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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

erst, wenn man nach ihm fragt, z. B. um ein vermietbares "Logis" zu zeigen.
Wohltuend berührt es auch, daß man hier nicht mehr den nach echt ostelbischem
Herrentum riechenden "Eingang nur für Herrschaften" findet; hier geht alles
hübsch demokratisch durch dasselbe Tor, und nur an wenigen, ganz neuen
Häusern hat man besondre "Wirtschaftseingänge" angelegt. Auch im Innern
der besten Häuser beobachtet man eine solide bürgerliche Einfachheit, und nur
in ganz wenigen Häusern findet man die Treppen mit Läufern belegt. Von
dem falschen Prunk in vielen Vierteln Berlins hat man sich hier noch glücklich
frei gehalten.

Ebenfalls schon süddeutsch ist die Gewohnheit, Extrablätter nicht, wie in
Berlin, in den Straßen auszubrüllen, sondern in den Schaufenstern von Zigarren-,
Obst- und Materialwarenhandlungen öffentlich und doch ohne Ruhestörung auf¬
zuhängen; jedenfalls auch wieder demokratischer: denn nun kann es auch der
lesen, der es sich nicht kaufen kann.

Auch der Leipziger Dialekt, wenn auch stark mit niederdeutschen Elementen
versetzt, zeigt doch im Grunde oberdeutsche Struktur. Man sagt zwar Kopp,
Appel usw., aber: das, was, -chen usw. Die Diphthonge al (el) und an werden
freilich oft wie im Niederdeutschen zu e und ö, sodaß im Lautcharakter eine starke
Mischung aus niederdeutsch und Oberdeutsch zu bemerken ist. Scheint auch der
Wortschatz stark niederdeutsch zu sein, so begegnen uns doch einige Formen und
Wörter unverkennbar oberdeutschen Ursprungs, z. B. ich gehe nauf oder nunter
(statt rauf oder runter), mir statt wir, scene (heim) statt nach Hause, hinne
und haußen statt hier drinnen und hier draußen, Friedhof statt Kirchhof,
Quark statt weißer Kühe, Kräutergewölbe statt Drogenhandlung, Kraut statt
Kohl, Asch statt Napf usw. Solche Vergleichungen zwischen an sich unbe¬
deutenden äußerlichen Einzelheiten sind nicht zu unterschätzen; sie geben uns
den Maßstab auch für die Beurteilung des innerlichen sozialen Habitus eines
Gemeinwesens und seiner allgemeinen Kulturstellung. Wie nun jene Punkte
auf eine Verquickung süd- und norddeutscher Einflüsse deuten, so glaubt man
auch in der sozialen Psyche des Leipzigers gewisse gegensätzliche Eigenschaften
vereinigt zu finden, die einander die Wage halten; man findet sie in seinem
individuellen und sozialen Charakter sowie in seinem sozialen und in seinem
Kulturleben.

Biederkeit und kluge Berechnung sind im Charakter des Leipzigers seltsam
miteinander gepaart; er geht in der Biederkeit nicht so weit wie der Münchner,
der sein Herz stets auf der Zunge trägt, aber auch die Schlauheit nimmt nicht
jenen scharf-ironischen Ton an, wie sie dem Berliner eigen ist. Wenn der
Leipziger einen "veralbert", so hat es nicht das Verletzende, wie wenn etwa
der Berliner einen "uzt"; sein Spott hat etwas Harmloses, nichts Bos¬
haftes oder Beißendes. Auch kann er nicht eigentlich grob werden; dazu ist
er zu abgeschliffen, zu wenig körnig und urwüchsig. Er liebt nicht das Derbe
und Polternde, etwas Bäurische, wie es dem Berliner und Münchner eigen ist.


Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

erst, wenn man nach ihm fragt, z. B. um ein vermietbares „Logis" zu zeigen.
Wohltuend berührt es auch, daß man hier nicht mehr den nach echt ostelbischem
Herrentum riechenden „Eingang nur für Herrschaften" findet; hier geht alles
hübsch demokratisch durch dasselbe Tor, und nur an wenigen, ganz neuen
Häusern hat man besondre „Wirtschaftseingänge" angelegt. Auch im Innern
der besten Häuser beobachtet man eine solide bürgerliche Einfachheit, und nur
in ganz wenigen Häusern findet man die Treppen mit Läufern belegt. Von
dem falschen Prunk in vielen Vierteln Berlins hat man sich hier noch glücklich
frei gehalten.

Ebenfalls schon süddeutsch ist die Gewohnheit, Extrablätter nicht, wie in
Berlin, in den Straßen auszubrüllen, sondern in den Schaufenstern von Zigarren-,
Obst- und Materialwarenhandlungen öffentlich und doch ohne Ruhestörung auf¬
zuhängen; jedenfalls auch wieder demokratischer: denn nun kann es auch der
lesen, der es sich nicht kaufen kann.

Auch der Leipziger Dialekt, wenn auch stark mit niederdeutschen Elementen
versetzt, zeigt doch im Grunde oberdeutsche Struktur. Man sagt zwar Kopp,
Appel usw., aber: das, was, -chen usw. Die Diphthonge al (el) und an werden
freilich oft wie im Niederdeutschen zu e und ö, sodaß im Lautcharakter eine starke
Mischung aus niederdeutsch und Oberdeutsch zu bemerken ist. Scheint auch der
Wortschatz stark niederdeutsch zu sein, so begegnen uns doch einige Formen und
Wörter unverkennbar oberdeutschen Ursprungs, z. B. ich gehe nauf oder nunter
(statt rauf oder runter), mir statt wir, scene (heim) statt nach Hause, hinne
und haußen statt hier drinnen und hier draußen, Friedhof statt Kirchhof,
Quark statt weißer Kühe, Kräutergewölbe statt Drogenhandlung, Kraut statt
Kohl, Asch statt Napf usw. Solche Vergleichungen zwischen an sich unbe¬
deutenden äußerlichen Einzelheiten sind nicht zu unterschätzen; sie geben uns
den Maßstab auch für die Beurteilung des innerlichen sozialen Habitus eines
Gemeinwesens und seiner allgemeinen Kulturstellung. Wie nun jene Punkte
auf eine Verquickung süd- und norddeutscher Einflüsse deuten, so glaubt man
auch in der sozialen Psyche des Leipzigers gewisse gegensätzliche Eigenschaften
vereinigt zu finden, die einander die Wage halten; man findet sie in seinem
individuellen und sozialen Charakter sowie in seinem sozialen und in seinem
Kulturleben.

Biederkeit und kluge Berechnung sind im Charakter des Leipzigers seltsam
miteinander gepaart; er geht in der Biederkeit nicht so weit wie der Münchner,
der sein Herz stets auf der Zunge trägt, aber auch die Schlauheit nimmt nicht
jenen scharf-ironischen Ton an, wie sie dem Berliner eigen ist. Wenn der
Leipziger einen „veralbert", so hat es nicht das Verletzende, wie wenn etwa
der Berliner einen „uzt"; sein Spott hat etwas Harmloses, nichts Bos¬
haftes oder Beißendes. Auch kann er nicht eigentlich grob werden; dazu ist
er zu abgeschliffen, zu wenig körnig und urwüchsig. Er liebt nicht das Derbe
und Polternde, etwas Bäurische, wie es dem Berliner und Münchner eigen ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/135>, abgerufen am 26.06.2024.