hat einige Freunde und<lb/> geht in seinem Wesen fort; kein Oberer gibt einen allgemeinen Ton an, und<lb/> jeder produziert sein kleines Original . . . Reichtum, Wissenschaft, Talente,<lb/> Besitztümer aller Art geben dem Orte eine Fülle, die ein Fremder, wenn er<lb/> es versteht, sehr wohl genießen kann." Und in „Dichtung und Wahrheit"<lb/> (6. Buch) bemerkt Goethe: „Leipzig ruft dem Beschauer keine altertümliche Zeit<lb/> zurück; es ist eine neue, kurz vergangne, von Handelstätigkeit, Wohlhabenheit,<lb/> Reichtum zeugende Epoche, die sich uns in diesen Denkmalen <d. h. den alten<lb/> Kaufmannshüusern mit ihren charakteristischen »Höfen«) ankündigt." Leipzig hat<lb/> ja auch erst in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine Art Patrizier¬<lb/> stand hervorgebracht, der aber nicht, wie vielfach in den alten Hansestädten,<lb/> durch Inzucht erstarrte, sondern stets frische Kräfte aufnahm. Gerade das, was<lb/> Leipzig heute so groß macht, sein Buchhandel, war zu Goethes Zeit erst im<lb/> Entstehen: 1765 wurde die erste Buchhändlergesellschaft gegründet, und der<lb/> Buchhandel ist ohne starke geistige Produktion nicht denkbar. So war denn<lb/> auch Leipzig im 18. Jahrhundert ein Zentralpunkt der deutschen Dichter, und<lb/> ein großer Teil ihrer Namen ist mit dem von Leipzig verknüpft. Man kann<lb/> noch die Häuser sehen, wo Gottsched, Chr. F. Weiße, Lessing, Goethe, Gellert,<lb/> Schiller, I. Paul, Seume u. a. längere oder kürzere Zeit gewohnt haben.<lb/> Ferner ist bezeugt der nur vorübergehende Aufenthalt von ältern Dichtern wie<lb/> Günther, Zachariä, Klopstock, Miller, Klinger u. a. Noch in der ersten Hälfte<lb/> des neunzehnten Jahrhunderts zog Leipzig viele Dichter und Denker an, sei es als<lb/> Studenten wie Fr. Schlegel, Schelling, Cl. Brentano, Grabbe, Mosen, sei es<lb/> im spätern Leben, wie Kleist, Körner, Gutzkow, Fontane und Auerbach.*) Den<lb/> Ruf einer Dichterstadt hat sich Leipzig trotzdem nicht erwerben können, um so<lb/> mehr den einer Musikerstadt, wofür man nur an das Dreigestirn Wagner,<lb/> Marschner und Lortzing zu erinnern braucht, das über Leipzig aufging. Und<lb/> auch in der Organisierung der Musikpslege ist Leipzig allen deutschen Städten<lb/> vorangegangen: die Übernahme des Thomaschors dnrch I. S. Bach (1723) und<lb/> die Stiftung der großen Gewandhauskonzerte (1743) zeugen dafür, und der<lb/> Leipziger Männerchor beweist, daß Leipzig seinen Traditionen als Stadt des<lb/> Gesanges treu geblieben ist.**)</p><lb/> <note xml:id="FID_27" place="foot"> Es entspricht den großen Traditionen Leipzigs und seiner Pietät gegen die Großen<lb/> seiner Kinder und Pflegekinder, wenn man jetzt begonnen hat, an den Straßenecken unter den<lb/> blauen Schildern mit der Straßenbezeichnung die weißen Schilder mit der Erklärung der Namen<lb/> anzubringen, z. B,- Ignaz Moscheles, geb. 1794, geht. 1870, Pianist, Lehrer am Konser¬<lb/> vatorium. Heinrich Marschner. geb. 1795, geht. 1861, Opernkomponist.</note><lb/> <note xml:id="FID_28" place="foot"> »*) Es stellt dem Kunstgeschmack des Leipzigers ein schönes Zeugnis aus, daß sich in<lb/> seiner Stadt kein Zirkus halten konnte, und daß die zu einem solchen bestimmte „Alberthalle"<lb/> jetzt fast nur noch sür musikalische Ausführungen dient.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0262]
sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten
Bezeichnend hierfür sind zwei Äußerungen Goethes. In der einen, in einem
Briefe an Frau von Stein, heißt es: „Die Leipziger sind als eine kleine
moralische Republik anzusehen. Jeder steht für sich, hat einige Freunde und
geht in seinem Wesen fort; kein Oberer gibt einen allgemeinen Ton an, und
jeder produziert sein kleines Original . . . Reichtum, Wissenschaft, Talente,
Besitztümer aller Art geben dem Orte eine Fülle, die ein Fremder, wenn er
es versteht, sehr wohl genießen kann." Und in „Dichtung und Wahrheit"
(6. Buch) bemerkt Goethe: „Leipzig ruft dem Beschauer keine altertümliche Zeit
zurück; es ist eine neue, kurz vergangne, von Handelstätigkeit, Wohlhabenheit,
Reichtum zeugende Epoche, die sich uns in diesen Denkmalen <d. h. den alten
Kaufmannshüusern mit ihren charakteristischen »Höfen«) ankündigt." Leipzig hat
ja auch erst in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine Art Patrizier¬
stand hervorgebracht, der aber nicht, wie vielfach in den alten Hansestädten,
durch Inzucht erstarrte, sondern stets frische Kräfte aufnahm. Gerade das, was
Leipzig heute so groß macht, sein Buchhandel, war zu Goethes Zeit erst im
Entstehen: 1765 wurde die erste Buchhändlergesellschaft gegründet, und der
Buchhandel ist ohne starke geistige Produktion nicht denkbar. So war denn
auch Leipzig im 18. Jahrhundert ein Zentralpunkt der deutschen Dichter, und
ein großer Teil ihrer Namen ist mit dem von Leipzig verknüpft. Man kann
noch die Häuser sehen, wo Gottsched, Chr. F. Weiße, Lessing, Goethe, Gellert,
Schiller, I. Paul, Seume u. a. längere oder kürzere Zeit gewohnt haben.
Ferner ist bezeugt der nur vorübergehende Aufenthalt von ältern Dichtern wie
Günther, Zachariä, Klopstock, Miller, Klinger u. a. Noch in der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts zog Leipzig viele Dichter und Denker an, sei es als
Studenten wie Fr. Schlegel, Schelling, Cl. Brentano, Grabbe, Mosen, sei es
im spätern Leben, wie Kleist, Körner, Gutzkow, Fontane und Auerbach.*) Den
Ruf einer Dichterstadt hat sich Leipzig trotzdem nicht erwerben können, um so
mehr den einer Musikerstadt, wofür man nur an das Dreigestirn Wagner,
Marschner und Lortzing zu erinnern braucht, das über Leipzig aufging. Und
auch in der Organisierung der Musikpslege ist Leipzig allen deutschen Städten
vorangegangen: die Übernahme des Thomaschors dnrch I. S. Bach (1723) und
die Stiftung der großen Gewandhauskonzerte (1743) zeugen dafür, und der
Leipziger Männerchor beweist, daß Leipzig seinen Traditionen als Stadt des
Gesanges treu geblieben ist.**)
Es entspricht den großen Traditionen Leipzigs und seiner Pietät gegen die Großen
seiner Kinder und Pflegekinder, wenn man jetzt begonnen hat, an den Straßenecken unter den
blauen Schildern mit der Straßenbezeichnung die weißen Schilder mit der Erklärung der Namen
anzubringen, z. B,- Ignaz Moscheles, geb. 1794, geht. 1870, Pianist, Lehrer am Konser¬
vatorium. Heinrich Marschner. geb. 1795, geht. 1861, Opernkomponist.
»*) Es stellt dem Kunstgeschmack des Leipzigers ein schönes Zeugnis aus, daß sich in
seiner Stadt kein Zirkus halten konnte, und daß die zu einem solchen bestimmte „Alberthalle"
jetzt fast nur noch sür musikalische Ausführungen dient.
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