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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

ein Überwinden von Widerständen. Das Denken und das Fühlen des Natur¬
menschen ist ganz erfüllt von der Idee des Kampfes. Der ganze Inhalt seines
Lebens ist, wie er instinktiv fühlt, ein Kampf, sei es gegen die natürlichen
Widerstände, sei es gegen die Welt der unsichtbaren bösen Mächte, die seine
eigne Einbildungskraft geschaffen hat. Und überall, wohin er in der Natur
sieht, gewahrt er, daß alles Leben und Bestehn ein Ringen um die Existenz
ist, in der Tierwelt, in der Vegetation und in den täglichen Phänomenen der
Natur. Es ist kein Wunder, daß dieses tägliche Erleben, wenn auch unbewußt, sein
Denken beeinflußt und sich in seinen Erzählungen widerspiegelt. Hier haben wir
die Erklärung für die Tatsache, daß die zentrale Idee im Abenteuermärchen ebenso
wie in der stoffverwandten Heldensage das Überwinden von Widerständen ist.

Die kurzen Proben der Erzählungsstoffe, wie sie hier angeführt worden
sind, zeigen alle eine ursprüngliche Verbindung eines natürlichen Vorgangs mit
übernatürlichen Bestandteilen. Ihnen mag nun noch eine ausgeführtere märchen¬
hafte Erzählung der Papuas auf Neu-Guinea folgen. Ich wähle mit Absicht
eine ganz unscheinbare Geschichte, worin der Märchencharakter erst im Werden
begriffen ist. Zum Verständnis sei vorausgeschickt, daß nach dem Glauben der
Papuas die Augen der Sitz der Seele sind. "Ein selbstsüchtiger Mann Pflegte
sich überall, wo eine Schmauserei stattfand, einzustellen. Er bekam auch jedes¬
mal sein Teil mit. Aber damit begab er sich nicht zu seiner Familie, sondern
setzte sich in den Wald und verzehrte alles allein, daheim vorgebend, er Hütte
nichts erhalten. Frau und Kinder erfuhren jedoch bald den wirklichen Tat¬
bestand. Wenn er nun mit seinem Essen allein war, hatte er die Gewohnheit,
beide Augen herauszunehmen und sie von sich zu werfen (offenbar eine Tabu¬
handlung; mit den Augen tat er also die Seele von sich), und rief sie nach
Beendigung des Mahles wieder zu sich. Als er nun einmal wieder das eine
Auge gegen die Mündung des Baches, an dem er ruhte, das andre flu߬
aufwärts geworfen hatte, nahmen seine beiden Söhne diese auf und eilten
damit in das Dorf zurück, wo sie sie in eine Schale mit Wasser legten. Der
selbstsüchtige rief nun wie gewöhnlich seine Augen, aber diesesmal ohne Erfolg,
und nun tappte er, überall anstoßend, nach seinem Hause und wälzte sich davor
auf dem Boden, wehklagend um seinen unersetzlichen Verlust. Erst nachdem er
seine Selbstsucht zugestanden und Besserung gelobt hatte, gab ihm die Familie
am Abend die Augen zurück."

Wir haben hier also im Kern einen einfachen Vorgang, wie er sich jeden
Tag in dem Gesellschaftsleben der Papuas ereignen konnte, erweitert jedoch
durch einen Zug, der uns wunderbar, märchenhaft dünkt, der aber aus dem
Seelenglauben dieses Volkes beruht, und der sich anderswo zu einem frucht¬
baren vielverwandten Motiv, dem von den ausgestochnen Augen, die durch
wunderbare Geschenke wiedergewonnen werden, entwickelte.

Fassen wir nun noch einmal das Ergebnis der vorstehenden Betrachtungen
in Kürze zusammen, so können wir über die Entstehung des Märchens etwa


Zum Ursprung des Märchens

ein Überwinden von Widerständen. Das Denken und das Fühlen des Natur¬
menschen ist ganz erfüllt von der Idee des Kampfes. Der ganze Inhalt seines
Lebens ist, wie er instinktiv fühlt, ein Kampf, sei es gegen die natürlichen
Widerstände, sei es gegen die Welt der unsichtbaren bösen Mächte, die seine
eigne Einbildungskraft geschaffen hat. Und überall, wohin er in der Natur
sieht, gewahrt er, daß alles Leben und Bestehn ein Ringen um die Existenz
ist, in der Tierwelt, in der Vegetation und in den täglichen Phänomenen der
Natur. Es ist kein Wunder, daß dieses tägliche Erleben, wenn auch unbewußt, sein
Denken beeinflußt und sich in seinen Erzählungen widerspiegelt. Hier haben wir
die Erklärung für die Tatsache, daß die zentrale Idee im Abenteuermärchen ebenso
wie in der stoffverwandten Heldensage das Überwinden von Widerständen ist.

Die kurzen Proben der Erzählungsstoffe, wie sie hier angeführt worden
sind, zeigen alle eine ursprüngliche Verbindung eines natürlichen Vorgangs mit
übernatürlichen Bestandteilen. Ihnen mag nun noch eine ausgeführtere märchen¬
hafte Erzählung der Papuas auf Neu-Guinea folgen. Ich wähle mit Absicht
eine ganz unscheinbare Geschichte, worin der Märchencharakter erst im Werden
begriffen ist. Zum Verständnis sei vorausgeschickt, daß nach dem Glauben der
Papuas die Augen der Sitz der Seele sind. „Ein selbstsüchtiger Mann Pflegte
sich überall, wo eine Schmauserei stattfand, einzustellen. Er bekam auch jedes¬
mal sein Teil mit. Aber damit begab er sich nicht zu seiner Familie, sondern
setzte sich in den Wald und verzehrte alles allein, daheim vorgebend, er Hütte
nichts erhalten. Frau und Kinder erfuhren jedoch bald den wirklichen Tat¬
bestand. Wenn er nun mit seinem Essen allein war, hatte er die Gewohnheit,
beide Augen herauszunehmen und sie von sich zu werfen (offenbar eine Tabu¬
handlung; mit den Augen tat er also die Seele von sich), und rief sie nach
Beendigung des Mahles wieder zu sich. Als er nun einmal wieder das eine
Auge gegen die Mündung des Baches, an dem er ruhte, das andre flu߬
aufwärts geworfen hatte, nahmen seine beiden Söhne diese auf und eilten
damit in das Dorf zurück, wo sie sie in eine Schale mit Wasser legten. Der
selbstsüchtige rief nun wie gewöhnlich seine Augen, aber diesesmal ohne Erfolg,
und nun tappte er, überall anstoßend, nach seinem Hause und wälzte sich davor
auf dem Boden, wehklagend um seinen unersetzlichen Verlust. Erst nachdem er
seine Selbstsucht zugestanden und Besserung gelobt hatte, gab ihm die Familie
am Abend die Augen zurück."

Wir haben hier also im Kern einen einfachen Vorgang, wie er sich jeden
Tag in dem Gesellschaftsleben der Papuas ereignen konnte, erweitert jedoch
durch einen Zug, der uns wunderbar, märchenhaft dünkt, der aber aus dem
Seelenglauben dieses Volkes beruht, und der sich anderswo zu einem frucht¬
baren vielverwandten Motiv, dem von den ausgestochnen Augen, die durch
wunderbare Geschenke wiedergewonnen werden, entwickelte.

Fassen wir nun noch einmal das Ergebnis der vorstehenden Betrachtungen
in Kürze zusammen, so können wir über die Entstehung des Märchens etwa


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[0090] Zum Ursprung des Märchens ein Überwinden von Widerständen. Das Denken und das Fühlen des Natur¬ menschen ist ganz erfüllt von der Idee des Kampfes. Der ganze Inhalt seines Lebens ist, wie er instinktiv fühlt, ein Kampf, sei es gegen die natürlichen Widerstände, sei es gegen die Welt der unsichtbaren bösen Mächte, die seine eigne Einbildungskraft geschaffen hat. Und überall, wohin er in der Natur sieht, gewahrt er, daß alles Leben und Bestehn ein Ringen um die Existenz ist, in der Tierwelt, in der Vegetation und in den täglichen Phänomenen der Natur. Es ist kein Wunder, daß dieses tägliche Erleben, wenn auch unbewußt, sein Denken beeinflußt und sich in seinen Erzählungen widerspiegelt. Hier haben wir die Erklärung für die Tatsache, daß die zentrale Idee im Abenteuermärchen ebenso wie in der stoffverwandten Heldensage das Überwinden von Widerständen ist. Die kurzen Proben der Erzählungsstoffe, wie sie hier angeführt worden sind, zeigen alle eine ursprüngliche Verbindung eines natürlichen Vorgangs mit übernatürlichen Bestandteilen. Ihnen mag nun noch eine ausgeführtere märchen¬ hafte Erzählung der Papuas auf Neu-Guinea folgen. Ich wähle mit Absicht eine ganz unscheinbare Geschichte, worin der Märchencharakter erst im Werden begriffen ist. Zum Verständnis sei vorausgeschickt, daß nach dem Glauben der Papuas die Augen der Sitz der Seele sind. „Ein selbstsüchtiger Mann Pflegte sich überall, wo eine Schmauserei stattfand, einzustellen. Er bekam auch jedes¬ mal sein Teil mit. Aber damit begab er sich nicht zu seiner Familie, sondern setzte sich in den Wald und verzehrte alles allein, daheim vorgebend, er Hütte nichts erhalten. Frau und Kinder erfuhren jedoch bald den wirklichen Tat¬ bestand. Wenn er nun mit seinem Essen allein war, hatte er die Gewohnheit, beide Augen herauszunehmen und sie von sich zu werfen (offenbar eine Tabu¬ handlung; mit den Augen tat er also die Seele von sich), und rief sie nach Beendigung des Mahles wieder zu sich. Als er nun einmal wieder das eine Auge gegen die Mündung des Baches, an dem er ruhte, das andre flu߬ aufwärts geworfen hatte, nahmen seine beiden Söhne diese auf und eilten damit in das Dorf zurück, wo sie sie in eine Schale mit Wasser legten. Der selbstsüchtige rief nun wie gewöhnlich seine Augen, aber diesesmal ohne Erfolg, und nun tappte er, überall anstoßend, nach seinem Hause und wälzte sich davor auf dem Boden, wehklagend um seinen unersetzlichen Verlust. Erst nachdem er seine Selbstsucht zugestanden und Besserung gelobt hatte, gab ihm die Familie am Abend die Augen zurück." Wir haben hier also im Kern einen einfachen Vorgang, wie er sich jeden Tag in dem Gesellschaftsleben der Papuas ereignen konnte, erweitert jedoch durch einen Zug, der uns wunderbar, märchenhaft dünkt, der aber aus dem Seelenglauben dieses Volkes beruht, und der sich anderswo zu einem frucht¬ baren vielverwandten Motiv, dem von den ausgestochnen Augen, die durch wunderbare Geschenke wiedergewonnen werden, entwickelte. Fassen wir nun noch einmal das Ergebnis der vorstehenden Betrachtungen in Kürze zusammen, so können wir über die Entstehung des Märchens etwa

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/90>, abgerufen am 28.07.2024.