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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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England und Indien

unter den Eingebornen über ihre Ausschließung von den höhern Stellen der
Landesregierung, ihre Überzeugung, daß wir nur darauf hinausgingen, Kasten¬
wesen, Nationalität und Religion zu vernichten, alles dies hatte die Gemüter
der Eingebornen empfänglich gemacht, den tollsten Geschichten Glauben zu schenken
und, von einem Paroxysmus des Schreckens ergriffen, zur Gewalttat zu schreiten--
Sogar am Vorabend des Revolutionsausbruchs von Meerut hegten unsre er¬
fahrensten Offiziere und Beamten die Überzeugung, daß alle Gefahr vorüber sei;
sie hatten den Ernst der Situation nicht erkannt und die düstere Voraussagung
eines Mannes wie Sir Charles Metcalf außer acht gelassen, der viele Jahre
vorher geäußert hatte: "Eines schönen Morgens könnten wir erwachen und finden,
daß Indien der englischen Krone verloren ist.""

"Wir wollen keine alarmierende Beurteilung der gegenwärtigen Lage der
Dinge hervorrufen, aber wir wollen unsrer Überzeugung Ausdruck verleihen, daß
unser Land nicht in ein falsches Gefühl der Sicherheit eingelullt werden darf.
Haben wir keine Annektierung von Oudh, die das Gefühl der Sicherheit bei den
Eingebornen erschüttern könnte, so haben wir jetzt doch die Trennung von
Bengalen, gehn jetzt keine die Gemüter aufregenden Märchen von gefetteten
Patronen umher, so haben wir dafür das Märchen von den vergifteten Brunnen
und die allen sichtbare Tatsache, daß Tausende von Eingebornen allwöchentlich
der Epidemie zum Opfer fallen, während die Europäer tatsächlich immun erscheinen.
Fehlen diesmal jene Chupatties, so existieren dafür eine brandstifterisch wirkende
Presse und Flugblätter, die jeden aktiven Soldaten, Reservisten und Entlassener
des Nativeheeres in Indien erreichen. Fehlt diesmal das Marktgewäsch von
der Niederlage der britischen Waffen in der Krim, so haben wir dafür die
Lügengeschichten aus Südafrika und die Kunde, daß eine große europäische Macht
eine Niederlage durch eine asiatische Rasse erfahren hat. Die Unzufriedenheit
der Eingebornen mit den britischen Rajahs ist durch die Verbreitung allgemeiner
Volksbildung nicht vermindert worden, sondern gewachsen und verspricht von Jahr
zu Jahr größer zu werden-- Aus strategischen Gründen konzentrieren wir die
Truppen in großen Garnisonen, was gerade bei der damaligen Revolution eine
große Schwierigkeit darbot. Unsre Nativeofsiziere sind treffliche Männer, aber
sie vermögen heutigentags keine größere Kontrolle auszuüben, als sie es 1857
taten, und sind zudem hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung sowie ihres
ganzen Fühlens und Denkens zu eng mit den Mannschaften verbunden. So
finden wir denn, wohin wir unsre Blicke auch richten mögen, heute etwas, was
der Situation vor einem halben Jahrhundert ganz genau entspricht (parallel to),
und meinen deshalb, daß uns die Erfahrungen von damals jetzt den richtigen
Weg weisen sollte"-- Der ^uZairwr von Kalkutta, ein elendes, setzendes
Lumpenblatt, erzählt den Eingebornen, daß die Weißen in Indien an Zahl
verhältnismäßig schwach seien, und daß bei energischem Wollen die britische
Herrschaft in einem Tage ihr Ende finden würde. Waffengeklirr ertönt in jedem
Hause: es sei der vernehmbare Tritt der Kriegsgöttin, deren Annäherung sich


England und Indien

unter den Eingebornen über ihre Ausschließung von den höhern Stellen der
Landesregierung, ihre Überzeugung, daß wir nur darauf hinausgingen, Kasten¬
wesen, Nationalität und Religion zu vernichten, alles dies hatte die Gemüter
der Eingebornen empfänglich gemacht, den tollsten Geschichten Glauben zu schenken
und, von einem Paroxysmus des Schreckens ergriffen, zur Gewalttat zu schreiten—
Sogar am Vorabend des Revolutionsausbruchs von Meerut hegten unsre er¬
fahrensten Offiziere und Beamten die Überzeugung, daß alle Gefahr vorüber sei;
sie hatten den Ernst der Situation nicht erkannt und die düstere Voraussagung
eines Mannes wie Sir Charles Metcalf außer acht gelassen, der viele Jahre
vorher geäußert hatte: »Eines schönen Morgens könnten wir erwachen und finden,
daß Indien der englischen Krone verloren ist.«"

„Wir wollen keine alarmierende Beurteilung der gegenwärtigen Lage der
Dinge hervorrufen, aber wir wollen unsrer Überzeugung Ausdruck verleihen, daß
unser Land nicht in ein falsches Gefühl der Sicherheit eingelullt werden darf.
Haben wir keine Annektierung von Oudh, die das Gefühl der Sicherheit bei den
Eingebornen erschüttern könnte, so haben wir jetzt doch die Trennung von
Bengalen, gehn jetzt keine die Gemüter aufregenden Märchen von gefetteten
Patronen umher, so haben wir dafür das Märchen von den vergifteten Brunnen
und die allen sichtbare Tatsache, daß Tausende von Eingebornen allwöchentlich
der Epidemie zum Opfer fallen, während die Europäer tatsächlich immun erscheinen.
Fehlen diesmal jene Chupatties, so existieren dafür eine brandstifterisch wirkende
Presse und Flugblätter, die jeden aktiven Soldaten, Reservisten und Entlassener
des Nativeheeres in Indien erreichen. Fehlt diesmal das Marktgewäsch von
der Niederlage der britischen Waffen in der Krim, so haben wir dafür die
Lügengeschichten aus Südafrika und die Kunde, daß eine große europäische Macht
eine Niederlage durch eine asiatische Rasse erfahren hat. Die Unzufriedenheit
der Eingebornen mit den britischen Rajahs ist durch die Verbreitung allgemeiner
Volksbildung nicht vermindert worden, sondern gewachsen und verspricht von Jahr
zu Jahr größer zu werden— Aus strategischen Gründen konzentrieren wir die
Truppen in großen Garnisonen, was gerade bei der damaligen Revolution eine
große Schwierigkeit darbot. Unsre Nativeofsiziere sind treffliche Männer, aber
sie vermögen heutigentags keine größere Kontrolle auszuüben, als sie es 1857
taten, und sind zudem hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung sowie ihres
ganzen Fühlens und Denkens zu eng mit den Mannschaften verbunden. So
finden wir denn, wohin wir unsre Blicke auch richten mögen, heute etwas, was
der Situation vor einem halben Jahrhundert ganz genau entspricht (parallel to),
und meinen deshalb, daß uns die Erfahrungen von damals jetzt den richtigen
Weg weisen sollte»— Der ^uZairwr von Kalkutta, ein elendes, setzendes
Lumpenblatt, erzählt den Eingebornen, daß die Weißen in Indien an Zahl
verhältnismäßig schwach seien, und daß bei energischem Wollen die britische
Herrschaft in einem Tage ihr Ende finden würde. Waffengeklirr ertönt in jedem
Hause: es sei der vernehmbare Tritt der Kriegsgöttin, deren Annäherung sich


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[0018] England und Indien unter den Eingebornen über ihre Ausschließung von den höhern Stellen der Landesregierung, ihre Überzeugung, daß wir nur darauf hinausgingen, Kasten¬ wesen, Nationalität und Religion zu vernichten, alles dies hatte die Gemüter der Eingebornen empfänglich gemacht, den tollsten Geschichten Glauben zu schenken und, von einem Paroxysmus des Schreckens ergriffen, zur Gewalttat zu schreiten— Sogar am Vorabend des Revolutionsausbruchs von Meerut hegten unsre er¬ fahrensten Offiziere und Beamten die Überzeugung, daß alle Gefahr vorüber sei; sie hatten den Ernst der Situation nicht erkannt und die düstere Voraussagung eines Mannes wie Sir Charles Metcalf außer acht gelassen, der viele Jahre vorher geäußert hatte: »Eines schönen Morgens könnten wir erwachen und finden, daß Indien der englischen Krone verloren ist.«" „Wir wollen keine alarmierende Beurteilung der gegenwärtigen Lage der Dinge hervorrufen, aber wir wollen unsrer Überzeugung Ausdruck verleihen, daß unser Land nicht in ein falsches Gefühl der Sicherheit eingelullt werden darf. Haben wir keine Annektierung von Oudh, die das Gefühl der Sicherheit bei den Eingebornen erschüttern könnte, so haben wir jetzt doch die Trennung von Bengalen, gehn jetzt keine die Gemüter aufregenden Märchen von gefetteten Patronen umher, so haben wir dafür das Märchen von den vergifteten Brunnen und die allen sichtbare Tatsache, daß Tausende von Eingebornen allwöchentlich der Epidemie zum Opfer fallen, während die Europäer tatsächlich immun erscheinen. Fehlen diesmal jene Chupatties, so existieren dafür eine brandstifterisch wirkende Presse und Flugblätter, die jeden aktiven Soldaten, Reservisten und Entlassener des Nativeheeres in Indien erreichen. Fehlt diesmal das Marktgewäsch von der Niederlage der britischen Waffen in der Krim, so haben wir dafür die Lügengeschichten aus Südafrika und die Kunde, daß eine große europäische Macht eine Niederlage durch eine asiatische Rasse erfahren hat. Die Unzufriedenheit der Eingebornen mit den britischen Rajahs ist durch die Verbreitung allgemeiner Volksbildung nicht vermindert worden, sondern gewachsen und verspricht von Jahr zu Jahr größer zu werden— Aus strategischen Gründen konzentrieren wir die Truppen in großen Garnisonen, was gerade bei der damaligen Revolution eine große Schwierigkeit darbot. Unsre Nativeofsiziere sind treffliche Männer, aber sie vermögen heutigentags keine größere Kontrolle auszuüben, als sie es 1857 taten, und sind zudem hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung sowie ihres ganzen Fühlens und Denkens zu eng mit den Mannschaften verbunden. So finden wir denn, wohin wir unsre Blicke auch richten mögen, heute etwas, was der Situation vor einem halben Jahrhundert ganz genau entspricht (parallel to), und meinen deshalb, daß uns die Erfahrungen von damals jetzt den richtigen Weg weisen sollte»— Der ^uZairwr von Kalkutta, ein elendes, setzendes Lumpenblatt, erzählt den Eingebornen, daß die Weißen in Indien an Zahl verhältnismäßig schwach seien, und daß bei energischem Wollen die britische Herrschaft in einem Tage ihr Ende finden würde. Waffengeklirr ertönt in jedem Hause: es sei der vernehmbare Tritt der Kriegsgöttin, deren Annäherung sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/18>, abgerufen am 23.07.2024.