Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
West- und Ostdeutsch

sie ihn durchaus, sie haben ihn erst später in der kläglichen Enge der Ver¬
hältnisse verloren. Auch die leichte Anbequemung an fremde Art ist nicht ur¬
sprünglich deutsch, sondern erst das Ergebnis historischer Vorgänge. Wenn die
Germanen in Süd- und Westeuropa nach wenigen Generationen Sprache und
Nationalität aufgaben, so geschah das nur deshalb, weil sie ohne Verbindung
mit der Heimat waren und in geringer Zahl zerstreut unter einer höher gebildeten
heimischen Bevölkerung saßen; den deutschen Rittern, Bürgern und Bauern, die
den Nordosten kolonisierten und den germanischen Norden ihrer Hcmdels-
hcrrschaft unterwarfen, ist es gar nicht eingefallen, in den Wenden, Polen,
Russen, Letten, Ehlen und Skandinaviern, die sie als tief unter sich stehend be¬
trachteten, aufzugehn; im Gegenteil, die slawischen Fttrstengeschlechter in Mecklen¬
burg, Pommern und Schlesien germanisierten sich vielmehr selbst vollständig,
und soweit er sich hier und da erhielt, auch ihr Adel. Nirgends war dieses
Selbstgefühl stärker entwickelt als in dem Ordenslande Preußen, dem Sieges¬
preis blutiger und hartnäckiger Kämpfe und einem Kolonialgebiet des gesamten
Deutschtums, denn die leitenden Ordensritter waren meist Oberdeutsche, und die
Geschäftssprache des Ordensstaates war deshalb oberdeutsch, die zugewanderte
Bevölkerung stammt dagegen fast durchweg aus Niederdeutschland und spricht
noch heute plattdeutsch. Bei Strafe der Vernichtung war es dieser Kolonial¬
bevölkerung an der Ostsee und längs der Slawengrenze (auch Brandenburg war
damals ein Grenzland, eine "Mark", was das Meißnerland längst aufgehört
hatte zu sein) verboten, sich nach deutscher Gewohnheit in zahllose kleine ohn¬
mächtige Gruppen aufzulösen; so autonom auch hier die Städte waren, sie
blieben immer Landstädte, wurden mit der einen Ausnahme Lübecks niemals
Reichsstädte, und die Städtebündnisse, vor allem die Hansa, haben trotz aller
Eigenwilligkeit dieser stolzen Gemeinden an Dauer und Wirksamkeit die kurz¬
lebigen süddeutschen Städtebündnisse weit übertroffen; auch die Bischöfe des
Nordostens haben niemals die Neichsstandschaft gewonnen, sie sind immer Glieder
ihrer Landschaft, unter der Hoheit ihrer Landesherren geblieben. Diese selbst
hatten, sofern sie Markgrafen waren, von Anfang an eine sehr weitgehende
Amtsgewalt -- der Deutsche Orden war sogar souverän --, und sie haben zwar
die tief im deutschen Wesen und in der damaligen naturalwirtschaftlichen Kultur¬
stufe liegenden, ganz privatrechtlichen Teilungen ihrer Lande, die das alte
Thüringen so jämmerlich und unheilbar zerstückelt haben, nicht ganz vermieden,
sind aber schon im Anfange der Neuzeit zum Vorrecht der Erstgeburt durch¬
gedrungen. So standen hier im Nordosten wenige große Territorien nebeneinander,
nur noch nicht in einer Hand geeinigt, wie die ähnlichen ältern Bildungen
im Südosten es waren, während der Westen sich fast völlig in kleine und
kleinste Gebiete auflöste. Mit dem Siege des Protestantismus im Nordosten
war auch sein politisches Übergewicht entschieden: Kursachsen wurde, wie das
Musterland der lutherischen Bildung und das blühendste, volkswirtschaftlich am
weitesten fortgeschrittene Territorium des Nordens, so auch der führende Staat


West- und Ostdeutsch

sie ihn durchaus, sie haben ihn erst später in der kläglichen Enge der Ver¬
hältnisse verloren. Auch die leichte Anbequemung an fremde Art ist nicht ur¬
sprünglich deutsch, sondern erst das Ergebnis historischer Vorgänge. Wenn die
Germanen in Süd- und Westeuropa nach wenigen Generationen Sprache und
Nationalität aufgaben, so geschah das nur deshalb, weil sie ohne Verbindung
mit der Heimat waren und in geringer Zahl zerstreut unter einer höher gebildeten
heimischen Bevölkerung saßen; den deutschen Rittern, Bürgern und Bauern, die
den Nordosten kolonisierten und den germanischen Norden ihrer Hcmdels-
hcrrschaft unterwarfen, ist es gar nicht eingefallen, in den Wenden, Polen,
Russen, Letten, Ehlen und Skandinaviern, die sie als tief unter sich stehend be¬
trachteten, aufzugehn; im Gegenteil, die slawischen Fttrstengeschlechter in Mecklen¬
burg, Pommern und Schlesien germanisierten sich vielmehr selbst vollständig,
und soweit er sich hier und da erhielt, auch ihr Adel. Nirgends war dieses
Selbstgefühl stärker entwickelt als in dem Ordenslande Preußen, dem Sieges¬
preis blutiger und hartnäckiger Kämpfe und einem Kolonialgebiet des gesamten
Deutschtums, denn die leitenden Ordensritter waren meist Oberdeutsche, und die
Geschäftssprache des Ordensstaates war deshalb oberdeutsch, die zugewanderte
Bevölkerung stammt dagegen fast durchweg aus Niederdeutschland und spricht
noch heute plattdeutsch. Bei Strafe der Vernichtung war es dieser Kolonial¬
bevölkerung an der Ostsee und längs der Slawengrenze (auch Brandenburg war
damals ein Grenzland, eine „Mark", was das Meißnerland längst aufgehört
hatte zu sein) verboten, sich nach deutscher Gewohnheit in zahllose kleine ohn¬
mächtige Gruppen aufzulösen; so autonom auch hier die Städte waren, sie
blieben immer Landstädte, wurden mit der einen Ausnahme Lübecks niemals
Reichsstädte, und die Städtebündnisse, vor allem die Hansa, haben trotz aller
Eigenwilligkeit dieser stolzen Gemeinden an Dauer und Wirksamkeit die kurz¬
lebigen süddeutschen Städtebündnisse weit übertroffen; auch die Bischöfe des
Nordostens haben niemals die Neichsstandschaft gewonnen, sie sind immer Glieder
ihrer Landschaft, unter der Hoheit ihrer Landesherren geblieben. Diese selbst
hatten, sofern sie Markgrafen waren, von Anfang an eine sehr weitgehende
Amtsgewalt — der Deutsche Orden war sogar souverän —, und sie haben zwar
die tief im deutschen Wesen und in der damaligen naturalwirtschaftlichen Kultur¬
stufe liegenden, ganz privatrechtlichen Teilungen ihrer Lande, die das alte
Thüringen so jämmerlich und unheilbar zerstückelt haben, nicht ganz vermieden,
sind aber schon im Anfange der Neuzeit zum Vorrecht der Erstgeburt durch¬
gedrungen. So standen hier im Nordosten wenige große Territorien nebeneinander,
nur noch nicht in einer Hand geeinigt, wie die ähnlichen ältern Bildungen
im Südosten es waren, während der Westen sich fast völlig in kleine und
kleinste Gebiete auflöste. Mit dem Siege des Protestantismus im Nordosten
war auch sein politisches Übergewicht entschieden: Kursachsen wurde, wie das
Musterland der lutherischen Bildung und das blühendste, volkswirtschaftlich am
weitesten fortgeschrittene Territorium des Nordens, so auch der führende Staat


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303610"/>
          <fw type="header" place="top"> West- und Ostdeutsch</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_764" prev="#ID_763" next="#ID_765"> sie ihn durchaus, sie haben ihn erst später in der kläglichen Enge der Ver¬<lb/>
hältnisse verloren. Auch die leichte Anbequemung an fremde Art ist nicht ur¬<lb/>
sprünglich deutsch, sondern erst das Ergebnis historischer Vorgänge. Wenn die<lb/>
Germanen in Süd- und Westeuropa nach wenigen Generationen Sprache und<lb/>
Nationalität aufgaben, so geschah das nur deshalb, weil sie ohne Verbindung<lb/>
mit der Heimat waren und in geringer Zahl zerstreut unter einer höher gebildeten<lb/>
heimischen Bevölkerung saßen; den deutschen Rittern, Bürgern und Bauern, die<lb/>
den Nordosten kolonisierten und den germanischen Norden ihrer Hcmdels-<lb/>
hcrrschaft unterwarfen, ist es gar nicht eingefallen, in den Wenden, Polen,<lb/>
Russen, Letten, Ehlen und Skandinaviern, die sie als tief unter sich stehend be¬<lb/>
trachteten, aufzugehn; im Gegenteil, die slawischen Fttrstengeschlechter in Mecklen¬<lb/>
burg, Pommern und Schlesien germanisierten sich vielmehr selbst vollständig,<lb/>
und soweit er sich hier und da erhielt, auch ihr Adel. Nirgends war dieses<lb/>
Selbstgefühl stärker entwickelt als in dem Ordenslande Preußen, dem Sieges¬<lb/>
preis blutiger und hartnäckiger Kämpfe und einem Kolonialgebiet des gesamten<lb/>
Deutschtums, denn die leitenden Ordensritter waren meist Oberdeutsche, und die<lb/>
Geschäftssprache des Ordensstaates war deshalb oberdeutsch, die zugewanderte<lb/>
Bevölkerung stammt dagegen fast durchweg aus Niederdeutschland und spricht<lb/>
noch heute plattdeutsch. Bei Strafe der Vernichtung war es dieser Kolonial¬<lb/>
bevölkerung an der Ostsee und längs der Slawengrenze (auch Brandenburg war<lb/>
damals ein Grenzland, eine &#x201E;Mark", was das Meißnerland längst aufgehört<lb/>
hatte zu sein) verboten, sich nach deutscher Gewohnheit in zahllose kleine ohn¬<lb/>
mächtige Gruppen aufzulösen; so autonom auch hier die Städte waren, sie<lb/>
blieben immer Landstädte, wurden mit der einen Ausnahme Lübecks niemals<lb/>
Reichsstädte, und die Städtebündnisse, vor allem die Hansa, haben trotz aller<lb/>
Eigenwilligkeit dieser stolzen Gemeinden an Dauer und Wirksamkeit die kurz¬<lb/>
lebigen süddeutschen Städtebündnisse weit übertroffen; auch die Bischöfe des<lb/>
Nordostens haben niemals die Neichsstandschaft gewonnen, sie sind immer Glieder<lb/>
ihrer Landschaft, unter der Hoheit ihrer Landesherren geblieben. Diese selbst<lb/>
hatten, sofern sie Markgrafen waren, von Anfang an eine sehr weitgehende<lb/>
Amtsgewalt &#x2014; der Deutsche Orden war sogar souverän &#x2014;, und sie haben zwar<lb/>
die tief im deutschen Wesen und in der damaligen naturalwirtschaftlichen Kultur¬<lb/>
stufe liegenden, ganz privatrechtlichen Teilungen ihrer Lande, die das alte<lb/>
Thüringen so jämmerlich und unheilbar zerstückelt haben, nicht ganz vermieden,<lb/>
sind aber schon im Anfange der Neuzeit zum Vorrecht der Erstgeburt durch¬<lb/>
gedrungen. So standen hier im Nordosten wenige große Territorien nebeneinander,<lb/>
nur noch nicht in einer Hand geeinigt, wie die ähnlichen ältern Bildungen<lb/>
im Südosten es waren, während der Westen sich fast völlig in kleine und<lb/>
kleinste Gebiete auflöste. Mit dem Siege des Protestantismus im Nordosten<lb/>
war auch sein politisches Übergewicht entschieden: Kursachsen wurde, wie das<lb/>
Musterland der lutherischen Bildung und das blühendste, volkswirtschaftlich am<lb/>
weitesten fortgeschrittene Territorium des Nordens, so auch der führende Staat</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0194] West- und Ostdeutsch sie ihn durchaus, sie haben ihn erst später in der kläglichen Enge der Ver¬ hältnisse verloren. Auch die leichte Anbequemung an fremde Art ist nicht ur¬ sprünglich deutsch, sondern erst das Ergebnis historischer Vorgänge. Wenn die Germanen in Süd- und Westeuropa nach wenigen Generationen Sprache und Nationalität aufgaben, so geschah das nur deshalb, weil sie ohne Verbindung mit der Heimat waren und in geringer Zahl zerstreut unter einer höher gebildeten heimischen Bevölkerung saßen; den deutschen Rittern, Bürgern und Bauern, die den Nordosten kolonisierten und den germanischen Norden ihrer Hcmdels- hcrrschaft unterwarfen, ist es gar nicht eingefallen, in den Wenden, Polen, Russen, Letten, Ehlen und Skandinaviern, die sie als tief unter sich stehend be¬ trachteten, aufzugehn; im Gegenteil, die slawischen Fttrstengeschlechter in Mecklen¬ burg, Pommern und Schlesien germanisierten sich vielmehr selbst vollständig, und soweit er sich hier und da erhielt, auch ihr Adel. Nirgends war dieses Selbstgefühl stärker entwickelt als in dem Ordenslande Preußen, dem Sieges¬ preis blutiger und hartnäckiger Kämpfe und einem Kolonialgebiet des gesamten Deutschtums, denn die leitenden Ordensritter waren meist Oberdeutsche, und die Geschäftssprache des Ordensstaates war deshalb oberdeutsch, die zugewanderte Bevölkerung stammt dagegen fast durchweg aus Niederdeutschland und spricht noch heute plattdeutsch. Bei Strafe der Vernichtung war es dieser Kolonial¬ bevölkerung an der Ostsee und längs der Slawengrenze (auch Brandenburg war damals ein Grenzland, eine „Mark", was das Meißnerland längst aufgehört hatte zu sein) verboten, sich nach deutscher Gewohnheit in zahllose kleine ohn¬ mächtige Gruppen aufzulösen; so autonom auch hier die Städte waren, sie blieben immer Landstädte, wurden mit der einen Ausnahme Lübecks niemals Reichsstädte, und die Städtebündnisse, vor allem die Hansa, haben trotz aller Eigenwilligkeit dieser stolzen Gemeinden an Dauer und Wirksamkeit die kurz¬ lebigen süddeutschen Städtebündnisse weit übertroffen; auch die Bischöfe des Nordostens haben niemals die Neichsstandschaft gewonnen, sie sind immer Glieder ihrer Landschaft, unter der Hoheit ihrer Landesherren geblieben. Diese selbst hatten, sofern sie Markgrafen waren, von Anfang an eine sehr weitgehende Amtsgewalt — der Deutsche Orden war sogar souverän —, und sie haben zwar die tief im deutschen Wesen und in der damaligen naturalwirtschaftlichen Kultur¬ stufe liegenden, ganz privatrechtlichen Teilungen ihrer Lande, die das alte Thüringen so jämmerlich und unheilbar zerstückelt haben, nicht ganz vermieden, sind aber schon im Anfange der Neuzeit zum Vorrecht der Erstgeburt durch¬ gedrungen. So standen hier im Nordosten wenige große Territorien nebeneinander, nur noch nicht in einer Hand geeinigt, wie die ähnlichen ältern Bildungen im Südosten es waren, während der Westen sich fast völlig in kleine und kleinste Gebiete auflöste. Mit dem Siege des Protestantismus im Nordosten war auch sein politisches Übergewicht entschieden: Kursachsen wurde, wie das Musterland der lutherischen Bildung und das blühendste, volkswirtschaftlich am weitesten fortgeschrittene Territorium des Nordens, so auch der führende Staat

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/194
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/194>, abgerufen am 22.07.2024.