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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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West, und Ostdeutsch

des evangelischen Deutschlands, der nach der Erwerbung der beiden Lausitzer
1635 von der Oder bis an die Werra reichte und eine Zeit lang Aussicht hatte,
mit dem alten Erzstift Magdeburg die Herrschaft über den Elblauf bis an die
Havelmündung und mit dem allen die herrschende Stellung im Nordosten zu
gewinnen.

Wenn es anders kam, so trug daran die Hauptschuld die innere Zersetzung,
die seit dem Ausgange des Mittelalters alle Territorien ergriffen hatte und
durch die kirchliche Umgestaltung noch verstärkt wurde: die ständische Auflösung
des Staatswesens in ein Nebeneinander von Domänen, Rittergütern und Stadt¬
gemeinden, die die wichtigsten Hoheitsrechte an sich nahmen, den Landesherrn
auf die bloße Oberleitung beschränkten und als Gesamtheit auf den Landtagen
auch das Steuerbewilligungs- und Gesetzgebungsrecht ausübten. Der Herrschaft
der obern Stände erlag auch im Nordosten die alte Bauernfreiheit der auto¬
nomen Dorfgemeinde; aus den freien deutschen Kolonisten wurden gedrückte
gutsangehörige "Untertanen". Dieses ganze ständische Staatswesen offenbarte
jedoch im Dreißigjährigen Kriege seine völlige Unfähigkeit, große politische Auf¬
gaben zu lösen. Da trat eben im Nordosten, in einem seiner ausgedehntesten,
aber ärmsten Territorien, in dem alten Eroberungsgebiete der Askanier, das
ihnen selbst entglitten und den schwäbisch-fränkischen Hohenzollern zugefallen
war, bald nach dem Ende des zerstörenden großen Krieges eine neue Auffassung
des Staats und der fürstlichen Gewalt hervor, alle Stände unter ihr herrisches
Gebot beugend, sie zwingend, zum Wohle des Ganzen zu arbeiten, jedem ein¬
zelnen Stande seine wirtschaftliche und politische Aufgabe zuweisend, die beiden
Hauptträger der neuen Staatsordnung, das Heer und das Beamtentum, mit
einem Pflichtgefühl ohne gleichen erfüllend. Niemals ist es so deutlich wie
bei dieser Wendung hervorgetreten, daß der Staat das Werk des bewußten
Willens ist. Mit solchen Mitteln, während ringsum die altständische Ordnung
aufrecht blieb, gewannen die Hohenzollern, nachdem sie durch Erbschaft Pommern
und das alte Ordensland Preußen erworben, durch Eroberung Schlesien und
Westpreußen, das Mündungsland der Weichsel, und vereinigten somit fast den
ganzen Nordosten mit Ausnahme von Sachsen und Mecklenburg unter ihrem
Zepter, wie die Habsburger früher und vollständiger die Territorien des
deutschen Südostens. Auf kolonialen Boden also erwuchsen die beiden Gro߬
mächte, deren Verhältnis zueinander seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
die Geschicke Deutschlands bestimmte. Der fürstliche Absolutismus aber entstand
aus einer Verbindung des alten kolonialen Geistes mit dem Staatsideal der
nüchtern-verstandesmäßigen Aufklärung, die von Frankreich herüberdrang.

Freilich, unter seinem Drucke erlosch die städtische Autonomie, die aller¬
dings längst zu einer Oligarchie des Patriziats entartet war, und die freie,
selbständige Persönlichkeit konnte unter dem Zwange schweigenden Gehorsams
und harter Pflicht nicht gedeihen. Darin, daß beides in dem kleinstaatlichen
Westen, auch in den preußischen Gebieten im Westen der Weser, besser bewahrt


West, und Ostdeutsch

des evangelischen Deutschlands, der nach der Erwerbung der beiden Lausitzer
1635 von der Oder bis an die Werra reichte und eine Zeit lang Aussicht hatte,
mit dem alten Erzstift Magdeburg die Herrschaft über den Elblauf bis an die
Havelmündung und mit dem allen die herrschende Stellung im Nordosten zu
gewinnen.

Wenn es anders kam, so trug daran die Hauptschuld die innere Zersetzung,
die seit dem Ausgange des Mittelalters alle Territorien ergriffen hatte und
durch die kirchliche Umgestaltung noch verstärkt wurde: die ständische Auflösung
des Staatswesens in ein Nebeneinander von Domänen, Rittergütern und Stadt¬
gemeinden, die die wichtigsten Hoheitsrechte an sich nahmen, den Landesherrn
auf die bloße Oberleitung beschränkten und als Gesamtheit auf den Landtagen
auch das Steuerbewilligungs- und Gesetzgebungsrecht ausübten. Der Herrschaft
der obern Stände erlag auch im Nordosten die alte Bauernfreiheit der auto¬
nomen Dorfgemeinde; aus den freien deutschen Kolonisten wurden gedrückte
gutsangehörige „Untertanen". Dieses ganze ständische Staatswesen offenbarte
jedoch im Dreißigjährigen Kriege seine völlige Unfähigkeit, große politische Auf¬
gaben zu lösen. Da trat eben im Nordosten, in einem seiner ausgedehntesten,
aber ärmsten Territorien, in dem alten Eroberungsgebiete der Askanier, das
ihnen selbst entglitten und den schwäbisch-fränkischen Hohenzollern zugefallen
war, bald nach dem Ende des zerstörenden großen Krieges eine neue Auffassung
des Staats und der fürstlichen Gewalt hervor, alle Stände unter ihr herrisches
Gebot beugend, sie zwingend, zum Wohle des Ganzen zu arbeiten, jedem ein¬
zelnen Stande seine wirtschaftliche und politische Aufgabe zuweisend, die beiden
Hauptträger der neuen Staatsordnung, das Heer und das Beamtentum, mit
einem Pflichtgefühl ohne gleichen erfüllend. Niemals ist es so deutlich wie
bei dieser Wendung hervorgetreten, daß der Staat das Werk des bewußten
Willens ist. Mit solchen Mitteln, während ringsum die altständische Ordnung
aufrecht blieb, gewannen die Hohenzollern, nachdem sie durch Erbschaft Pommern
und das alte Ordensland Preußen erworben, durch Eroberung Schlesien und
Westpreußen, das Mündungsland der Weichsel, und vereinigten somit fast den
ganzen Nordosten mit Ausnahme von Sachsen und Mecklenburg unter ihrem
Zepter, wie die Habsburger früher und vollständiger die Territorien des
deutschen Südostens. Auf kolonialen Boden also erwuchsen die beiden Gro߬
mächte, deren Verhältnis zueinander seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
die Geschicke Deutschlands bestimmte. Der fürstliche Absolutismus aber entstand
aus einer Verbindung des alten kolonialen Geistes mit dem Staatsideal der
nüchtern-verstandesmäßigen Aufklärung, die von Frankreich herüberdrang.

Freilich, unter seinem Drucke erlosch die städtische Autonomie, die aller¬
dings längst zu einer Oligarchie des Patriziats entartet war, und die freie,
selbständige Persönlichkeit konnte unter dem Zwange schweigenden Gehorsams
und harter Pflicht nicht gedeihen. Darin, daß beides in dem kleinstaatlichen
Westen, auch in den preußischen Gebieten im Westen der Weser, besser bewahrt


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[0195] West, und Ostdeutsch des evangelischen Deutschlands, der nach der Erwerbung der beiden Lausitzer 1635 von der Oder bis an die Werra reichte und eine Zeit lang Aussicht hatte, mit dem alten Erzstift Magdeburg die Herrschaft über den Elblauf bis an die Havelmündung und mit dem allen die herrschende Stellung im Nordosten zu gewinnen. Wenn es anders kam, so trug daran die Hauptschuld die innere Zersetzung, die seit dem Ausgange des Mittelalters alle Territorien ergriffen hatte und durch die kirchliche Umgestaltung noch verstärkt wurde: die ständische Auflösung des Staatswesens in ein Nebeneinander von Domänen, Rittergütern und Stadt¬ gemeinden, die die wichtigsten Hoheitsrechte an sich nahmen, den Landesherrn auf die bloße Oberleitung beschränkten und als Gesamtheit auf den Landtagen auch das Steuerbewilligungs- und Gesetzgebungsrecht ausübten. Der Herrschaft der obern Stände erlag auch im Nordosten die alte Bauernfreiheit der auto¬ nomen Dorfgemeinde; aus den freien deutschen Kolonisten wurden gedrückte gutsangehörige „Untertanen". Dieses ganze ständische Staatswesen offenbarte jedoch im Dreißigjährigen Kriege seine völlige Unfähigkeit, große politische Auf¬ gaben zu lösen. Da trat eben im Nordosten, in einem seiner ausgedehntesten, aber ärmsten Territorien, in dem alten Eroberungsgebiete der Askanier, das ihnen selbst entglitten und den schwäbisch-fränkischen Hohenzollern zugefallen war, bald nach dem Ende des zerstörenden großen Krieges eine neue Auffassung des Staats und der fürstlichen Gewalt hervor, alle Stände unter ihr herrisches Gebot beugend, sie zwingend, zum Wohle des Ganzen zu arbeiten, jedem ein¬ zelnen Stande seine wirtschaftliche und politische Aufgabe zuweisend, die beiden Hauptträger der neuen Staatsordnung, das Heer und das Beamtentum, mit einem Pflichtgefühl ohne gleichen erfüllend. Niemals ist es so deutlich wie bei dieser Wendung hervorgetreten, daß der Staat das Werk des bewußten Willens ist. Mit solchen Mitteln, während ringsum die altständische Ordnung aufrecht blieb, gewannen die Hohenzollern, nachdem sie durch Erbschaft Pommern und das alte Ordensland Preußen erworben, durch Eroberung Schlesien und Westpreußen, das Mündungsland der Weichsel, und vereinigten somit fast den ganzen Nordosten mit Ausnahme von Sachsen und Mecklenburg unter ihrem Zepter, wie die Habsburger früher und vollständiger die Territorien des deutschen Südostens. Auf kolonialen Boden also erwuchsen die beiden Gro߬ mächte, deren Verhältnis zueinander seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Geschicke Deutschlands bestimmte. Der fürstliche Absolutismus aber entstand aus einer Verbindung des alten kolonialen Geistes mit dem Staatsideal der nüchtern-verstandesmäßigen Aufklärung, die von Frankreich herüberdrang. Freilich, unter seinem Drucke erlosch die städtische Autonomie, die aller¬ dings längst zu einer Oligarchie des Patriziats entartet war, und die freie, selbständige Persönlichkeit konnte unter dem Zwange schweigenden Gehorsams und harter Pflicht nicht gedeihen. Darin, daß beides in dem kleinstaatlichen Westen, auch in den preußischen Gebieten im Westen der Weser, besser bewahrt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/195>, abgerufen am 03.07.2024.