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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

Um einen klarern Einblick in diesen Prozeß zu gewinnen, müssen wir
einmal versuchen, uns im Geiste zu einer abendlichen Unterhaltung einer wilden
Dorfgemeinschaft zu versetzen und an der Hand der Berichte von Forschungs¬
reisenden und einiger konkreter Beispiele von primitiven Märchen ermitteln, was
dort etwa erzählt werden mag. Des Abends versammeln sich die Männer im
Gemeinschaftshause oder am Dorffeuer, und die professionellen Erzähler oder
besonders begabte Stammesmitglieder erzählen abwechselnd. Wir sehen hier
ab von den Stammessagen und den ätiologischen Sagen und beschränken uns
nur auf märchenhafte Erzählungen. Der eine erzählt von einem Manne, der
auf die Jagd ging und im Walde ein Rencontre mit einem Baumdämonen
hatte. Ein andrer erzählt, wie eine Frau, die zum Wasserschöpfen an einen
Teich gegangen sei, eine schreckhafte Begegnung mit dem Dämon des Teiches
gehabt habe. Ein dritter erzählt, wie eine Frau auf wunderbare, unnatürliche
Weise schwanger geworden sei und ein mit besondern Kräften begabtes Kind
zur Welt gebracht habe. Ein vierter unterhält die Gesellschaft mit der Geschichte
eines Jünglings, der von einem großen Tiere verschluckt worden sei, sich aber
mit dem Messer einen Weg aus dem Leibe des Ungeheuers gebahnt habe.
Dieser verwendet dabei die gewiß allen Hörern bekannte mythische Fabel vom
Sonnenheros, der von dem Ungeheuer Nacht verschluckt, am Morgen aber aus
der dunkeln Haft entlassen wird. Ein vierter berichtet von einem Häuptlings¬
sohne, der auf eine gefährliche Werbung bei einem fern wohnenden Häuptling
ausgezogen sei, wie er nach harter Arbeit die Braut errungen habe, die ihm
aber alsbald auf geheimnisvolle Weise entschwunden oder geraubt worden sei,
und wie er sie schließlich nach vielen Mühen und mit Aufbietung seiner ganzen
Zauberkunst oder mit Hilfe eines Zauberers wiedererrungen habe. Zauberer
werden gern erzählen, wie sie in der Ekstase in das Seelenland gewandert seien,
und was für Schrecknisse und Gefahren sie auf dem Wege zu bestehn gehabt
haben. Vielleicht wird später diese Geschichte auf einen besonders mutigen
und zauberkundigen Häuptlingssohn übertragen oder -- bei seeanwohnenden
Stämmen -- auf einen Mann, der beim Fischen in seinem Boote von widrigen
Winden auf eine ferne Insel verschlagen worden war und erst nach monate¬
langer Abwesenheit zurückkehrte. Beliebt ist das Thema von Verwandlungen
und EntWandlungen. Häufig wird es auch wohl in der Urzeit vorgekommen
sein, wie es noch jetzt bei den Wilden der Fall ist, daß ein Erzähler, der be¬
sonders lebhaft zu träumen pflegte, seine Träume zum besten gab. Die Er¬
fahrungen des Traumes haben bekanntlich für den primitiven Menschen dieselbe
Realität wie die Erfahrungen des wachen Zustandes. Einer hat vielleicht von
einem nächtlichen Kampf mit einem Unholde geträumt, der ihn mit dem Tode
bedrohte, wenn er ein aufgegebnes Rätsel nicht zu lösen vermochte. Solche
Träume weiter und weiter erzählt, mußten bald zu Märchen oder märchen¬
haften Erzählungen anwachsen. Im Mittelpunkt aller dieser Erzählungen
steht -- das ist sehr beachtenswert -- immer ein Kampf in irgendeiner Form,


Zum Ursprung des Märchens

Um einen klarern Einblick in diesen Prozeß zu gewinnen, müssen wir
einmal versuchen, uns im Geiste zu einer abendlichen Unterhaltung einer wilden
Dorfgemeinschaft zu versetzen und an der Hand der Berichte von Forschungs¬
reisenden und einiger konkreter Beispiele von primitiven Märchen ermitteln, was
dort etwa erzählt werden mag. Des Abends versammeln sich die Männer im
Gemeinschaftshause oder am Dorffeuer, und die professionellen Erzähler oder
besonders begabte Stammesmitglieder erzählen abwechselnd. Wir sehen hier
ab von den Stammessagen und den ätiologischen Sagen und beschränken uns
nur auf märchenhafte Erzählungen. Der eine erzählt von einem Manne, der
auf die Jagd ging und im Walde ein Rencontre mit einem Baumdämonen
hatte. Ein andrer erzählt, wie eine Frau, die zum Wasserschöpfen an einen
Teich gegangen sei, eine schreckhafte Begegnung mit dem Dämon des Teiches
gehabt habe. Ein dritter erzählt, wie eine Frau auf wunderbare, unnatürliche
Weise schwanger geworden sei und ein mit besondern Kräften begabtes Kind
zur Welt gebracht habe. Ein vierter unterhält die Gesellschaft mit der Geschichte
eines Jünglings, der von einem großen Tiere verschluckt worden sei, sich aber
mit dem Messer einen Weg aus dem Leibe des Ungeheuers gebahnt habe.
Dieser verwendet dabei die gewiß allen Hörern bekannte mythische Fabel vom
Sonnenheros, der von dem Ungeheuer Nacht verschluckt, am Morgen aber aus
der dunkeln Haft entlassen wird. Ein vierter berichtet von einem Häuptlings¬
sohne, der auf eine gefährliche Werbung bei einem fern wohnenden Häuptling
ausgezogen sei, wie er nach harter Arbeit die Braut errungen habe, die ihm
aber alsbald auf geheimnisvolle Weise entschwunden oder geraubt worden sei,
und wie er sie schließlich nach vielen Mühen und mit Aufbietung seiner ganzen
Zauberkunst oder mit Hilfe eines Zauberers wiedererrungen habe. Zauberer
werden gern erzählen, wie sie in der Ekstase in das Seelenland gewandert seien,
und was für Schrecknisse und Gefahren sie auf dem Wege zu bestehn gehabt
haben. Vielleicht wird später diese Geschichte auf einen besonders mutigen
und zauberkundigen Häuptlingssohn übertragen oder — bei seeanwohnenden
Stämmen — auf einen Mann, der beim Fischen in seinem Boote von widrigen
Winden auf eine ferne Insel verschlagen worden war und erst nach monate¬
langer Abwesenheit zurückkehrte. Beliebt ist das Thema von Verwandlungen
und EntWandlungen. Häufig wird es auch wohl in der Urzeit vorgekommen
sein, wie es noch jetzt bei den Wilden der Fall ist, daß ein Erzähler, der be¬
sonders lebhaft zu träumen pflegte, seine Träume zum besten gab. Die Er¬
fahrungen des Traumes haben bekanntlich für den primitiven Menschen dieselbe
Realität wie die Erfahrungen des wachen Zustandes. Einer hat vielleicht von
einem nächtlichen Kampf mit einem Unholde geträumt, der ihn mit dem Tode
bedrohte, wenn er ein aufgegebnes Rätsel nicht zu lösen vermochte. Solche
Träume weiter und weiter erzählt, mußten bald zu Märchen oder märchen¬
haften Erzählungen anwachsen. Im Mittelpunkt aller dieser Erzählungen
steht — das ist sehr beachtenswert — immer ein Kampf in irgendeiner Form,


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[0089] Zum Ursprung des Märchens Um einen klarern Einblick in diesen Prozeß zu gewinnen, müssen wir einmal versuchen, uns im Geiste zu einer abendlichen Unterhaltung einer wilden Dorfgemeinschaft zu versetzen und an der Hand der Berichte von Forschungs¬ reisenden und einiger konkreter Beispiele von primitiven Märchen ermitteln, was dort etwa erzählt werden mag. Des Abends versammeln sich die Männer im Gemeinschaftshause oder am Dorffeuer, und die professionellen Erzähler oder besonders begabte Stammesmitglieder erzählen abwechselnd. Wir sehen hier ab von den Stammessagen und den ätiologischen Sagen und beschränken uns nur auf märchenhafte Erzählungen. Der eine erzählt von einem Manne, der auf die Jagd ging und im Walde ein Rencontre mit einem Baumdämonen hatte. Ein andrer erzählt, wie eine Frau, die zum Wasserschöpfen an einen Teich gegangen sei, eine schreckhafte Begegnung mit dem Dämon des Teiches gehabt habe. Ein dritter erzählt, wie eine Frau auf wunderbare, unnatürliche Weise schwanger geworden sei und ein mit besondern Kräften begabtes Kind zur Welt gebracht habe. Ein vierter unterhält die Gesellschaft mit der Geschichte eines Jünglings, der von einem großen Tiere verschluckt worden sei, sich aber mit dem Messer einen Weg aus dem Leibe des Ungeheuers gebahnt habe. Dieser verwendet dabei die gewiß allen Hörern bekannte mythische Fabel vom Sonnenheros, der von dem Ungeheuer Nacht verschluckt, am Morgen aber aus der dunkeln Haft entlassen wird. Ein vierter berichtet von einem Häuptlings¬ sohne, der auf eine gefährliche Werbung bei einem fern wohnenden Häuptling ausgezogen sei, wie er nach harter Arbeit die Braut errungen habe, die ihm aber alsbald auf geheimnisvolle Weise entschwunden oder geraubt worden sei, und wie er sie schließlich nach vielen Mühen und mit Aufbietung seiner ganzen Zauberkunst oder mit Hilfe eines Zauberers wiedererrungen habe. Zauberer werden gern erzählen, wie sie in der Ekstase in das Seelenland gewandert seien, und was für Schrecknisse und Gefahren sie auf dem Wege zu bestehn gehabt haben. Vielleicht wird später diese Geschichte auf einen besonders mutigen und zauberkundigen Häuptlingssohn übertragen oder — bei seeanwohnenden Stämmen — auf einen Mann, der beim Fischen in seinem Boote von widrigen Winden auf eine ferne Insel verschlagen worden war und erst nach monate¬ langer Abwesenheit zurückkehrte. Beliebt ist das Thema von Verwandlungen und EntWandlungen. Häufig wird es auch wohl in der Urzeit vorgekommen sein, wie es noch jetzt bei den Wilden der Fall ist, daß ein Erzähler, der be¬ sonders lebhaft zu träumen pflegte, seine Träume zum besten gab. Die Er¬ fahrungen des Traumes haben bekanntlich für den primitiven Menschen dieselbe Realität wie die Erfahrungen des wachen Zustandes. Einer hat vielleicht von einem nächtlichen Kampf mit einem Unholde geträumt, der ihn mit dem Tode bedrohte, wenn er ein aufgegebnes Rätsel nicht zu lösen vermochte. Solche Träume weiter und weiter erzählt, mußten bald zu Märchen oder märchen¬ haften Erzählungen anwachsen. Im Mittelpunkt aller dieser Erzählungen steht — das ist sehr beachtenswert — immer ein Kampf in irgendeiner Form,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/89>, abgerufen am 28.07.2024.