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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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West- und Ostdeutsch

wurde, daß dort sich die neue, auf dem Ideal der freien Persönlichkeit beruhende
Bildung ungehindert entfalten konnte, war das alte Deutschland dem Kolonial¬
lande überlegen, und es wirkte fortwährend auch auf dieses hinüber: der Sachse
Lessing, der in Berlin und in Breslau seine geistige Heimat fand und etwas
von dem Stolze des preußischen Militärstaats in sich aufnahm, und der Alt-
märker Winckelmann, der aufatmend aus der "Sklaverei" seines Heimatstaats
nach dem deutschen Florenz, nach Dresden, flüchtete, die Ostpreußen Herder
und Kant, die waren alle ausgeprägte Persönlichkeiten. Aber im ganzen fühlte
sich der Westdeutsche abgestoßen von dem herben, straffen preußischen Wesen;
er bewunderte zwar in Friedrich dem Großen die heldenhafte Persönlichkeit, wie
er sich später für das Genie Napoleons begeisterte, aber den preußischen Staat
als solchen betrachtete er mit Mißtrauen und Abneigung, und den berechtigten
preußischen Stolz empfand er als Überhebung. Und doch war das, was ihm
als solche erschien, nur die energische Staatsgesinnung, die damals in Deutsch¬
land nur der Preuße empfand und empfinden konnte.

So standen die beiden Hälften der Nation einander noch fremder gegen¬
über als früher, als die große Katastrophe hereinbrach. Eine Revolution von
oben zerstörte die ganze unhaltbare Territorialgestaltung des alten Deutschlands
und schuf aus zahllosen Trümmerstücken einigermaßen haltbare Staatengebilde,
aber erst der Zwang des Rheinbunds, also das Interesse eines fremden Er¬
oberers, nötigte diesen Gebilden eine moderne Staatsordnung auf. Fast
willenlos unterwarf sich das Volk dieser Revolution. In Preußen aber lehrte
der Zusammenbruch von 1806/07, daß die alten Grundlagen des Staates zu
schmal gewesen waren, und daß er ohne die Mitarbeit des Volks nicht mehr
bestehn könne. So ging hier der monarchische Absolutismus voran, indem er
die autonome Stadtgemeinde schuf, die Grundlage der künftigen Selbstver¬
waltung, und die Befreiung des Bauernstandes anbahnte, und er konnte es
wagen, alle Kräfte des Volkes zum Befreiungskampfe auszubieten, indem er
zugleich an den Stolz auf Preußens alte Größe appellierte. Damals hat der
koloniale Nordosten den Bestand der deutschen Nation gerettet, nachdem das
Mutterland, der Westen, der Fremdherrschaft verfallen war. Doch während
nach der Befreiung die Staaten des Südwestens in den neuen konstitutionellen
Formen die besitzenden und gebildeten Kreise zur tätigen Teilnahme am Stants-
leben beriefen, dann auch die noch nltständischen Staaten des Nordens dazu
übergingen, war in Preußen das Selbstgefühl der alten Monarchie, die den
Staat geschaffen hatte, so stark, daß sie diesen Entschluß, zu dem vor allem
das kraftvoll sich entwickelnde Bürgertum stürmisch drängte, nur unter schweren
Erschütterungen faßte und verwirklichte, ohne jedoch jemals daran zu denken,
die Krone selbst nnter den Willen parlamentarischer Mehrheiten nach dem
Beispiele der westeuropäischen Verfassungen zu beugen. Dieses historisch ge-
wordne preußische Königtum ist es aber schließlich gewesen, das nach Ver¬
drängung Österreichs aus dem engern dentschen Staatsverbande das außer-


West- und Ostdeutsch

wurde, daß dort sich die neue, auf dem Ideal der freien Persönlichkeit beruhende
Bildung ungehindert entfalten konnte, war das alte Deutschland dem Kolonial¬
lande überlegen, und es wirkte fortwährend auch auf dieses hinüber: der Sachse
Lessing, der in Berlin und in Breslau seine geistige Heimat fand und etwas
von dem Stolze des preußischen Militärstaats in sich aufnahm, und der Alt-
märker Winckelmann, der aufatmend aus der „Sklaverei" seines Heimatstaats
nach dem deutschen Florenz, nach Dresden, flüchtete, die Ostpreußen Herder
und Kant, die waren alle ausgeprägte Persönlichkeiten. Aber im ganzen fühlte
sich der Westdeutsche abgestoßen von dem herben, straffen preußischen Wesen;
er bewunderte zwar in Friedrich dem Großen die heldenhafte Persönlichkeit, wie
er sich später für das Genie Napoleons begeisterte, aber den preußischen Staat
als solchen betrachtete er mit Mißtrauen und Abneigung, und den berechtigten
preußischen Stolz empfand er als Überhebung. Und doch war das, was ihm
als solche erschien, nur die energische Staatsgesinnung, die damals in Deutsch¬
land nur der Preuße empfand und empfinden konnte.

So standen die beiden Hälften der Nation einander noch fremder gegen¬
über als früher, als die große Katastrophe hereinbrach. Eine Revolution von
oben zerstörte die ganze unhaltbare Territorialgestaltung des alten Deutschlands
und schuf aus zahllosen Trümmerstücken einigermaßen haltbare Staatengebilde,
aber erst der Zwang des Rheinbunds, also das Interesse eines fremden Er¬
oberers, nötigte diesen Gebilden eine moderne Staatsordnung auf. Fast
willenlos unterwarf sich das Volk dieser Revolution. In Preußen aber lehrte
der Zusammenbruch von 1806/07, daß die alten Grundlagen des Staates zu
schmal gewesen waren, und daß er ohne die Mitarbeit des Volks nicht mehr
bestehn könne. So ging hier der monarchische Absolutismus voran, indem er
die autonome Stadtgemeinde schuf, die Grundlage der künftigen Selbstver¬
waltung, und die Befreiung des Bauernstandes anbahnte, und er konnte es
wagen, alle Kräfte des Volkes zum Befreiungskampfe auszubieten, indem er
zugleich an den Stolz auf Preußens alte Größe appellierte. Damals hat der
koloniale Nordosten den Bestand der deutschen Nation gerettet, nachdem das
Mutterland, der Westen, der Fremdherrschaft verfallen war. Doch während
nach der Befreiung die Staaten des Südwestens in den neuen konstitutionellen
Formen die besitzenden und gebildeten Kreise zur tätigen Teilnahme am Stants-
leben beriefen, dann auch die noch nltständischen Staaten des Nordens dazu
übergingen, war in Preußen das Selbstgefühl der alten Monarchie, die den
Staat geschaffen hatte, so stark, daß sie diesen Entschluß, zu dem vor allem
das kraftvoll sich entwickelnde Bürgertum stürmisch drängte, nur unter schweren
Erschütterungen faßte und verwirklichte, ohne jedoch jemals daran zu denken,
die Krone selbst nnter den Willen parlamentarischer Mehrheiten nach dem
Beispiele der westeuropäischen Verfassungen zu beugen. Dieses historisch ge-
wordne preußische Königtum ist es aber schließlich gewesen, das nach Ver¬
drängung Österreichs aus dem engern dentschen Staatsverbande das außer-


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[0196] West- und Ostdeutsch wurde, daß dort sich die neue, auf dem Ideal der freien Persönlichkeit beruhende Bildung ungehindert entfalten konnte, war das alte Deutschland dem Kolonial¬ lande überlegen, und es wirkte fortwährend auch auf dieses hinüber: der Sachse Lessing, der in Berlin und in Breslau seine geistige Heimat fand und etwas von dem Stolze des preußischen Militärstaats in sich aufnahm, und der Alt- märker Winckelmann, der aufatmend aus der „Sklaverei" seines Heimatstaats nach dem deutschen Florenz, nach Dresden, flüchtete, die Ostpreußen Herder und Kant, die waren alle ausgeprägte Persönlichkeiten. Aber im ganzen fühlte sich der Westdeutsche abgestoßen von dem herben, straffen preußischen Wesen; er bewunderte zwar in Friedrich dem Großen die heldenhafte Persönlichkeit, wie er sich später für das Genie Napoleons begeisterte, aber den preußischen Staat als solchen betrachtete er mit Mißtrauen und Abneigung, und den berechtigten preußischen Stolz empfand er als Überhebung. Und doch war das, was ihm als solche erschien, nur die energische Staatsgesinnung, die damals in Deutsch¬ land nur der Preuße empfand und empfinden konnte. So standen die beiden Hälften der Nation einander noch fremder gegen¬ über als früher, als die große Katastrophe hereinbrach. Eine Revolution von oben zerstörte die ganze unhaltbare Territorialgestaltung des alten Deutschlands und schuf aus zahllosen Trümmerstücken einigermaßen haltbare Staatengebilde, aber erst der Zwang des Rheinbunds, also das Interesse eines fremden Er¬ oberers, nötigte diesen Gebilden eine moderne Staatsordnung auf. Fast willenlos unterwarf sich das Volk dieser Revolution. In Preußen aber lehrte der Zusammenbruch von 1806/07, daß die alten Grundlagen des Staates zu schmal gewesen waren, und daß er ohne die Mitarbeit des Volks nicht mehr bestehn könne. So ging hier der monarchische Absolutismus voran, indem er die autonome Stadtgemeinde schuf, die Grundlage der künftigen Selbstver¬ waltung, und die Befreiung des Bauernstandes anbahnte, und er konnte es wagen, alle Kräfte des Volkes zum Befreiungskampfe auszubieten, indem er zugleich an den Stolz auf Preußens alte Größe appellierte. Damals hat der koloniale Nordosten den Bestand der deutschen Nation gerettet, nachdem das Mutterland, der Westen, der Fremdherrschaft verfallen war. Doch während nach der Befreiung die Staaten des Südwestens in den neuen konstitutionellen Formen die besitzenden und gebildeten Kreise zur tätigen Teilnahme am Stants- leben beriefen, dann auch die noch nltständischen Staaten des Nordens dazu übergingen, war in Preußen das Selbstgefühl der alten Monarchie, die den Staat geschaffen hatte, so stark, daß sie diesen Entschluß, zu dem vor allem das kraftvoll sich entwickelnde Bürgertum stürmisch drängte, nur unter schweren Erschütterungen faßte und verwirklichte, ohne jedoch jemals daran zu denken, die Krone selbst nnter den Willen parlamentarischer Mehrheiten nach dem Beispiele der westeuropäischen Verfassungen zu beugen. Dieses historisch ge- wordne preußische Königtum ist es aber schließlich gewesen, das nach Ver¬ drängung Österreichs aus dem engern dentschen Staatsverbande das außer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/196>, abgerufen am 03.07.2024.