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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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England und Indien

im Notfalle durch Heranziehung der nur einen zweifelhaften militärischen Wert
darstellenden "Freiwilligen" (Briten und Mischlinge) von rund 30000 Mann
auf alles in allem höchstens rund 300000 Mann erhöhen könnte. Diese
300000 Mann stellen also in Wirklichkeit und bei Annahme treulicher Ge¬
stellung aller Feudaltruppen, Reservisten und Volunteers alles dar, was Gro߬
britannien einem russischen Angriff unter gleichzeitiger Sicherung der Verbindungen
nach rückwärts, Abgaben an Besetzungen für die Festungen, Küstenplätze und
großen Städte sowie für die Zwecke des Nachschubes und des Ersatzes aufzu¬
stellen in der Lage wäre. Freilich rechnet man auf englischer Seite in einem
solchen Falle mit einer sofortigen großen Hilfssendung aus dem Mutterlande.
Aber hierfür steht doch auch nur ein Truppenkörper von etwas über 100000 Mann
(das sogenannte Aldershot-Armeekorps) zur Verfügung, wenn man von den
augenblicklich im Gange befindlichen Reformplänen des jetzigen Kriegsministers
Haldane absieht, die doch zunächst nur auf dem Papier stehn und bezwecken,
die bisherige striKmZ toros durch eine rund 150000 Mann starke, jederzeit zur
Absendung fertige Kxxsäitionar^ ?oros von sechs Divisionen und vier Kavallerie¬
brigaden zu ersetzen. Es bleibt immerhin eine offne Frage, wieviel von diesen
heimatlichen Hilfskräften Großbritannien gegebnenfalls unter Berücksichtigung
der gesamten europäischen Lage glauben wird, sofort nach Indien abschieben zu
können. Daß es hierzu in möglichst weitgehendem Maße imstande sei, dafür
soll natürlich zunächst die intime Verbindung mit "Marianne" sorgen, die zwar
im Grunde ihres Herzens "John Bull" nicht ausstehn kann -- wie jeder
empfindet, der eine Zeit lang jenseits der Vogesen geweilt hat --, aber unter
dem unausgesetzten Starren nach dem berühmten Vogesenloch die Fähigkeit ver¬
loren zu haben scheint (oder dürfen wir optimistisch sagen: bis vor kurzem zu
haben schien?), die Welt um sich vom richtigen Standpunkt aus und in der
wirklichen Beleuchtung zu betrachten. Inwieweit aber auch durch dieses Bündnis,
dessen Vorteile sehr auf feiten des schlauen Albions zu liegen scheinen, eine
Sicherheit des Transports für die Verstärkungstruppen und den dann weiter
nötigen beständigen Nachschub an Personal und Material auf dem gewaltigen
Seewege von Portsmouth bis Bombay gewährleistet ist, steht doch noch sehr
dahin und hängt begreiflicherweise wesentlich von der politischen Kombination
in Europa und der jedesmaligen kriegerischen Situation ab.

Nicht ohne Grund hat Großbritannien seine politische wie strategische Lage
in Asien gegen eine russische Angriffsgefahr weiter durch Stärkung seiner freund¬
schaftlichen Beziehungen mit dem Emir von Afghanistan zu verbessern gesucht.
Der von ihm und Rußland gleichmäßig umworbne Herrscher dieses großen
Pufferstaats, der schlaue Habibullah Khan, dessen Vater Rahmen Khan 1896
den Titel eines Siraj-Ul-Millat-Wad-Din (d. i. "Leuchte der Einigkeit und
der Religion") für sich und seine Nachkommen angenommen hatte, weiß sich
hoch im Preise zu halten, indem er seine etwaige Stellungnahme bei einem
britisch-russischen Konflikt fortgesetzt höchst dunkel läßt. Augenblicklich scheint


England und Indien

im Notfalle durch Heranziehung der nur einen zweifelhaften militärischen Wert
darstellenden „Freiwilligen" (Briten und Mischlinge) von rund 30000 Mann
auf alles in allem höchstens rund 300000 Mann erhöhen könnte. Diese
300000 Mann stellen also in Wirklichkeit und bei Annahme treulicher Ge¬
stellung aller Feudaltruppen, Reservisten und Volunteers alles dar, was Gro߬
britannien einem russischen Angriff unter gleichzeitiger Sicherung der Verbindungen
nach rückwärts, Abgaben an Besetzungen für die Festungen, Küstenplätze und
großen Städte sowie für die Zwecke des Nachschubes und des Ersatzes aufzu¬
stellen in der Lage wäre. Freilich rechnet man auf englischer Seite in einem
solchen Falle mit einer sofortigen großen Hilfssendung aus dem Mutterlande.
Aber hierfür steht doch auch nur ein Truppenkörper von etwas über 100000 Mann
(das sogenannte Aldershot-Armeekorps) zur Verfügung, wenn man von den
augenblicklich im Gange befindlichen Reformplänen des jetzigen Kriegsministers
Haldane absieht, die doch zunächst nur auf dem Papier stehn und bezwecken,
die bisherige striKmZ toros durch eine rund 150000 Mann starke, jederzeit zur
Absendung fertige Kxxsäitionar^ ?oros von sechs Divisionen und vier Kavallerie¬
brigaden zu ersetzen. Es bleibt immerhin eine offne Frage, wieviel von diesen
heimatlichen Hilfskräften Großbritannien gegebnenfalls unter Berücksichtigung
der gesamten europäischen Lage glauben wird, sofort nach Indien abschieben zu
können. Daß es hierzu in möglichst weitgehendem Maße imstande sei, dafür
soll natürlich zunächst die intime Verbindung mit „Marianne" sorgen, die zwar
im Grunde ihres Herzens „John Bull" nicht ausstehn kann — wie jeder
empfindet, der eine Zeit lang jenseits der Vogesen geweilt hat —, aber unter
dem unausgesetzten Starren nach dem berühmten Vogesenloch die Fähigkeit ver¬
loren zu haben scheint (oder dürfen wir optimistisch sagen: bis vor kurzem zu
haben schien?), die Welt um sich vom richtigen Standpunkt aus und in der
wirklichen Beleuchtung zu betrachten. Inwieweit aber auch durch dieses Bündnis,
dessen Vorteile sehr auf feiten des schlauen Albions zu liegen scheinen, eine
Sicherheit des Transports für die Verstärkungstruppen und den dann weiter
nötigen beständigen Nachschub an Personal und Material auf dem gewaltigen
Seewege von Portsmouth bis Bombay gewährleistet ist, steht doch noch sehr
dahin und hängt begreiflicherweise wesentlich von der politischen Kombination
in Europa und der jedesmaligen kriegerischen Situation ab.

Nicht ohne Grund hat Großbritannien seine politische wie strategische Lage
in Asien gegen eine russische Angriffsgefahr weiter durch Stärkung seiner freund¬
schaftlichen Beziehungen mit dem Emir von Afghanistan zu verbessern gesucht.
Der von ihm und Rußland gleichmäßig umworbne Herrscher dieses großen
Pufferstaats, der schlaue Habibullah Khan, dessen Vater Rahmen Khan 1896
den Titel eines Siraj-Ul-Millat-Wad-Din (d. i. „Leuchte der Einigkeit und
der Religion") für sich und seine Nachkommen angenommen hatte, weiß sich
hoch im Preise zu halten, indem er seine etwaige Stellungnahme bei einem
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[0011] England und Indien im Notfalle durch Heranziehung der nur einen zweifelhaften militärischen Wert darstellenden „Freiwilligen" (Briten und Mischlinge) von rund 30000 Mann auf alles in allem höchstens rund 300000 Mann erhöhen könnte. Diese 300000 Mann stellen also in Wirklichkeit und bei Annahme treulicher Ge¬ stellung aller Feudaltruppen, Reservisten und Volunteers alles dar, was Gro߬ britannien einem russischen Angriff unter gleichzeitiger Sicherung der Verbindungen nach rückwärts, Abgaben an Besetzungen für die Festungen, Küstenplätze und großen Städte sowie für die Zwecke des Nachschubes und des Ersatzes aufzu¬ stellen in der Lage wäre. Freilich rechnet man auf englischer Seite in einem solchen Falle mit einer sofortigen großen Hilfssendung aus dem Mutterlande. Aber hierfür steht doch auch nur ein Truppenkörper von etwas über 100000 Mann (das sogenannte Aldershot-Armeekorps) zur Verfügung, wenn man von den augenblicklich im Gange befindlichen Reformplänen des jetzigen Kriegsministers Haldane absieht, die doch zunächst nur auf dem Papier stehn und bezwecken, die bisherige striKmZ toros durch eine rund 150000 Mann starke, jederzeit zur Absendung fertige Kxxsäitionar^ ?oros von sechs Divisionen und vier Kavallerie¬ brigaden zu ersetzen. Es bleibt immerhin eine offne Frage, wieviel von diesen heimatlichen Hilfskräften Großbritannien gegebnenfalls unter Berücksichtigung der gesamten europäischen Lage glauben wird, sofort nach Indien abschieben zu können. Daß es hierzu in möglichst weitgehendem Maße imstande sei, dafür soll natürlich zunächst die intime Verbindung mit „Marianne" sorgen, die zwar im Grunde ihres Herzens „John Bull" nicht ausstehn kann — wie jeder empfindet, der eine Zeit lang jenseits der Vogesen geweilt hat —, aber unter dem unausgesetzten Starren nach dem berühmten Vogesenloch die Fähigkeit ver¬ loren zu haben scheint (oder dürfen wir optimistisch sagen: bis vor kurzem zu haben schien?), die Welt um sich vom richtigen Standpunkt aus und in der wirklichen Beleuchtung zu betrachten. Inwieweit aber auch durch dieses Bündnis, dessen Vorteile sehr auf feiten des schlauen Albions zu liegen scheinen, eine Sicherheit des Transports für die Verstärkungstruppen und den dann weiter nötigen beständigen Nachschub an Personal und Material auf dem gewaltigen Seewege von Portsmouth bis Bombay gewährleistet ist, steht doch noch sehr dahin und hängt begreiflicherweise wesentlich von der politischen Kombination in Europa und der jedesmaligen kriegerischen Situation ab. Nicht ohne Grund hat Großbritannien seine politische wie strategische Lage in Asien gegen eine russische Angriffsgefahr weiter durch Stärkung seiner freund¬ schaftlichen Beziehungen mit dem Emir von Afghanistan zu verbessern gesucht. Der von ihm und Rußland gleichmäßig umworbne Herrscher dieses großen Pufferstaats, der schlaue Habibullah Khan, dessen Vater Rahmen Khan 1896 den Titel eines Siraj-Ul-Millat-Wad-Din (d. i. „Leuchte der Einigkeit und der Religion") für sich und seine Nachkommen angenommen hatte, weiß sich hoch im Preise zu halten, indem er seine etwaige Stellungnahme bei einem britisch-russischen Konflikt fortgesetzt höchst dunkel läßt. Augenblicklich scheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/11>, abgerufen am 28.09.2024.